22
Es dauerte zwei Stunden und siebzehn Minuten, bis wir alle fest angestellten und freiberuflichen Blogger, Systemadministratoren und Teilbereichskoordinatoren, die für Nach dem Jüngsten Tag arbeiteten, in einem eilig eröffneten virtuellen Konferenzzimmer beisammenhatten. Unser Konferenzsystem hatte elf Zimmer, und das elfte war noch nie erfolgreich gehackt worden, aber all diese Zimmer hatte Buffy »gebaut«. Der Code kam von ihr, und ich hatte das Gefühl, dass wir uns nicht mehr auf ihn verlassen dürften. Wir hatten auch die freiwilligen Moderatoren eingeladen – es erschien mir nicht richtig, sie außen vor zu lassen –, aber wir hatten keine Möglichkeit, sie auf sicheren Kanälen zu kontaktieren. Und alles andere kam derzeit nicht infrage.
Durch die vereinte Arbeit von Becks, Alaric und Dave – der endlich aus Alaska zurück war, von wo er etliche Stunden Videomaterial und leichte Erfrierungen mitgebracht hatte – hatten wir beinahe einen brauchbaren Ersatz für Buffy. Alaric und Dave leisteten die Hauptarbeit bei der Einrichtung des Zimmers, was Becks die Zeit dafür gab, Buffys Datenmaterial zu sichten. Damit hatte sie eine ganze Menge zu tun.
Am Anfang war die Atmosphäre kameradschaftlich und locker, wenn auch mit einer unvermeidlichen melancholischen Note. Buffy war tot, wir lebten, und jeder, der sich einloggte, schien das Bedürfnis zu verspüren, diese beiden Umstände zu kommentieren und uns zu unserem Überleben zu beglückwünschen, während sie gleichzeitig um Buffy trauerten. Die Fiktiven nahmen es am schwersten. Das war keine Überraschung, obwohl es mich freute zu sehen, wie Magdalene sich in die Bresche warf und die besonders verstörten Teammitglieder tröstete. Nicht weniger als vier Zugänge der Fiktiven kamen von ihr zu Hause – Fiktive sind tendenziell die sozialsten und die paranoidesten Blogger, aber Maggie in ihrem weitläufigen alten Farmhaus mit einem Sicherheitssystem nach militärischem Standard hatte ein Talent dafür, die zweite dieser Eigenschaften zugunsten der ersten in den Hintergrund treten zu lassen. Sie hätte ihre eigene Seite als Alpha haben können, wenn sie gewollt hätte, aber es war ihr wichtiger gewesen, mit Buffy zusammenzuarbeiten. Diese Möglichkeit gab es nun nicht mehr. Ich sandte Rick eine Textnachricht, um ihn daran zu erinnern, dass er sie darum bitten sollte, Buffys Ressort zu übernehmen. So gut, wie sie mit dieser traurigen Situation umging, würde sie eindeutig ein Gewinn für uns sein.
Das Murren ging etwa nach einer Stunde los, als die Glückwünsche für unser Überleben langsam erstarben und einerseits deutlich wurde, dass einige Leute online an einem Geheimprojekt arbeiteten und dass wir nicht vorhatten, irgendwem zu sagen, worum es sich handelte, bevor nicht alle da waren. Keine Ausnahmen, keine Extrawürste. Diesmal nicht.
Die Letzte, die sich einloggte, war eine kanadische Fiktive namens Andrea. Sie brummte etwas von Hockeyspielen und Liebschaften bei kaltem Wetter, während ihre Verbindung sich stabilisierte. Ich hörte nicht so genau hin. Dafür waren wir nicht hier.
»Haben alle eine stabile und sichere Verbindung?«, fragte ich. Ich tippte eine vorher festgelegte Zeichenfolge ein, die die Dutzenden von kleinen Videofenstern gelb aufleuchten ließ. »Wenn die Antwort Ja lautet, gebt bitte den Sicherheitsschlüssel ein, der jetzt bei euch am unteren Bildschirmrand erscheint. Wenn die Antwort Nein lautet, drückt auf Enter. Wenn wir uns nicht sicher sein können, wird diese Konferenz sofort beendet.«
Das Murren ließ nach. Die Leute waren bei unserem Anruf erleichtert gewesen, uns zu sehen, verwirrt, als ich darauf bestanden hatte, dass sie in der Leitung blieben, und schließlich verärgert, weil wir ihnen nicht sagen wollten, was vorging. Wenn man dieser Liste drakonische Sicherheitsvorkehrungen hinzufügte, musste einem klar werden, dass etwas im Busch war. Ein Fenster nach dem anderen blitzte an den Rändern weiß auf und wechselte dann zu Grün, als unsere Mitarbeiter ihren sicheren Status bestätigten. Shauns Fenster wechselte als letztes den Status. Darauf hatten wir uns im Voraus geeinigt. Er sollte den Kreis schließen.
»Hervorragend.« Ich nahm meinen Organizer zur Hand, der seit Beginn der Konferenz auf mein E-Mail-Programm eingestellt war, und drückte auf Abschicken. »Bitte schaut in euren Posteingang. Dort findet ihr eure Entlassung sowie eine Quittung, die belegt, dass eure letzten Gehälter auf eure Bankkonten überwiesen worden sind. Aufgrund der kalifornischen Kündigungsklauseln und aufgrund des Umstands, dass ihr alle unter den Einschränkungen eines Gefahrenberufs arbeitet, müssen wir euch nicht vorwarnen. Tut mir leid.«
Die Konferenz brach in allgemeines Geschrei aus. Alle plapperten durcheinander, sodass die Stimmen sich zu einem unverständlichen Bombardement überlagerten. Fast alle. Mahir, Becks, Alaric und Dave schwiegen. Ihnen war durch das umständliche Prozedere der Online-Konferenz klar, dass etwas Schlimmes im Busch sein musste.
Shaun, Rick und ich saßen schweigend da und warteten, dass der Tumult sich legte. Es dauerte ein Weilchen. Die Irwins schrien am lautesten, die Newsies am wenigsten. Sie kannten mich gut genug, um zu wissen, dass ich nicht ohne guten Grund bei einer so großen Geste mitmachen würde – und das hier war eine große Geste. Sie hatten genug Vertrauen zu mir, um abzuwarten. Gutes Team. Ich hatte die richtigen Leute eingestellt.
Ich legte meinen Organizer beiseite, und als das Geschrei nachließ, sagte ich: »Keiner von euch arbeitet für uns. Keiner von euch ist durch irgendwelche vertraglichen Bande an uns gekettet. Wenn jemand von euch sich zu irgendeinem Zeitpunkt innerhalb der nächsten fünf Minuten abmeldet, sorge ich dafür, dass er ein Empfehlungsschreiben kriegt, in dem es heißt, dass seine journalistische Arbeit von unschätzbarem Wert ist. Ihr werdet es in eurem ganzen Leben nie wieder so leicht haben, einen neuen Job zu finden, weil ich meine Beziehungen spielen lassen werde, um euch einen zu verschaffen. Ich sorge dafür, dass ihr sanft landet, und dann vergesse ich euch. Jetzt heißt es alles oder nichts, Leute: Geht, wenn ihr wollt, aber wenn ihr euch jetzt verabschiedet, dann für immer.«
Eine ganze Weile herrschte Schweigen, das schließlich von Andrea gebrochen wurde. »Kannst du uns sagen, warum du das tust?«
»Buffy ist tot, und jetzt sind wir gefeuert«, warf Alaric ein. »Meinst du nicht, dass da vielleicht ein Zusammenhang besteht?«
»Ich wollte bloß …«
»Mensch, denk doch mal nach!«
»Ihr Lieben, könnt ihr mir einen Gefallen tun und still sein, damit eure ehemalige Chefin etwas sagen kann?« Magdalene seufzte. »Ihr macht mir Kopfschmerzen.«
»Danke, Maggie.« Ich musterte die Videofenster auf meinem Monitor nacheinander. »Andrea, die Antwort auf die Frage, warum wir das tun, ist ganz einfach: Wir möchten nicht, dass irgendjemand von euch sich dazu verpflichtet fühlt, bei dieser Seite zu bleiben. Ich bin mir sicher, dass ihr alle von dem Anruf beim Seuchenschutz gehört habt, in dem behauptet wurde, dass wir tot wären?« Gemurmelte Bestätigungen. »Er traf ein, bevor wir dort angerufen haben, um ihnen zu sagen, dass wir noch leben. Jemand hat uns in die Reifen geschossen, auf der Straße war niemand sonst zu sehen, und trotzdem hat jemand dem Seuchenschutz erzählt, dass wir ums Leben gekommen wären.«
»Habt ihr die Zeitstempel dazu?«, fragte Alaric plötzlich hellwach.
»Die haben wir«, bestätigte ich und nickte Shaun zu, der zu tippen anfing. Alaric schaute von seiner Kamera auf, signalisierte mir, dass die Daten angekommen waren, und wurde still. »Buffy ist nicht bei einem Unfall gestorben. Sie wurde ermordet, und ihre Killer haben gedacht, dass sie uns auch erwischt hätten. Es geht noch sehr viel mehr vor, aber das Wichtigste ist im Moment, dass Buffy ermordet worden ist. Ihre Mörder hätten nur zu gerne das Gleiche mit uns dreien gemacht, und daher muss ich davon ausgehen, dass auch ihr in Gefahr seid. Jetzt ist eure letzte Gelegenheit, gut aus der Sache rauszukommen, bevor ich euch erzähle, warum sie uns alle tot sehen wollen.« Ich tippte erneut auf meinen Organizer. »In eurem Posteingang findet ihr ein neues Jobangebot – für alle außer dir, Magdalene, und dir, Mahir. Mit euch müssen wir offline reden.« Aus Magdalenes Nicken schloss ich, dass sie mit dieser Bitte oder zumindest mit etwas in der Art gerechnet hatte. Mahir dagegen wirkte völlig perplex. Ich hatte beide Reaktionen erwartet. »Noch mal, wenn ihr es ablehnen wollt, ist das in Ordnung. Ihr habt fünf Minuten Bedenkzeit. Wenn ihr euch bis dahin nicht entschieden habt, schmeiße ich euch aus dem Konferenzzimmer. Wer beschließt, diese Gruppe zu verlassen, hat zwölf Stunden Zeit, seine persönlichen Daten von unseren Servern zu entfernen. Anschließend werden eure Zugriffsrechte widerrufen, und ihr müsst einen leitenden Mitarbeiter kontaktieren, wenn ihr etwas haben wollt, was ihr euch noch nicht runtergeladen habt.«
Ich machte eine Pause, damit die anderen Gelegenheit hatten, etwas zu sagen. Keiner sprach ein Wort. »Alles klar. Bitte schaut euch eure Verträge an. Wenn ihr sie annehmt, gebt den Sicherheitscode ein, der unter dem Feld für die Lizenznummer angegeben ist. Wenn ihr ablehnt, war es mir ein Vergnügen, mit euch zusammenzuarbeiten. Meine besten Wünsche für die Zukunft.«
An diese Mitteilung schloss sich ausgedehnte Stille an, in der die anderen ihre neuen Verträge öffneten und lasen. Es gab eigentlich keine Änderungen gegenüber den alten: Alle bekamen dieselben Anteile und dieselben Prozente an den verschiedenen Arten der Weiterverwertung, und man erwartete von ihnen weiterhin die üblichen Abgabetermine und journalistischen Verhaltensregeln. Doch in anderer Hinsicht war es ein ganz anderer Vertrag als die vorangegangenen, denn als die unterschrieben worden waren, hatte noch niemand versucht, uns umzubringen. Wir boten keine Gefahrenzulage und keine Garantiehonorare an, sondern nur eine Menge Unwägbarkeiten, und der einzige Lohn war die Gelegenheit dabei zu sein, wenn eine Riesensache ans Licht kam, größer als jeder Einzelne von uns.
Wieder war Andrea die Erste, die etwas sagte. »Es … es tut mir leid, Georgia. Shaun. Ich war … ich war bloß dabei, weil Buffy mich darum gebeten hat. Mit solchen Dingen wollte ich nie etwas zu tun haben. Das schaffe ich nicht.«
»Ist in Ordnung, Acre«, sagte Shaun tröstend. In so was war er schon immer gut. Wenigstens einer von uns. »Danke für deine harte Arbeit.«
»Tut mir leid, dass ich nicht länger dabeibleiben kann«, sagte Andrea. »Ich … viel Glück euch allen.« Sie wischte sich mit dem Handrücken über die Wangen und wandte den Blick von ihrer Webcam ab. Kurz darauf erlosch ihr Bild und hinterließ ein schwarzes Rechteck am unteren Rand meines Monitors.
Das war der Stein, der die Lawine ins Rollen brachte. Die Ränder der Fenster leuchteten weiß auf, als ihre Besitzer den neuen Verträgen zustimmten. Andere füllten sich schwarz, als die Leute Entschuldigungen murmelten und sich abmeldeten. Einige der Antworten waren nicht besonders überraschend. Ich wusste, dass Alaric und Becks bleiben würden. Shaun hatte mir dasselbe über Dave versichert. Jetzt, wo Buffy fort war, gab es niemanden, der sich für die Fiktiven hätte verbürgen können, aber es schien, als würden wir mindestens die Hälfte von ihnen verlieren. Womit ich nicht gerechnet hatte, war, dass so viele meiner Newsies sich ebenfalls abseilten.
Luis brachte es am besten auf den Punkt. »Es ist nicht so, dass ich der Meinung wäre, du würdest nicht das Richtige tun. Ich kenne dich. Du kannst nichts anderes tun. Aber bei dieser Sache werden Leute zu Schaden kommen, und ich kann es mir nicht leisten, einer davon zu sein. Ich habe Familie. Tut mir leid.« Und damit war er weg, abgemeldet wie die Hälfte der Fiktiven und der Großteil der Administratoren.
Als sich schließlich niemand mehr abmeldete, war weniger als die Hälfte unserer Leute übrig. Die einzigen nicht weiß umrandeten Fenster waren die von Magdalene und Mahir. Ich schaute auf das Fenster, das meinen besorgten ehemaligen Stellvertreter zeigte, und sagte: »Ich rufe dich an, wenn das hier vorbei ist«, und dann tippte ich den Code ein, mit dem ich die Verbindung unterbrach. »Magdalene, du kannst bleiben, wenn du dir darüber bewusst bist, dass du derzeit in keinem Arbeitsverhältnis mit dieser Seite stehst.«
»Ich gehe davon aus, dass ihr die derzeitige Risikolage abcheckt und dass ihr meinen Vertrag erst noch einmal überprüfen müsst, da ich Buffys Job übernehmen soll«, sagte Magdalene nüchtern. »Liege ich richtig?«
»Du liegst absolut richtig«, sagte Rick.
»Ich bleibe dabei. Das hier ist ebenso sehr mein Problem wie eures, und ich muss für mein Ressort wissen, was hier vorgeht.«
»Danke«, sagte ich und meinte es auch so. Sie würde Buffy nie wirklich ersetzen können, aber ihre Antwort verriet mir, dass sie sich darum bemühen würde. »Rick, sende die Daten.«
»Erledigt.«
»Schaut bitte alle in euren Posteingang. Dort findet ihr einen Anhang, der genau erklärt, was wir derzeit wissen, einschließlich des Umstands, dass derjenige, der Buffys Ermordung angeordnet hat, weit oben in der derzeitigen Regierung sitzt. Tate hat die Finger im Spiel. Dabei handelt es sich nicht bloß um ein delikates Detail. Dieses Wissen ist wahrscheinlich Grund genug, jeden Einzelnen von uns ermorden zu lassen. Lest es, speichert es offline und löscht eure Mails. Ob ihr nun mit unseren weiteren Bemühungen, diesen Vorgängen auf den Grund zu gehen, etwas zu tun haben möchtet, liegt bei euch, aber wenn wir beispielsweise wegen Hochverrats verurteilt werden, haltet ihr ab jetzt alle den Kopf mit hin. Willkommen bei unserer Party.« Ich stand auf. »Shaun und Rick bleiben hier, um eure Fragen zu beantworten. Shaun spricht für die Irwins, und Rick als mein neuer Stellvertreter für die Newsies. Danke fürs Kommen. Wenn ihr mich jetzt bitte entschuldigen würdet, ich muss einen Anruf erledigen.« Ich ignorierte das Protestgeschrei, ging ins Bad und machte das Licht aus, bevor ich die Tür hinter mir schloss.
Während Dave und Alaric ein neues Konferenzzimmer zusammengebastelt hatten, hatten Shaun und ich das Bad mit einer Abschirmung isoliert, die man nur mit Übertragungen auf ganz bestimmten Frequenzen durchdringen konnte. Der Großteil meiner Geräte war hinter dieser Tür so gut wie nutzlos, und genau so sollte es auch sein. Wenn schon ich solche Probleme hatte, eine Verbindung nach draußen zu kriegen, dann würde der Rest der Welt höllische Schwierigkeiten haben, hier reinzukommen.
Obwohl der Schlüssel für die Abschirmung in meinen Organizer einprogrammiert war, brauchte ich fast fünf Minuten, um eine Verbindung zu Mahirs Telefon herzustellen. Seine ersten Worte klangen schneidend und verletzt: »Was zum Teufel sollte denn das? Habe ich dir irgendeinen Grund gegeben, an meiner Treue zu zweifeln? Habe ich jemals etwas anderes getan als genau das, was du von mir wolltest? Weil ich mich im Moment nämlich nicht so wahnsinnig geschätzt fühle, Ms Mason.«
»Dir auch ein Hallo, Mahir.« Ich stützte mich auf das Waschbecken und nahm die Sonnenbrille ab. Das Leuchten meines Organizers reichte mir zum Sehen. Meine Kopfschmerzen wurden davon zwar nicht besser, aber es war ein Anfang. »Du wirst wahnsinnig geschätzt. Deshalb habe ich dich gefeuert.«
Eine lange Pause entstand, als er versuchte, meine Worte im Kopf zu sortieren. Schließlich gestand er: »Ich fürchte, da komme ich nicht mit.«
»Pass auf. Es besteht eine hohe Wahrscheinlichkeit, dass die Sache schiefläuft.« Ich wünschte mir, dass es eine Lüge gewesen wäre. In meinem ganzen Leben hatte ich mir noch nie so sehr gewünscht, eine Lügnerin zu sein. »Wir spielen in einer Arena, für die wir nicht gewappnet sind, und wir können nichts tun, um daran etwas zu ändern. Entweder wir finden das, was wir suchen, oder wir schmieren voll ab.«
»Was hat das damit zu tun, dass du mich gefeuert hast? Du hattest schließlich kein Problem damit, die anderen mit dir in den Untergang zu reißen. Warum habe ich kein Anrecht auf einen Platz auf der Titanic?«
»Weil du bei der Küstenwache bleiben und unsere Funksprüche empfangen musst.«
Einen Moment lang antwortete Mahir nicht. Schließlich sagte er: »Ich höre.«
»Wenn die Sache so schlimm schiefgeht, wie zu befürchten ist – wenn alles voll in die Hose geht –, dann sind wir am Ende vielleicht tot, und alle, die für die Website arbeiten, könnten wegen Hochverrats vor Gericht kommen. Wenn die Leute, die hinter dieser Sache stecken, es irgendwie so drehen können, dass es nicht mehr um ihr Komplott geht, sondern um unseres, dann werden sie allen Mitarbeitern von Nach dem Jüngsten Tag vorwerfen können, mithilfe von aktiven Kellis-Amberlee-Viren die Vermehrung bei Menschen ausgelöst zu haben.«
»O mein Gott«, sagte Mahir entsetzt. »Das hatte ich nicht bedacht.«
»Dachte ich mir«, erwiderte ich grimmig.
Das Raskin-Watts-Urteil von 2026 betraf nicht nur Amerika. Kein Land, auch nicht die erbittertsten Gegner der Vereinigten Staaten, konnte es sich leisten, gegenüber den Infizierten nachsichtig zu erscheinen. Das war unmöglich. Jede Industrienation der Welt hatte bis Ende 2027 den Auslieferungsabkommen zugestimmt, nach dem überführte Terroristen, die Kellis-Amberlee als Waffe eingesetzt hatten, an das betroffene Land oder die betroffenen Länder überstellt wurden, um sich dort vor Gericht zu verantworten. Wenn man dumm genug war, die eine Regel zu brechen, auf die sich alle geeinigt hatten, dann schützte einen auch ein längerer Auslandsaufenthalt nicht mehr vor dem Gesetz.
Die Vereinigten Staaten verhängen heutzutage nur noch für wenige Verbrechen die Todesstrafe. Terrorismus bleibt die Ausnahme. Wer Kellis-Amberlee als Waffe einsetzt, stirbt. So einfach ist das. So unkompliziert. So allgemeingültig.
»Georgia, ich weiß das zu schätzen, wirklich, aber ich glaube nicht, dass es die andern rettet, wenn ich verschont werde.«
»Das ist auch nicht der Sinn der Sache.«
»Was ist dann der Sinn der Sache?«
»Der Sinn der Sache ist, dass du Zeit hast, alle Serverinhalte runterzuladen, auf CD zu brennen und nach Irland abzuhauen«, antwortete ich. Irland hatte bis heute kein Auslieferungsabkommen mit den Vereinigten Staaten. »Wenn du es über die Grenze schaffst, kannst du da wahrscheinlich auf Jahre untertauchen.«
»Und was soll ich machen? Hoffen, dass man meinen Status als internationaler Terrorist vergisst?«
»Sorg dafür, dass die Welt die Wahrheit erfährt.«
Diesmal antwortete er noch länger nicht. Als Mahir wieder etwas sagte, war seine Stimme leise und klang wie von weit weg. »Ich bin mir nicht sicher, ob ich mich durch dein Vertrauen geschmeichelt fühlen soll oder ob es mich beunruhigen sollte, dass mein Leben dein Notfallplan ist.«
»Heißt das, dass du es nicht tust?«
»Spinnst du? Natürlich tue ich es. Ich hätte es auch getan, wenn du mich direkt darum gebeten hättest oder wenn du mich in einem Monat gefragt hättest. Es ist die einzige Möglichkeit.« Nach kurzem Zögern fügte er wehmütig hinzu: »Ich wünschte nur, dass ich mich nicht so unwohl mit dem Gedanken fühlen würde, dass du ohne Unterstützung klarkommen musst. Rick ist ein guter Kerl, aber ich habe nicht lange genug mit ihm zusammengearbeitet, um mir sicher zu sein, dass ich dich in fähigen Händen zurücklasse.«
»Was er nicht auf die Reihe kriegt, schafft Shaun«, sagte ich. »Um Mitternacht kappe ich deinen offiziellen Serverzugriff. All dein Material spiegele ich auf die alte Serveradresse. Erinnerst du dich an den alten Server?« Der »alte Server« war eine Kiste, die wir von Talking Points gemietet hatten, als wir noch ein Teil von Bridge Supporters gewesen waren. Auf ihm hatten wir Sicherungskopien unserer Daten hinterlegt, wenn wir unterwegs waren, da Bridge Supporters nichts online stellte, was nicht vollständig verifiziert war, und Uploads von Beta-Bloggern nicht länger als vierundzwanzig Stunden speicherte. Wir hatten schon eine ganze Weile vor dem Beginn der Wahlkampftour aufgehört, ihn zu benutzen, und praktisch niemand außer den Autoren von Talking Points wusste, dass ich ihn immer noch gemietet hatte. Er war nicht absolut sicher, aber andererseits gehörte er auch nicht uns. Mahir konnte darauf zugreifen, ohne eine Spur zu hinterlassen, die bewies, dass er noch Teil unseres Teams war.
»Ja«, antwortete er. »Wahrscheinlich sollte ich dich nach diesem Gespräch nicht wieder anrufen.«
»Das wäre keine gute Idee. Wenn’s geht, nehme ich Kontakt zu dir auf.«
»Klar doch.« Er lachte leise. »Wir sind echt ein paar Spione.«
»Willkommen im Journalismus.«
»Allerdings. Ich wünschte, ich wäre dir persönlich begegnet, Georgia Mason. Ganz ehrlich. Es war mir eine Ehre und ein Privileg, mit dir zusammenzuarbeiten.«
»Vielleicht kriegst du noch die Gelegenheit dazu, Mahir. Ich bin noch nicht dazu bereit, uns abzuschreiben.« Ich setzte meine Sonnenbrille wieder auf. »Sei brav, sei vorsichtig und sei wachsam. Dein Name wird immer noch mit Nach dem Jüngsten Tag in Verbindung gebracht. Daran kann ich nichts ändern.«
»Das würde ich auch nicht wollen. Pass auch auf dich auf, ja?«
»Ich versuch’s. Gute Nacht, Mahir.«
»Gute Nacht, Georgia … und viel Glück.«
Das Klicken, als die Verbindung getrennt wurde, klang viel zu endgültig. Ich ließ mein Telefon zuschnappen, streckte mich, seufzte und griff nach dem Türknauf. Es war Zeit, zu meinem Team zurückzukehren.
Wir hatten einen Riesenhaufen Arbeit vor uns.
Mit Bedauern, aber ohne Scham muss ich meinen Abschied von dieser Seite bekannt geben. Unsere Wege trennen sich nicht aufgrund politischer oder religiöser Differenzen. Mein Abschied wird einzig von dem Wunsch motiviert, mich anderen Dingen zu widmen. Ich wünsche den Masons alles Gute für ihre zukünftigen Projekte, und ich freue mich darauf, die Früchte ihrer Arbeit zu sehen.
Ich bin mir sicher, dass sie spektakulär sein werden.
Aus Fisch und Clips, dem Blog von Mahir
Gowda,
9. April 2040