12

»George?«

»Ja?« Ich blickte nicht auf. Gouverneur Tates Worte zu einem schlüssigen Interview zusammenzusetzen war einfach, insbesondere, da ich mir keine Mühe gab, unparteiisch zu sein. Der Mann mochte mich nicht, und es gab keinen Grund, so zu tun, als beruhte das nicht auf Gegenseitigkeit. Alles in ein lesbares Format zu bringen dauerte keine fünfzehn Minuten, und die Zahl der Zugriffe ließ sich bereits gut an. Die folgenden Beiträge zu dem Mann allerdings waren zeitraubend. Nicht allein, will ich so viel Foto- und Videomaterial durchsuchen musste. Es war beinahe gruselig, wie viele Gerüchte über den Mann im Umlauf waren. Auf dem Parteitag stand man kurz davor, die Abstimmung einzuberufen innerhalb der nächsten Stunde würden wir einen offiziell von der Partei nominierten Kandidaten haben und ich war nicht mal ansatzweise so weit, vom Computer aufzustehen.

»Also wirklich, ist das dein Ernst, George?«

»Was ist?«

»Da ist ein Mann.«

Diesmal blickte ich auf und blinzelte ins Licht, das durch die geöffnete Bürotür drang, ehe ich nach meiner Sonnenbrille griff. Der Raum um mich herum verblasste zu wohltuender Farblosigkeit. Jeder, der Wert auf bunte Farben legt, hat es noch nie mit einer KA-induzierten Migräne zu tun gehabt. »Versuchst du das noch mal? Du hättest es nämlich fast geschafft, mir etwas mitzuteilen. Vielleicht willst du deine Wortwahl ja noch ein wenig undurchsichtiger gestalten. Du weißt schon, nur damit wir was zu lachen haben.«

»Er meint, dass du ihn herbestellt hast.« Shaun beugte sich mit einem spöttischen Grinsen vor, und seine Stimme troff vor anzüglicher Affektiertheit. »Juckt es dich ein bisschen in der Vorwahlnacht? Ich meine, er sieht nicht total schaurig aus, obwohl ich eigentlich dachte, dass maisgepäppelte Bauernburschen nicht dein Stil sind «

»Warte mal. Sandfarbenes Haar, etwa so groß wie du, blaue Augen, älter als wir, sieht aus, als könnte ihn kein Wässerchen trüben?«

»Und auch sonst nichts, was man ihm einflößen könnte«, bestätigte Shaun und kniff die Augen zusammen. »Meinst du damit, dass du ihm wirklich gesagt hast, dass er herkommen soll?«

»Er ist ein Abtrünniger aus Wagmans Pressekorps. Sie zieht sich zurück, und er bringt uns alles, was er hat, vorausgesetzt, es verschafft ihm für die Dauer von Rymans Wahlkampf einen Platz bei uns.«

Shaun hob die Brauen. »Rechtefreies Material?«

»Sonst würde er wohl nicht versuchen, uns damit zu bestechen!« Ich drückte auf Speichern und stand auf, wobei ich zu der Kammer schaute, die unsere Fiktive zu ihrem Privatbüro erkoren hatte. Die Tür öffnete sich einen Spaltbreit, und sie steckte den Kopf heraus. »Schick mir alle persönlichen Daten über Wagmans Pressekorps, die du findest, und gesell dich zu uns. Wir müssen ein Vorstellungsgespräch machen.«

»In Ordnung«, sagte sie und zog sich in ihre Kammer zurück. Einen Moment später signalisierte mein Computer mit einem Piepen, dass er die gewünschten Daten erhalten hatte. Eins muss man uns lassen, wir arbeiten schnell.

»Gut.« Ich schaute zu Shaun. »Finden wir heraus, ob der Kerl nur unsere Zeit verschwendet. Geh ihn holen.«

»Dein Wunsch ist mir Befehl«, sagte Shaun, drehte sich um und schloss die Tür hinter sich.

Buffy kam aus ihrer Kammer und schickte sich an, neben mir Platz zu nehmen. Sie hatte ihr Haar zu einem lockeren Pferdeschwanz gebunden und trug ein blaues Hemd, von dem ich mir ziemlich sicher war, dass es Chuck gehörte. Sie wirkte etwa so professionell wie eine durchschnittliche Fünfzehnjährige, was ideal war: Wenn dieser Kerl nicht in unserer normalen Arbeitsatmosphäre mit uns klarkam, dann sollte er besser erst gar nicht bei uns anfangen.

»Denkst du wirklich darüber nach, den Kerl einzustellen?«, fragte sie.

»Hängt davon ab, was er für uns hat und wie sein Resümee aussieht.«

Sie nickte. »Klingt fair.«

Wir konnten unser Gespräch nicht fortsetzen, da die Tür sich öffnete. Shaun betrat das Zimmer, gefolgt von dem Mann aus dem Pressezimmer. Er hatte eine versiegelte Mappe unterm Arm, die er mir zuwarf, sobald er durch die Tür war. Ich fing sie auf und hob erwartungsvoll eine Braue. Buffy straffte sich ein wenig und richtete ihre volle Aufmerksamkeit auf den Neuankömmling.

»Das ist alles«, sagte er. »Videos, Ausdrucke, Dateien. Sechs Monate bei Wagmans Konvoi, und dazu alle Einzelheiten zu den Deals, die sie bei ihrem Rückzug ausgehandelt hat. Euer Goldjunge wird heute Abend bestätigt, und zwar zum Teil aufgrund des Einflusses, den sie zu seinen Gunsten geltend gemacht hat.«

»Ich bezweifle, dass sie das Zünglein an der Waage war«, sagte ich und reichte Buffy die Mappe. »Schau die Sachen nach etwas Brauchbarem durch.«

»Wird gemacht.« Sie erhob sich, hielt inne und warf dem Neuankömmling ein einstudiertes, schalkhaftes Grinsen zu. »He, Rick. Du siehst total am Boden und verzweifelt aus.«

Der Neuankömmling Rick antwortete mit einem deutlich aufrichtigeren Lächeln, das sogar ein wenig erfreut wirkte. »Ah, Buffy«, sagte er. »Du hingegen siehst aus, als hättest du mal wieder die Klamotten deines Freundes an. Ich hoffe, diesmal ist er wenigstens katholisch?«

»Das geht nur mich und Gott etwas an«, sagte sie und warf ihm einen Kuss zu.

Ich schaute zu ihm und rückte meine Sonnenbrille nach unten, damit er meine Augen sehen konnte. »Daraus schließe ich, dass ihr beiden euch kennt?«

»Nein, ich nenne einfach jede komische Blondine, die mir begegnet, Buffy. Ihr glaubt nicht, wie oft ich damit richtigliege.« Er hielt ihr seine Hand hin. Buffy schnaubte sichtlich belustigt und zog sich in ihre Kammer zurück.

Darüber konnte ich sie später noch ausfragen. »Tja, du hast unsere Fiktive richtig zugeordnet, und offenbar weißt du auch, wer ich bin. Könnt ihr mich vielleicht auch auf den Stand der Dinge bringen?« Ich schüttelte ihm die Hand.

Sein Händedruck war fest, aber nicht übertrieben fest. »Richard Cousins für meine Freunde Rick. Newsie, derzeit bin ich unabhängig, obwohl ich das zu ändern hoffe. Mein Profil ist bei Talking Points und Die ungeschminkte Wahrheit registriert.«

»Hui«, sagte ich und ließ seine Hand los. Talking Points und Die ungeschminkte Wahrheit gehören zu den größeren Blogger-Datenbanken. Jeder kann dort eine Profilseite anlegen und sie zertifizieren lassen. Trotzdem ist das Verhältnis von Information und Rauschen bei beiden erstaunlich gut, vor allem, weil sie sich auf regelmäßiger Basis selbst kontrollieren und auf Leute prüfen, die einen bestimmten Standpunkt für sich in Anspruch nehmen, faktisch aber einen anderen vertreten. »Was für eine Lizenz hast du?«

»A-15. Die wollte Wagman sehen, als sie angefangen hat, es eurem Goldjungen nachzumachen.« Er holte ein Datenpad aus seinem Mantel. »Meine Bewerbungsunterlagen sind hier drauf und können abgerufen werden, ebenso wie meine aktuelle Krankenakte und meine Bluttestergebnisse.«

»Fabelhaft.« Ich steckte das Datenpad in die Buchse an meinem Arbeitsplatz. Sofort erschienen Dateien auf meinem Monitor. Ich überflog sie, während ich das Pad wieder rauszog und es Rick zurückgab. »Bis vor zwei Jahren keine Veröffentlichungen, und trotzdem arbeitest du bereits mit einer A-15-Lizenz? Ich bin mir nicht sicher, ob ich das beeindruckend oder selbstmörderisch finden soll «

»Ich bin für ›hat das Lizenzvergabekomitee bestochen‹«, warf Shaun ein.

»Genau genommen «, begann Rick.

»Öffne die Datei über seine Printveröffentlichungen«, sagte Buffy, die aus ihrer Kammer zurückkehrte. »Dann wird dir alles klar. Nicht wahr, Ricky?«

»Printmedien?« Shauns Brauen hoben sich. »Du meinst Magazine?«

»Eher Zeitungen«, erwiderte Buffy, ohne die Augen von Rick abzuwenden. Eins musste ich ihm lassen: Er ertrug ihre Sticheleien mit Würde, anstatt sich vor Unbehagen zu winden. Zumindest noch. »Er ist nämlich einer von der alten Schule.«

»Zeitungen«, wiederholte ich ungläubig und öffnete die nächste Seite seiner Akte. Seine restlichen Bewerbungsunterlagen erschienen auf dem Monitor. Ich schob meine Brille wieder hoch, um meine Überraschung zu verbergen. »Da haben wir’s Buffy hat recht. Fünf Jahre Hausautor beim St. Paul Herald. Drei Jahre Feldberichterstatter für die Minnesota News. Wie alt bist du?«

»Ich habe mein Zertifikat für die virtuellen Medien vor achtzehn Monaten erhalten. Ich bin auf anständigem Weg in Wagmans Team gelangt«, sagte Rick und fügte dann hinzu: »Und ich bin vierunddreißig.«

»Anständig heißt, dass du aufgesprungen bist, als ihr klar wurde, dass Ryman die richtige Idee gehabt hat, und dich an ihren Notarztwagen drangehängt hast?«, fragte Buffy zuckersüß.

»In Ordnung, das reicht.« Ich setzte meine Brille ab und schaute zwischen Rick und Buffy hin und her. »Was läuft zwischen euch beiden?«

»Richard ›Rick‹ Cousins, Newsie, nach eigenem Bekunden linker Demokrat, allerdings nicht im ernsthaft unzurechnungsfähigen Bereich, ordentlicher Autor, gut im Einhalten von Deadlines, kann nicht besonders mit Bildern umgehen, und der Mistkerl hat mich vor sechs Jahren bei einem Essay-Wettbewerb geschlagen«, sagte Buffy.

»Das kannst du mir nicht zum Vorwurf machen«, protestierte Rick. »Das war kein Jugendwettbewerb, und du warst erst sechzehn.«

»Ich kann dir alles zum Vorwurf machen, was ich will«, sagte Buffy und starrte ihn einen Moment lang finster an, bevor ein breites Grinsen auf ihr Gesicht trat. »Du hast nicht gesagt, dass du Ricks Daten willst, Georgia. Bist du jetzt endlich mal auf der Suche nach einer echten Story, du perverser Notarzttrittbrettfahrer?«

»Bild dir nichts ein, Buffy. Eine Story, mit der du etwas zu tun hast, kann unmöglich echt sein«, gab Rick zurück.

Shaun und ich wechselten einen Blick. »Glaubst du, dass die beiden sich kennen?«, fragte er.

»Langsam krieg ich das Gefühl. Buffy?«

Sie warf mir einen kurzen Blick zu, als wollte sie die Sache eigentlich nicht erklären. Dann zuckte sie mit den Schultern. »Nachdem Rick mich geschlagen hat, haben wir angefangen, uns zu schreiben. Er ist ein ziemlich cooler Typ, wenn man erst mal darüber hinweg ist, dass er so ewig alt ist.«

»Das verstehe ich mal lieber so, wie es gemeint war«, sagte Rick. »Insbesondere, da es von jemandem kommt, der Edgar Allen Poe für gesellschaftlich relevant hält.«

Buffy rümpfte die Nase.

»Alles klar, ihr kennt euch«, sagte ich. »Und wie gut ist die Bestechung, die er mitgebracht hat? Wollen wir ihn einstellen?«

»Er hat gutes Videomaterial über Wagman aus den letzten sechs Monaten, ein paar Exklusivinterviews und eine vollständige Aufzeichnung der Telefongespräche ihres Stabchefs anlässlich ihres Rückzugs«, sagte Buffy.

Ich warf Rick einen verblüfften Blick zu.

Er grinste. »Er hat nicht gesagt, dass ich es nicht aufnehmen soll.«

»Wenn ich mich für Jungs interessieren würde, könnte ich dich jetzt küssen«, sagte Shaun trocken. »George, was bedeutet das auf Newsie-Englisch für unsere Quoten?«

»Für den Anfang einen Zuwachs von drei Prozent, mehr, wenn er gut genug schreibt, um seine Leserschaft bei der Stange zu halten. Rick, wir können dich als Beta einstellen, du kriegst dein eigenes Kürzel, aber alles geht vor Veröffentlichung an mich oder meinen Stellvertreter Mahir Gowda. Du hast keinen direkten Zugang zum Kandidaten. Wenn Ryman nicht nominiert wird, dann kriegst du einen Halbjahres-Basisvertrag. Ich kann dir das Vertragschinesisch zuschicken.«

»Und wenn er nominiert wird?«

»Wie bitte?«

»Wenn er nominiert wird was passieren wird , was kriege ich dann?«

Ich lächelte. »Dann kannst du bis zum bitteren Ende an Bord bleiben oder bis ich dich mit einem Arschtritt vor die Tür setze, je nachdem, was zuerst passiert.«

»Akzeptabel.« Er streckte mir die Hand entgegen.

Ich schüttelte sie. »Willkommen bei Nach dem Jüngsten Tag

Shaun klopfte ihm auf die Schulter, bevor er meine Hand loslassen konnte. »Mehr Testosteron im Feld! Du bist mein Mann! Was hältst du davon, mit einem Stock etwas Totes anzustupsen?«

»Eine gute Möglichkeit, beim Angeln nach Quoten Selbstmord zu begehen«, sagte Rick.

Ich schnaubte. »In Ordnung. Du kannst bleiben.«

Es klopfte an der Tür, und bevor jemand von uns reagieren konnte, öffnete sie sich und Steve trat ein. Eine Sonnenbrille verbarg seine Augen. Ich erhob mich.

»Ist es so weit?«, fragte ich.

Steve nickte. »Ich soll mich für den Senator vergewissern, dass ihr bereit seid.«

»Alles klar. Danke, Steve.« Ich griff nach meiner Umhängetasche und zeigte mit gekrümmtem Daumen auf unseren Neuzugang. »Rick, du kommst mit mir. Wir sind im Einsatz. Buffy, ich brauche dich hier an den Computern. Benachrichtige meine Leute draußen darüber, dass wir in zehn Minuten anfangen, Rohmaterial zu senden, und dass sie sich bereithalten sollen, alles fürs Forum aufzupolieren und zurechtzuzurren.«

»Wie weit dürfen sie gehen?«

»Nur Fakten, keine Meinungen, bevor ich mich nicht eingeloggt und den Grundtenor festgelegt habe.« Noch beim Reden überprüfte ich in rascher Folge meine Geräte. Der Rekorder war aufgeladen, und die Anzeige auf meiner Uhr bestätigte, dass die Leistung aller Kameras bei siebzig Prozent oder mehr lag. »Versuch Mahir aufzuwecken, und ja, ich weiß, wie spät es in London ist, aber ich brauche irgendwen Vernünftiges, der die Trolle plattmacht. Shaun «

»Vor dem Tagungszentrum mit Skateboard und meinem Stock, um zu sehen, ob die Demonstranten und Schaulustigen irgendwas Berichtenswertes tun«, sagte Shaun und salutierte lässig. »Ich kenne meine Stärken.«

»Dann nutze sie, und mach keinen Abgang.« Ich drehte mich zur Tür um. Steve trat beiseite und bedachte mich mit einem Seitenblick, als er sah, dass Rick mir folgte. »Schon in Ordnung, Steve. Er gehört zur Truppe.«

»Mein Salto rückwärts hat ihnen gefallen«, sagte Rick, der zu Steve aufschaute. Sein Blick hatte einen weiten Weg zurückzulegen. »Du bist ziemlich groß.«

»Du bist zweifellos ein Reporter«, sagte Steve. Er schloss die Tür hinter uns, und wir ließen Shaun und Buffy drinnen zurück.

Schon zuvor war es im Tagungszentrum geschäftig zugegangen. Doch verglichen mit der Irrenanstalt, die sich uns nun auf dem Weg zum Hauptversammlungssaal darbot, hatte es sich um ein Mausoleum gehandelt. Alles war voller Leute, von Mitarbeitern der verschiedenen Wahlkampfteams, die ich wiedererkannte, über private Sicherheitsdienste bis hin zu den Familienangehörigen der Politiker und Reportern, die es irgendwie raus aus dem Stall der Pressemeute bis in die freie Wildbahn geschafft hatten. Schon bald würden sie zu reißenden Bestien werden und zum Wohle ihrer Quoten Skandale erfinden.

Rick begegnete dem Treiben mit gelassener Professionalität und hielt sich dicht bei mir im Kielwasser des massigen Steve, der uns einen Weg bahnte. Rick schien keine Probleme damit zu haben, von einer zehn Jahre jüngeren Frau Anweisungen entgegenzunehmen, was traditionellen Reportern, die den Sprung in die Bloggerwelt versuchen, manchmal Schwierigkeiten bereitet. Nicht dass sie im vollen Bewusstsein bei ihren Vorurteilen verharren, doch manche Dinge sind sogar noch schwerer zu überwinden als die Abhängigkeit davon, den eigenen Text gedruckt zu sehen. Wenn Rick weiter so spurte, würde die Sache mit ihm gut laufen.

Steve führte uns durch eine Reihe Hinterzimmer in den tobenden Aufruhr des Hörsaals hinein, wo Politiker und Zuschauer jeden Alters und aller Volks- und Glaubenszugehörigkeiten sich zu der bedeutsamen Aufgabe versammelt hatten, aus voller Kehle loszuschreien, wann immer sie meinten, einen Blick auf die hoffnungsvollen Kandidaten zu erhaschen. Eine befriedigende Anzahl Leute trug Ryman-for-President-Anstecker. Eine Gruppe ansehnlicher Studentinnen machte in eng anliegenden T-Shirts auf sich aufmerksam, immer wieder beugten sich die Mädchen über ein Geländer und kreischten vor Entzücken.

Ich stieß Rick in die Rippen und zeigte auf die Gruppe. »Siehst du ihre T-Shirts?«

Er kniff die Augen zusammen. »Ryman ist mein Held? Wer denkt sich so was aus?«

»Genau genommen Shaun. Er hat ein verblüffend gutes Ohr für schlechte Reime.« Ich tippte mir an den Ohrstecker. »Buffy, wir sind drin. Wie ist der Empfang?«

»Laut und deutlich, o glorreiche Überbringerin chaotischer Bilder. Versuch, ein klares Bild zu kriegen, von den stationären Kameras kriege ich nur fünfzig Prozent rein.«

»Du meinst die stationären Kameras, die zum Tagungszentrum gehören und Sicherheitszwecken dienen? Die mit der nicht zu knackenden Verschlüsselung?«

»Eben die. Ich kann sie nur für Schwenks benutzen, und die Sender haben exklusive Codes für die Wandkameras, die ich nicht knacken kann, also besorg uns was Gutes!«

»Ja, Ma’am«, sagte ich.

»Buffy Ende.«

Die Verbindung wurde unterbrochen, und ich drehte mich zu Steve um. »Wo sind wir?«

»Mrs Ryman meinte, dass ihr euch mit ihr hinter die Bühne setzen könnt, wenn ihr wollt, oder hier draußen die Menge filmen«, sagte Steve. »In jedem Fall muss ich nach hinten. Wir gehen gleich auf Sendung.«

»Alles klar.« Ich schaute zu Rick und löste das Aufnahmearmband von meinem linken Handgelenk. »Nimm das hier. Drei Kameras, deren Bilder direkt an Buffy gesendet werden du musst sie einfach nur leicht heben, die Linsen sind auf Autofokus eingestellt.«

Er nahm das Armband und befestigte es mit dem Klettverschluss an seinem eigenen Handgelenk. »Du bist hinten?«

»Du hast’s erfasst. Wir treffen uns im Büro, wenn die Menge sich zerstreut hat, und dann sehen wir weiter.« Hinter der Bühne würde ich nicht so sensationelle Aufnahmen machen können, dafür aber intimere, und solche Bilder wirken länger nach als Massenaufnahmen. Wir würden die Leser mit dem Geschrei anfixen und mit den stillen Momenten halten. Außerdem war es eine gute Gelegenheit, Rick auf sein Verhalten im Feld zu testen. Den Begriff »Probezeit« gibt es im Nachrichtengeschäft eigentlich gar nicht. Entweder es würde mit ihm funktionieren oder nicht, und zwar ab sofort.

»Alles klar.« Er wandte sich der Bühne zu und hob den Arm, damit die Kamera einen möglichst guten Aufnahmewinkel hatte. Beruhigt, dass er keinen Mist mit dem Ding bauen würde, folgte ich Steve an der Wand entlang zum abgehängten Bereich hinter der Bühne.

Man glaubt nicht, was für einen Unterschied so ein bisschen Vorhang macht. So ein Stoffvorhang verfügt ja nicht gerade über genügend Sicherheitsvorrichtungen, um eine ausgewachsene Invasion abzuwehren. Die Männer am Durchgang musterten unsere Papiere, machten sich aber nicht die Mühe, uns mit einem Bluttest aufzuhalten so tief im Innern des Tagungszentrums, wie wir uns befanden, waren wir entweder sauber, oder es waren ohnehin alle Anwesenden so gut wie tot. So ließen wir das Chaos ungehindert hinter uns und liefen in den Hafen der Ruhe auf der anderen Seite ein.

Es war einmal, vor langer Zeit, bei einer weit, weit entfernten politischen Praxis, da kannte man die Ergebnisse der Kandidatenwahl, noch bevor sie der Öffentlichkeit mitgeteilt wurden. Aufgrund der notwendigen Verbesserungen der Sicherheitsmaßnahmen und aufgrund der steigenden Zahl von Delegierten, die per Fernabstimmung wählen, hat sich das im Laufe der letzten zwanzig Jahre geändert. Heutzutage weiß keiner mehr vor der offiziellen Bekanntgabe, wer letztlich die Nominierung mit nach Hause nehmen wird. Bezeichnen wir es als einen fehlgeleiteten Versuch, einem Vorgang neue Dramatik zu verleihen, der im Laufe der Jahre immer routinemäßiger geworden ist. Reality-TV im größtmöglichen Maßstab.

Emily und Peter Ryman saßen auf zwei Klappstühlen in Bühnennähe. Sie hielt mit beiden Händen seine Linke umfasst, während sie auf den Bildschirm starrten, der die aktuellen Ereignisse zeigte. Etwas weiter weg ging David Tate auf und ab. Als ich eintrat, warf er mir einen giftigen Blick zu.

»Ms Mason«, sagte er, »suchen Sie nach mehr schmutziger Wäsche, die Sie hier waschen können?«

»Genau genommen suche ich nach mehr Tatsachen, die ich weiterverbreiten kann, Gouverneur«, antwortete ich und setzte meinen Weg zu den Rymans fort. »Senator. Mrs Ryman. Ich hoffe, Sie sind bereit, die Ergebnisse zu hören?«

»Fragen Sie nicht, wem die Stunde geschlagen hat, Georgia«, sagte der Senator mit Grabesstimme. Dann lachte er, ließ die Hand seiner Frau los und stand auf, um die meine zu schütteln. »Unabhängig von den letztendlichen Ergebnissen möchte ich Ihnen und Ihren Leuten danken. Sie mögen den Ausgang des Rennens nicht entschieden haben, aber Sie haben es auf jeden Fall sehr viel spaßiger für alle Beteiligten gemacht.«

»Danke, Senator«, sagte ich. »Das freut mich zu hören.«

»Sobald Peter sich ein paar Wochen lang ausgeruht hat, müsst ihr drei uns auf der Farm besuchen«, sagte Emily. »Die Kinder würden euch wahnsinnig gerne kennenlernen. Besonders deine Beiträge mag Rebecca sehr. Das wäre wirklich eine tolle Sache für sie.«

Ich lächelte. »Es wäre uns eine Ehre. Aber wir sollten lieber noch nicht davon ausgehen, dass der Senator demnächst eine Pause einlegen kann.«

»Ganz und gar nicht«, sagte Ryman mit einem Blick zu Gouverneur Tate. Der Gouverneur erwiderte den Blick nicht gerade freundlich. »Ich denke, wir werden diese Sache bis zum Ende durchziehen.«

Eine Glocke erklang, wie um seine Worte zu unterstreichen, und Schweigen senkte sich über die Menge. Ich trat zurück und hob den Kopf, damit die Kameras an meinem Kragen einen besseren Aufnahmewinkel hatten.

»Wollen wir mal sehen, ob Sie das auch ernst meinen«, sagte ich.

Aus den Lautsprechern plärrte die Stimme eines drittklassigen Stars, der früher schlechte Sitcoms gemacht hatte und jetzt Tagungen moderierte. »Begrüßen Sie nun den republikanischen Mann der Stunde, und den künftigen Präsidenten dieser wundervollen Vereinigten Staaten Senator Peter Ryman aus Wisconsin! Senator Ryman, kommen Sie raus und sagen Sie den Leuten Hallo!«

Der Jubel war beinahe ohrenbetäubend. Emily gab ein kleines Kieksen von sich, das nur halb überrascht klang, schlang dem Senator die Arme um die Schultern und küsste ihn auf beide Wangen, während er sie in seiner Umarmung hochhob. »Also, Emily?«, sagte er. »Gehen wir da raus und machen diese Leute glücklich?« Strahlend nickte sie, und er zog sie mit auf die Bühne. Der Jubel wurde noch mal so laut. Einige aus der Menge würden morgen keinen Ton mehr rauskriegen. Aber in diesem Moment war ihnen das wohl ziemlich egal.

Mit ausdrucksloser Miene blieb Tate, wo er war. Bevor ich, nach wie vor filmend, Richtung Bühnenausgang ging, hielt ich lange genug inne, um das Bild eines Mannes einzufangen, dessen Träume soeben zerschellt waren. »Und los, Pete, zeig es ihnen«, murmelte ich dann und konnte dabei ein glückliches Grinsen nicht unterdrücken. Er war nominiert. Das war unser Mann dort draußen auf der Bühne, der soeben seine Nominierung entgegennahm.

Die Reise ging weiter.

Mit einem dreimaligen Piepen signalisierte mein Ohrstecker einen Notruf. Ich tippte dagegen und trat vom Durchgang zurück. »Shaun, was hast du «

Buffys Stimme schnitt mir das Wort ab. Sie klang so geschäftsmäßig, dass ich sie im ersten Moment fast nicht erkannt hätte. »Georgia, auf der Farm ist es zu einem Ausbruch gekommen.«

Ich erstarrte. »Welche Farm?«

»Die Farm der Rymans. Es ist überall in den Nachrichten, überall. Man vermutet, dass eins der Pferde sich spontan verwandelt hat. Niemand weiß, warum, und derzeit graben sie immer noch in der Asche und riegeln alles ab. Niemand weiß, wo die wo die o Gott, Georgia, die Mädchen waren dort, als der Alarm ausgelöst wurde, und niemand weiß «

Langsam, wie im Traum, wandte ich mich zum Bühnendurchgang um. Buffy redete weiter, aber ihre Worte waren nicht mehr von Bedeutung. Senator Ryman hatte die Nominierung offiziell angenommen und stand nun lächelnd da, mit seiner wunderschönen Frau am Arm, und winkte der Menge zu, die ihn gewählt hatte, damit er ihr Banner ins höchste Amt des Landes trug. Sie sahen aus wie die beiden glücklichsten Menschen der Welt. Menschen, die nicht wussten, was es hieß, eine echte Tragödie zu erleben. Gott mochte ihnen beistehen, denn sie waren kurz davor, es herauszufinden.

»… du da? Mahir versucht, die Foren im Griff zu behalten, aber er braucht Hilfe, und wir brauchen dich, damit du herausfindest, was von all dem Zeug in den Nachrichten wahr ist, wir «

»Sag Mahir, dass er Kontakt zu Casey von Media Breakdown aufnehmen und einen Newsticker mit den reinen Fakten über die Lage auf der Farm organisieren soll. Sag ihm, dass wir im Tausch eine vorgezogene Freigabe für mein nächstes Interview mit dem Kandidaten anbieten«, sagte ich ausdruckslos. »Weck Alaric und sorg dafür, dass er Mahir hilft, bis Rick vor Ort fertig ist, und setz ihn dann auch darauf an. Er wollte ja Teil des Teams sein das ist seine Willkommensparty.«

»Was hast du vor?«

Emily Ryman lachte mit zusammengeschlagenen Händen. Sie hatte nicht die geringste Ahnung.

Grimmig sagte ich: »Ich bleibe hier und überbringe die Nachricht.«