19
Ich erwachte in einem weißen Bett in einem weißen Zimmer, in einem weißen Baumwollschlafanzug, mit dem widerlich weißen Geruch von Bleichmitteln in der Nase. Nach Luft schnappend setzte ich mich auf und schloss fest die Augen, in dem automatischen Versuch, sie vor den Deckenlichtern zu schützen, bevor mir klar wurde, dass ich beim Aufwachen auf dem Rücken gelegen hatte. Ich hatte direkt ins Licht geschaut, und es hatte kein bisschen wehgetan. Mangelndes Schmerzempfinden ist eines der vielen Warnzeichen für eine Kellis-Amberlee-Überflutung. Hatte die Seuchenschutzbehörde uns deshalb attackiert? Befand ich mich in irgendeiner verkackten Forschungseinrichtung? Es gibt einen Haufen Gerüchte darüber, von denen das eine oder andere wahr sein mochte.
Vorsichtig geworden, hob ich die Hand und berührte mein Gesicht. Meine Finger stießen auf einen dünnen Plastikstreifen über meinen Augen, der so angebracht war, dass er praktisch keinen Druck auf meine Nase oder auf meine Schläfen ausübte. Ich wusste, worum es sich handelte: Polarisierte UV-Blocker-Streifen wurden seit etwa fünfzehn Jahren zur stationären Behandlung von retinalem KA verwendet. Sie sind höllisch teuer – ein einziger davon treibt die Krankenhausrechnung um fünfhundert Dollar in die Höhe, selbst, wenn man den Versicherungsanteil abzieht, und die Dinger sind wahnsinnig empfindlich –, aber sie filtern das Licht zuverlässiger und unauffälliger als jede andere bislang entwickelte Behandlungsmethode. Ich entspannte mich. Also keine Virenvermehrung. Ich war lediglich von der Seuchenschutzbehörde entführt worden.
Es sagt einiges über meine Lage aus, dass ich diesen Gedanken als beruhigend empfand.
Ich schaute mich im Zimmer um. Es war leer, mit Ausnahme von mir, dem weißen Bett mit dem weißen Laken, der weißen Decke und den weißen Kopfkissen, einem weißen Nachttisch mit schaumstoffgepolsterten Kanten, die ihn als Waffe nutzlos machten, und einem großen, getönten »Spiegel«, der den Großteil der Wand neben der Tür einnahm. Mit zusammengekniffen Augen schaute ich durchs Spiegelglas auf den sterilen Flur dahinter. Niemand beobachtete mich. Das sprach dafür, dass ich weiterhin ein Nichtzombie war. Wäre ich infiziert gewesen, dann hätten sie Wachen da draußen gehabt, vorausgesetzt, dass sie überhaupt einen Grund gehabt hätten, mich nicht sofort zu erschießen.
Wäre mein Augenleiden nicht gewesen, dann hätte der »Spiegel« für mich wie ein echter Spiegel ausgesehen und mir die Illusion von Privatsphäre vermittelt, während mich die Ärzte gleichzeitig aus sicherer Entfernung beobachten konnten. Die Tage piepsender Bildschirme und klobiger Maschinen sind vorbei. Inzwischen sind all diese Dinge unauffällig eingepasst, in Form von Feinmaschensensoren und sorgfältig verborgenen Überwachungsmonitoren. Das dient ebenso sehr dem Schutz der Ärzte wie der Bequemlichkeit der Patienten. Schließlich ist jeder Grund, zu jemandem ins Zimmer zu gehen, der eine plötzliche Virenvermehrung erleiden könnte, ein weiterer Grund, den Arztberuf aufzugeben und sich etwas weniger Gefährliches zu suchen. Zum Beispiel Journalismus.
Nicht, dass mir mein Beruf derzeit wie eine besonders sichere Wahl vorgekommen wäre. Ich schloss die Augen. Hinter meinen Lidern erwartete mich Buffy, die aus virusverdunkelten Augen zu mir aufblickte, während das Virus überhandnahm und ihr innerstes Selbst zersetzte. Langsam kriegte ich das Gefühl, dass sie von nun an immer da sein würde. Sie würde für den Rest meines Lebens auf mich warten.
Kellis-Amberlee ist eine Tatsache des Lebens. Man lebt, man stirbt, und dann steht man wieder auf, schlurft herum und versucht, seine ehemaligen Freunde und all die Menschen, die man geliebt hat, aufzufressen. So ist es für uns alle. Angesichts dessen, was meine Eltern machen und was ihrem Sohn widerfahren ist, könnte man meinen, dass dieser Umstand einen starken Eindruck bei unserer Familie hinterlassen hat, aber all das ist geschehen, bevor Shaun und ich alt genug waren, um es zu begreifen. Für uns ist das Virus ein Hintergrundrauschen. Hätte es KA nicht gegeben, dann hätten Shaun und ich uns eben eine andere Freizeitbeschäftigung gesucht – irgendetwas anderes, als mit Stöcken nach Zombies zu stochern. Bis zu der Sache mit Chuck und Buffy hatte das Virus mir nie einen Menschen genommen. Es hatte andere Leute getroffen, die mir wichtig waren. Es hatte Bekannte getötet, wie die Sicherheitsleute, die wir in Oklahoma verloren hatten, oder Rebecca Ryman, die ich von Bildern kannte, obwohl ich ihr nie wirklich begegnet war. Aber mich selbst, mein Leben, hatte es bislang verschont. Nicht bis zu der Sache bei Memphis.
Ich öffnete die Augen. Ich konnte noch so viel grübeln, es würde Buffy und Chuck nicht zurückbringen, und es änderte nichts an der Situation: Die Seuchenschutzbehörde von Memphis hatte uns aus irgendwelchen Gründen betäubt und in eine Arresteinrichtung verbracht. Ich hatte keine Kleider, keine Waffen und keinerlei Aufzeichnungsgeräte. Meine Ohren lagen bloß – man hatte mir auch die Kurzstreckensender abgenommen. Selbst meine Sonnenbrille war weg, und stattdessen hatte ich nun einen UV-Blocker, der zwar zweifellos effektiver war, mit dem ich mich aber nackt fühlte.
Meine Mutter hat mir mal gesagt, dass eine Frau niemals nackt ist, solange sie noch ihre miese Stimmung und ihren unbeirrbaren bösen Blick hat. Diesen Gedanken behielt ich im Kopf, ging zur Tür und versuchte, den Knauf zu drehen.
Es war nicht abgeschlossen.
Das war nicht unbedingt ein gutes Zeichen.
Der Flur war ebenso steril wie das Zimmer, in dem ich erwacht war. Weiße Wände, weißer Boden und grellweiße Deckenbeleuchtung. Alle drei bis vier Meter gab es zu beiden Seiten weitere Pseudospiegel. Ich befand mich auf der Isolierstation. Das war sogar noch beunruhigender als die unverschlossene Tür. Ich rückte mir den UV-Blocker zurecht, eine Geste, die mich zutiefst beruhigte, obwohl sie streng genommen keinen besonderen Zweck erfüllte, und machte mich auf den Weg über den Flur.
Rick befand sich im dritten Zimmer links. Er lag in einem weißen Baumwollschlafanzug, der meinem aufs Haar glich, auf seinem Bett. Die Seuchenschutzbehörde interessiert sich nicht groß für Geschlechterstereotype. Ich klopfte ans »Fenster«, um ihn vorzuwarnen, und öffnete dann die Tür und trat ein.
»Gibt es hier Zimmerservice? Im Moment könnte ich nämlich sterben für eine Dose Cola. Wiederauferstehung bitte nur auf Wunsch.«
»Georgia!« Rick setzte sich auf, und Erleichterung und Entzücken mischten sich in seinem Gesicht. »Gott sei Dank! Als ich hier alleine aufgewacht bin, hatte ich befürchtet …«
»Was, dass du als Einziger übrig geblieben wärst? Tut mir leid, Junge, aber so leicht kriegst du keine Beförderung.« Ich stützte mich in den Türrahmen und musterte ihn. Er hatte keine sichtbaren Verletzungen. Das war gut. Wenn wir hier schnell rausmussten, würde er vielleicht mithalten können. »Genau genommen bin ich unsterblich, solange ich mich ärgere.«
»Wow.«
»Wow?«
»Dann wirst du ja nie sterben.« Er hielt inne und gestikulierte mit der rechten Hand vor seinen Augen. »Georgia, du hast gar keine …«
»Ist schon in Ordnung.« Ich tippte an das Plastikband. »UV-blockierender Kunststoff. Das Neueste vom Neuesten. Eigentlich besser als meine Sonnenbrille, obwohl mir im Moment alles ein bisschen zu hell ist.«
»Oh«, sagte er. »Du hast braune Augen.«
»Ja, stimmt.«
Er zuckte mit den Schultern. »Das wusste ich noch gar nicht.«
»Man lernt eben nie aus.« Ich gab mir alle Mühe, locker zu klingen, als ich fragte: »Hast du also bloß auf mich gewartet? Und hast du Shaun gesehen?«
»Nein. Wie schon gesagt, als ich aufgewacht bin, war ich allein. Seit die Behörde uns was in die Drinks gemixt hat, habe ich niemanden gesehen. Hast du eine Ahnung, was zum Teufel hier vorgeht?«
»Keine Ahnung, ich möchte vor allem wissen, wo mein Bruder ist.«
Er bedachte mich mit einem nachdenklichen Blick. »Du interessierst dich mehr für deinen Bruder als dafür, die Wahrheit herauszufinden?«
»Shaun ist das Einzige, was mir mehr bedeutet als die Wahrheit.«
»Im Moment ist er nicht hier.«
»Weshalb wir ihn suchen werden.« Ich trat zurück auf den Flur. »Komm mit.«
Man musste Rick zugutehalten, dass er ohne Widerworte aufstand. »Sie haben nicht abgeschlossen. Das bedeutet, dass sie uns nicht für ansteckend halten.«
»Entweder das, oder wir stecken bereits mitten in einem Ausbruch, und sie haben den ganzen Gebäudeflügel abgeriegelt.«
»Du bist wirklich ein kleiner Sonnenschein.«
Ich warf ihm ein schiefes Lächeln zu. »War ich schon immer.«
»Jeden Tag verstehe ich deinen Bruder ein bisschen besser.«
»Diese Bemerkung ignoriere ich lieber.« Der Flur war leer und erstreckte sich in beide Richtungen, ohne dass etwas Aufschlussreiches zu sehen gewesen wäre. Ich runzelte die Stirn. »Weißt du irgendwas über den Aufbau von Isolierstationen?«
»Ja.«
Seine Antwort klang erstaunlich selbstbewusst. Ich blickte mich mit fragend gehobenen Brauen zu ihm um. Er zuckte mit den Schultern.
»Lisa und ich haben viel Zeit an derlei Orten verbracht.«
»Stimmt«, sagte ich nach einer unbehaglichen Pause. »Wo lang?«
»Die Isolierstationen der Seuchenschutzbehörde sind alle nach dem gleichen Schema aufgebaut. Wir gehen nach links.«
Das ergab Sinn. Zombies sind nicht lernfähig, und wenn die Chance besteht, dass man noch nicht infiziertes Personal hat, dann sollte es besser wissen, in welche Richtung es laufen muss. Zusätzlich dient die Anordnung als Sicherheitsmaßnahme: Wer bereits aktivierte Viren in sich trägt, aber hofft, noch rauszukommen, rennt wahrscheinlich direkt zur Luftschleuse, wo ihm eine positive Blutprobe eine Kugel in den Kopf einträgt.
Rick ging los. Ich beeilte mich, mitzuhalten, und er warf mir einen Blick zu.
»Sicher geht es Shaun gut.«
»Mmm.«
»Wenn es bei ihm losgegangen wäre, würden wir Anzeichen von einem Ausbruch sehen. Zumindest könnte man frisches Desinfektionsmittel riechen.«
»Mmm.«
»Bei der Gelegenheit würde ich gerne ganz inoffiziell erwähnen, dass deine Augen sehr viel attraktiver sind, wenn du sie nicht hinter diesen gruseligen Kontaktlinsen versteckst. Blau passt echt nicht zu dir.«
Ich schaute ihn von der Seite an.
Rick lächelte. »Diesmal hast du nicht ›mmm‹ gemacht.«
»Tut mir leid. Ich werde ein bisschen nervös, wenn ich nicht weiß, wo Shaun ist.«
»Georgia, wenn das hier ›ein bisschen nervös‹ ist, dann will ich dich niemals im Zustand echter Anspannung erleben.«
Ich warf ihm einen weiteren Seitenblick zu. »Du nimmst es verdammt locker.«
»Nein«, sagte er nüchtern, »ich stehe unter Schock. Wäre ich wirklich entspannt, dann würde ich nicht rumlaufen und darauf warten, dass Buffys Tod mich wie eine Ziegelsteinmauer trifft, die mir auf den Kopf kracht.«
»Oh.«
Diesmal war sein Lächeln schmal und angespannt und zeigte keine Spur von Humor. »Durch Ethan kenne ich mich in Isolationsstationen der Seuchenschutzbehörde aus. Und dank Lisa weiß ich einiges über Schockzustände.«
Ich wusste nicht, was ich darauf erwidern sollte. Wir durchquerten die weißen Flure, und unsere weiß gekleideten Spiegelbilder flackerten wie Gespenster im getönten Glas auf, bis schließlich vor uns etwas auftauchte: eine Tür mit Stahlgitterstäben, einer Gegensprechanlage und einer Bluttesteinheit in der Wand daneben.
»Nett«, sagte ich, als wir uns näherten.
»Die Gegensprechanlage ist mit dem Bereitschaftszimmer verbunden, und die Testeinheit hat eine automatische Upload-Funktion«, sagte Rick.
»Freundlich und effizient«, setzte ich hinzu. Vor der Tür blieb ich stehen und drückte den Knopf der Gegensprechanlage. »Hallo?«
Sofort antwortete mir Shauns Stimme, erfüllt von einer wilden Freude, die wahrscheinlich nur ich als Fassade erkannte, um Kummer und Angst zu verbergen. »George! Du hast beschlossen, in die Welt der Lebenden zurückzukehren!«
In meinem Brustkorb löste sich ein Knoten, und ich konnte wieder atmen. »Wie schön, dass du nicht plötzlich auf die Idee gekommen bist, ohne uns weiterzumachen«, sagte ich. »Kannst du mir nächstes Mal eine verdammte Nachricht oder so was hinterlegen?«
»Ich fürchte, das war meine Schuld, Ms Mason«, sagte eine tiefere Stimme mit Südstaatenakzent. »Wir versuchen, nichts in den Zimmern zu hinterlassen, was als Waffe dienen könnte. Einschließlich Papier. Sie verstehen sicher, warum das nötig ist.«
Ich runzelte die Stirn. »Joe?«
»Ganz genau, und ich bin ganz schön froh zu sehen, dass es Ihnen beiden gut geht.«
Beiden? Rick hatte kein einziges Wort gesagt, seit ich die Gegensprechanlage eingeschaltet hatte. Ich suchte mit den Augen die Decke ab, bis ich eine kleine, etwas dunklere Stelle fand, sahnefarben zwischen den weißen Kacheln. Den Finger noch immer am Knopf der Gegensprechanlage, schaute ich direkt auf den Punkt und sagte: »Bei den Mädchen auf Ihrer Highschool waren Sie sicher enorm beliebt. Die lieben doch solche Spanner.«
»He, hack nicht auf ihm rum, George. So sehe ich dich mal in deinem herzallerliebsten Schlafanzug. Du siehst aus wie ein Schneemann. Wie ein Schneemann auf der Wäscheleine.«
»Dieser Schneemann wird dir gleich einen Arschtritt verpassen«, erwiderte ich. »Kann mir jemand sagen, was zum Teufel hier vorgeht, bevor ich ernsthaft sauer werde?«
»Die Tür geht nicht ohne Blutprobe auf, George«, sagte Shaun.
»Natürlich nicht.« Ich drehte mich um und klatschte die Hand auf die Sensorfläche. Als die Nadeln in meine Haut stachen, zuckte ich kaum mit der Wimper. Für jede Nadel, die ich spürte, gab es fünf, von denen ich nichts merkte. Die dickeren Nadeln an den Einheiten der Seuchenschutzbehörde dienen mehr der Beruhigung als irgendetwas sonst – die Leute glauben nicht, dass man sie getestet hat, wenn sie keinen Einstich spüren. Die meisten der Informationen, die die Behörde braucht, stammen aus Hypospritzen, die im Prinzip wie Akupunkturnadeln sind und in die Haut hinein- und wieder herausgleiten, ohne Spuren zu hinterlassen.
Ein rotes Licht über der Tür erwachte blinkend zum Leben und wurde praktisch sofort grün. Die Schlösser öffneten sich mit einem lauten Klicken. Ich nahm die Hand von der Sensorfläche.
»Ich nehme an, wenn Rick mir direkt zu folgen versucht, dann wird ein Alarm ausgelöst?«
»Sie haben’s erfasst. Gehen Sie in die Luftschleuse und warten Sie, bis die Tür sich geschlossen hat, dann kann er nachkommen.«
»Alles klar.« Rick erwiderte mein Nicken, und dann öffnete ich die Tür und trat hindurch.
Wenn der Flur schon klinisch einförmig gewesen war, konnte man die Luftschleuse nur als antiseptisch bezeichnen. Die Wände waren so weiß, dass mir trotz UV-Blocker die Augen von dem reflektierten, grellen Licht wehtaten. Blinzelnd trat ich in die Mitte des Raums.
Ein Knistern drang aus der Gegensprechanlage, und dann erklang Joes Stimme: »Bleiben Sie dort, Ms Mason.«
»Augen schließen, Luft anhalten?«
»Genau.« Sein Tonfall klang leicht belustigt. »Es ist mir immer ein Vergnügen, mit jemandem zusammenzuarbeiten, der weiß, wie der Laden läuft.«
»Mir ist gerade nicht besonders vergnügt zumute«, erwiderte ich. »Vielleicht wird es besser, wenn ich eine Hose anhabe.« Rumstehen und Nörgeln würde mich meinen Kleidern auch nicht näher bringen, oder meinem Bruder. Ich schloss die Augen, nahm den UV-Blocker ab, holte tief Luft und hielt den Atem an.
Der Geruch von Desinfektionsmitteln erfüllte den Raum, während ein kühler Dunst aus den Düsen in der Decke strömte und mich umfing. Ich zwang mich, weiter die Luft anzuhalten, und zählte von zwanzig runter. Als ich bei siebzehn ankam, sprangen die Ventilatoren an, und der Dunst wurde in die Abzüge am Boden gesogen. Man würde ihn in Rohre voll hocherhitzter Luft weiterleiten, um alle Spuren von Erregern, die das Chemikalienbad irgendwie überlebt hatten, zu verbrennen, und dann zur Vernichtung in einen Hochofen pumpen. Der Seuchenschutz macht so einige Dummheiten, aber nicht, wenn es um Sterilisierung geht.
»Sie können jetzt die Augen öffnen, Ms Mason.«
Ich setzte mir den UV-Blocker wieder auf, öffnete die Augen und ging zur gegenüberliegenden Tür. Das Licht darüber leuchtete grün, und als ich die Hand an den Griff legte, öffnete sie sich ohne Probleme. Ich ging weiter.
Das Bereitschaftszimmer war eine dieser Hybridschöpfungen, die in den letzten zwanzig Jahren die Regel in medizinischen Einrichtungen geworden sind: halb Schwesternzimmer und halb Wachstube. An mehreren Stellen waren Alarmknöpfe an der Wand, und neben dem Wasserkühler hing ein großer Waffenschrank. Ein gutes Bereitschaftszimmer kann eine Insel der Sicherheit für die Nichtinfizierten sein, selbst wenn überall darum herum ein Ausbruch tobt. Wenn die Luftschleuse nicht versagt und man genug Munition hat, kann man tagelang durchhalten. In einem Bereitschaftszimmer in Atlanta ist genau das passiert – vier Krankenpfleger, drei Ärzte und fünf Sicherheitsleute haben sich und achtzehn Patienten fast eine Woche lang am Leben gehalten, bis es dem Seuchenschutz gelungen ist, sich durch den Ausbruch ums Krankenhaus herumzukämpfen und sie in Sicherheit zu bringen. Aus dem Vorfall hat man später einen Film gemacht.
Dieser Mistkerl Shaun hatte seine eigenen Sachen an. Er saß mit einer Tasse Kaffee in der Hand auf der Anrichte. Ein mir unbekannter Mann im weißen Arztkittel war ebenfalls anwesend, und neben ihm stand Senator Ryman, der besorgter aussah als die beiden anderen zusammen. Krankenpfleger und Techniker liefen vorbei und redeten miteinander wie Statisten in einer Filmszene – sie vervollständigten das Bild, gehörten aber ebenso wenig wirklich dazu wie die Wände.
Der Senator nahm mein Eintreten als Erster zur Kenntnis. Sein Gesicht strahlte vor Erleichterung. Er straffte die Schultern, kam auf mich zu und nahm mich fest in die Arme, bevor ich Gelegenheit hatte, seine Absichten zu erahnen. Ich gab ein leises »Uff« von mir, als mir die Luft aus den Lungen gepresst wurde, aber er drückte mich bloß fester, ohne sich daran zu stören, dass ich die Arme weiter zu den Seiten herabhängen ließ. Die Umarmung sollte in erster Linie ihm selbst Trost spenden.
»Ich glaube kaum, dass sie so atmen kann, Chef«, sagte Shaun. »Bin mir ziemlich sicher, dass sie die schlechte Angewohnheit mit dem Sauerstoff noch nicht aufgegeben hat.«
Hinter mir ging die Tür auf und wieder zu, und dann erklang Ricks überraschte Stimme: »Warum versucht Senator Ryman, Georgia zu erdrücken?«
»Posttraumatischer Schock«, sagte Shaun. »Er hält sich für eine Boa Constrictor.«
»Sie haben gut lachen«, sagte der Senator und ließ mich endlich los. Erleichtert trat ich einen Schritt zurück, ehe er auf die Idee kommen konnte, so etwas noch mal zu machen. »Sie haben mich zu Tode erschreckt.«
»Wir haben uns selbst auch ziemlich erschreckt, Senator«, sagte ich und setzte dabei meinen taktischen Rückzug fort, bis ich neben Shaun stand. Er legte mir die Hand auf die Schulter und drückte sie. Diese einfache Geste erleichterte mich ungeheuer. Ich schmiegte mich an seine Hand und schaute zu dem Fremden. »Joe, nehme ich an?«
»Dr. Joseph Wynne, Seuchenschutzbehörde Memphis«, sagte er und streckte mir die Hand entgegen. Ich schüttelte sie. Er hatte einen festen, aber nicht schmerzhaft festen Griff. »Ich kann gar nicht sagen, wie sehr es mich freut, endlich von Angesicht zu Angesicht mit Ihnen zu sprechen.«
»Ich freue mich, dass ich noch in der Verfassung zum Sprechen bin«, antwortete ich. Nachdem wir solcherart Höflichkeiten ausgetauscht hatten, runzelte ich die Stirn. »Kann mir dann vielleicht jemand erklären, warum ich eben noch an einem Highway stand und meinen Bürgerpflichten nachgekommen bin, um kurz darauf auf einer Isolierstation aufzuwachen? Und wenn jemand ein Treffen zwischen mir und meinen Kleidern arrangieren könnte, wäre das echt toll. Ich komme mir ein bisschen nackt vor, und mit einem Senator im gleichen Zimmer ist das ziemlich seltsam.«
»Genau genommen ist das ziemlich lustig«, sagte Shaun.
Ich ließ Joes Hand los und verdrehte den Hals, um zu meinem Bruder zu schauen. »Definiere ›lustig‹.«
Shaun nahm ein Bündel von der Anrichte und reichte es mir. Meine Kleider und ein Plastikbeutel mit meiner Waffe und meinem Schmuck. Während ich mir das Bündel an die Brust drückte, sagte er, anscheinend allen Ernstes: »Jemand hat zwei Minuten vor dir den Seuchenschutz angerufen und behauptet, dass wir alle bei einem Unfall ums Leben gekommen seien.«
Einen Moment lang konnte ich ihn bloß anstarren. Dann wandte ich den Kopf langsam Joe und Senator Ryman zu und fragte: »Ist das wahr?«
Joe, dem nun sichtlich unbehaglich zumute war, sagte: »Tja, meine Liebe, wir müssen auf jeden eingehenden Anruf reagieren …«
»Sie hatten unsere Testergebnisse. Sie wussten, dass wir nicht tot waren.«
»Solche Testergebnisse kann man fälschen«, sagte Joe. »Wir haben getan, was wir konnten.«
Ich nickte widerwillig. Wenn man das Gesetz buchstabengetreu auslegte, dann hätte die Seuchenschutzbehörde auch ins Tal kommen, uns niederschießen, die Umgebung sterilisieren und sich anschließend um unsere Überreste kümmern können. Es war ungewöhnlich, dass man uns lebend gefangen genommen und einer ausgiebigen Überprüfung unterzogen hatte, da das ein unnötiges Risiko darstellte – niemand hätte die Entscheidung, uns zu töten, infrage gestellt.
»Warum haben Sie uns am Leben gelassen?«, fragte ich.
Joe lächelte. »Es gibt nicht viele Leute, die wegen eines so drastischen Vorfalls bei uns anrufen und dabei so ruhig klingen, Ms Mason. Ich wollte die Person, die dazu fähig ist, kennenlernen.«
»Unsere Eltern haben uns gut erzogen.« Ich hob mein Kleiderbündel und fragte: »Kann ich mich hier irgendwo umziehen?«
»Kelly!« Joe winkte eine vorbeilaufende Frau im Arztkittel heran. Sie wirkte sehr jung und machte große Augen. Wahrscheinlich war sie nicht älter als Buffy, und ihr langes, mit einer Spange zurückgestecktes blondes Haar erzeugte eine gewisse Ähnlichkeit. Ein Klumpen bildete sich in meiner Kehle.
Joe wies von der Frau auf mich. »Georgia Mason, Dr. Kelly Conolly. Dr. Conolly, könnten Sie Ms Mason bitte zu einem Umkleidezimmer bringen?«
Shaun rutschte von der Anrichte. »Komm, Rick. Ich zeige dir, wo es zur Männerumkleide geht.«
»Besten Dank«, sagte Rick und nahm seine Sachen von der Arbeitsfläche.
»Natürlich, Dr. Wynne«, sagte Kelly. »Ms Mason, hier entlang bitte.«
»Klar.« Ich folgte ihr.
Wir gingen über einen kurzen Flur, der diesmal in einem warmen Gelb gestrichen war, und Kelly öffnete eine Tür zu einem kleinen Umkleideraum mit Schließfächern. »Hier ziehen sich die Krankenpflegerinnen um.«
»Danke.« Ich legte die Hand an den Türknauf und warf ihr einen Blick zu. »Ich finde allein zurück.«
»In Ordnung.« Zögernd schaute sie mich an und sagte schließlich: »Ich lese Ihre Website. Täglich. Früher habe ich Ihre Beiträge bei Bridge Supporters gelesen, bevor Sie sich selbstständig gemacht haben.«
Ich hob eine Braue. »Tatsächlich? Was verschafft mir die Ehre?«
Sie errötete. »Ihr Nachname.« Sie klang peinlich berührt. »Im Studium habe ich eine Arbeit über Mensch-zu-Tier-Übertragungen geschrieben, die eine Kellis-Amberlee-Vermehrung auslösen. Ich bin auf Sie gestoßen, während ich nach Informationen über Ihren … Ihren Bruder gesucht habe. Dabei geblieben bin ich, weil mir das, was ich gelesen habe, gefallen hat.«
»Ah«, sagte ich. Offenbar wollte sie noch etwas hinzufügen. Ich schaute sie an und wartete.
Sie errötete noch tiefer. »Ich wollte bloß die Gelegenheit ergreifen, Ihnen zu sagen, dass es mir leidtut.«
Ich runzelte die Stirn. »Was?«
»Buffy.«
Das Blut gefror mir in den Adern. Ich achtete darauf, das Atmen nicht zu vergessen, und fragte: »Wie haben Sie davon erfahren?«
Unverhohlen überrascht blinzelte sie. »Ich habe gesehen, dass ihre Texte nun an der Mauer gepostet sind.«
»Die Mauer?«, fragte ich. »Aber woher wissen die, das … ach Himmel. Die Kameras.«
»Ms Mason? Georgia? Geht es Ihnen gut?«
»Hä?« Irgendwann im Laufe des Gesprächs hatte ich den Blick von ihr abgewandt. Jetzt schaute ich wieder zu ihr und schüttelte den Kopf. »Es ist bloß … mir war nicht klar, dass sie schon an der Mauer steht. Danke. Danke für Ihr Beileid.« Ich wandte mich ab, betrat, ohne ihre Antwort abzuwarten, den Umkleideraum und schloss die Tür hinter mir. Sollte sie mich für unhöflich halten. Ich bin Journalistin. Von Journalisten erwartet man, dass sie unhöflich sind, oder nicht? Das gehört zur Aura des Geheimnisvollen.
Die Gedanken jagten durch meinen Kopf wie Blätter im Wind, als ich den Schlafanzug der Behörde ablegte und meine eigenen Sachen anzog. Es dauerte länger als sonst, weil ich ständig innehalten musste, um die Aufzeichnungsgeräte, Kameras und mobilen Empfangsgeräte in die richtigen Taschen zu stecken. Wenn ich das unterließ, würde ich wochenlang nichts wiederfinden.
Buffys Tod war an der Mauer vermerkt. Ich hätte es wissen sollen, denn schließlich hatte man sicher ihre Familie benachrichtigt, was bedeutete, dass es einen Nachruf gab. Aber irgendwie machte dieser einfache Umstand – dass sie sich zu den anderen Opfern dieser nicht enden wollenden Seuche hinzugesellt hatte – es noch schwerer, ihren Tod zu verdrängen. Noch dazu erinnerte es mich an eine entscheidende Tatsache: Wir standen mit dem Rest der Welt in Verbindung, selbst auf Isolierstationen. Die Kameras liefen immer mit, und im Moment machte mir das ganz schön zu schaffen.
Ich entfernte den UV-Blocker und setzte meine Sonnenbrille auf. Mit ihr fühlte ich mich weniger verletzlich. Dann tippte ich mir an den Ohrstecker. »Mahir«, sagte ich.
Ein paar Sekunden später erklang Mahirs schläfrige Stimme. »Das sollte besser wichtig sein.«
»Weißt du, dass man deinen Akzent deutlicher hört, wenn du müde bist?«
»Georgia?«
»Genau.«
»Georgia.«
»Stimmt immer noch.«
»Du lebst!«
»Gerade so, und wir sind im Gewahrsam der Seuchenschutzbehörde, weshalb ich mich kurzfassen muss.« Mahir, der brave Soldat, hielt den Mund und ließ mich reden. »Du musst für mich die Aufnahmen der externen Kameras vom Sendewagen und vom Motorrad runterladen, dich vergewissern, dass sie vollständig sind, und dann die Originale löschen.«
»Und das tue ich, weil …?«
»Erkläre ich später.« Wenn ich gerade nicht aus einer Regierungseinrichtung anrief, wo wahrscheinlich alle Gespräche überwacht wurden. »Kriegst du das hin?«
»Natürlich. Bin schon dabei.«
»Danke, Mahir.«
»Ach, und Georgia? Ich bin sehr froh, dass du noch lebst.«
Ich lächelte. »Ich auch, Mahir. Lade das Zeug runter und schlaf ein bisschen.« Ich tippte mir an den Ohrstecker, um aufzulegen.
Dann rückte ich meinen Jackenkragen zurecht, setzte einen neutralen Gesichtsausdruck auf und verließ den Umkleideraum Richtung Bereitschaftszimmer. Die Kameras. Wie hatte ich sie bloß auch nur für wenige Minuten vergessen können?
Wir lassen die externen Kameras ununterbrochen laufen. Manchmal finden wir etwas, wenn wir sie uns später noch mal ansehen, wie damals, als Shaun mithilfe von Aufnahmen eines ganz normalen Highway-Mittelstreifens ein Rudel Zombies nahe Colma aufgespürt hat. Je nach Winkel, aus dem die Schützen uns getroffen hatten, konnten wir das Videomaterial vielleicht verwenden, um den Mörder aufzuspüren. Vorausgesetzt natürlich, dass die betreffende Person nicht bereits an unsere Festplatten rangekommen war und dass Buffy ihren »Freunden« nichts von unseren Aufzeichnungspraktiken erzählt hatte.
Langsam kam ich mir wie eine Verschwörungstheoretikerin vor. Aber das war schon in Ordnung, weil mir die ganze Sache nämlich langsam ziemlich wie eine Verschwörung vorkam.
Rick hatte weniger Geräte als ich. Er und Shaun waren bereits zurück, als ich im Bereitschaftszimmer eintraf, und Rick hatte sich von irgendwo einen Becher Kaffee besorgt. Ich wollte gerade sehnsuchtsvoll auf den Kaffee schauen, da reichte Shaun mir eine Dose Cola, die kalt und noch nass von Kondenswasser war.
»Du bist wahrhaft ein Gott unter den Menschen«, sagte ich.
»Jetzt bin ich ein Gott, aber morgen, wenn du mich wieder mal davon abhalten musst, mit Toten zu spielen, bezeichnest du mich als Idioten, hab ich recht?«, sagte Shaun.
»Jau.« Ich hob die Dose, öffnete sie, nahm einen tiefen Zug und atmete auf. »In Sachen Erfrischungsgetränke kann man sich über den Seuchenschutz nicht beklagen.«
»Wir tun unser Bestes«, sagte Joe.
Das war die Gelegenheit, die ich brauchte. Ich senkte die Dose und wandte mich ihm zu. Hinter meiner Sonnenbrille fühlte ich mich sicher. »Sie haben einen Anruf gekriegt, laut dem wir tot waren?«
»Laut Aufzeichnung kam er zwei Minuten vor Ihrem Anruf rein. Der Bericht ist auf meinem Monitor aufgetaucht, während ich noch mit Ihnen geredet habe.«
Das erklärte, warum er mich um genauere Angaben gebeten hatte. »Haben Sie einen dazugehörigen Namen? Oder besser noch eine Telefonnummer?«
»Leider keins von beiden«, sagte Joe.
Shaun mischte sich ein: »Es war ein anonymer Hinweis, der von einem Wegwerfhandy aus abgegeben wurde.«
»Also wurde die Nummer gespeichert …«
»Aber sie hilft uns nicht weiter.«
»Wunderbar.« Ich schaute weiterhin Joe an. »Dr. Wynne …«
»Sagen Sie Joe. Wenn ein Mädchen schon mal offiziell tot war, darf es mich mit meinem Vornamen anreden.« Offenbar sah man mir meine Überraschung an, denn er lachte freudlos und sagte: »Wenn die Seuchenschutzbehörde einen Anruf kriegt, in dem es heißt, dass jemand KA-positiv ist, gilt dieser Jemand so lange als tot, bis wir feststellen, dass es sich um einen üblen Streich gehandelt hat. Das ist eine ganz gewöhnliche juristische Sicherheitsmaßnahme.«
Ich starrte ihn an. »Weil wahrscheinlich niemand dem Seuchenschutz einen Streich spielen würde.«
»Das sollte zumindest niemand tun, und glauben Sie mir, Ms Mason, wenn wir die Verantwortlichen finden, werden sie ihre Lektion lernen.« Joes Lächeln wich einem Stirnrunzeln. Das war nur zu verständlich: Die meisten Leute, die für den Seuchenschutz arbeiten, tun das aus dem aufrichtigen Wunsch heraus, das menschliche Los zu verbessern. Wenn jemand ein Mittel gegen Kellis-Amberlee findet, dann wird es mit Sicherheit eben diese weitverzweigte Behörde mit all ihren Forschungsinstituten sein, die weltweite Anerkennung genießt und eine verdammt dicke Brieftasche hat. Um frei werdende Stellen schlagen sich die jungen Idealisten, und nur die Besten werden genommen. Daher arbeiten eine Menge Leute beim Seuchenschutz, die ziemlich stolz auf ihren Job sind und es sich nicht gefallen lassen, wenn die Ehre ihres Arbeitgebers beschmutzt wird.
»Ich würde wetten, dass die Person, die den ersten Anruf gemacht hat, auch diejenige ist, die uns die Reifen zerschossen hat«, sagte ich.
»Nun, Ms Mason …«
»Georgia, bitte.«
»Nun, Georgia, das sieht nach einer Wette aus, die ich nur verlieren kann, und auf so etwas lasse ich mich prinzipiell nicht ein. Es kommt nicht oft vor, dass jemand unsere Behörde reinzulegen versucht, und wenn es dabei noch dazu um einen Konvoi geht, der von Heckenschützen attackiert worden ist, dann …«
»Gibt es bereits ballistische Informationen über die verwendete Waffe?«
Joes Miene wurde abweisend. »Ich fürchte, das ist unter Verschluss.«
Ich warf dem Senator einen Blick zu. Sein Gesichtsausdruck war ebenso abweisend, er hielt den Blick auf einen Punkt zwischen unseren Köpfen gerichtet.
»Senator?«
»Tut mir leid, Georgia. Doktor Wynne hat recht: Informationen, die unmittelbar die polizeiliche Untersuchung dieses Vorfalls betreffen, sind nicht öffentlich zugänglich.«
Ich war dankbar dafür, dass meine Sonnenbrille meinen Gesichtsausdruck weitgehend verbarg. Wahrscheinlich konnte nur Shaun sehen, wie wütend ich war. »Damit meinen Sie, dass sie vor der Presse geheim gehalten werden.«
»Also Georgia …«
»Wollen Sie mir ernsthaft weismachen, dass sie meine Frage beantworten würden, wenn ich irgendein Lieschen Müller wäre, aber weil ich Journalistin bin, sagen Sie mir nichts?«
Sein Schweigen war Antwort genug für mich. »Verdammt noch mal, Peter. Wir lassen uns für Sie umbringen, und Sie wollen uns nicht sagen, was für Munition dabei verwendet wurde? Warum, weil wir als Reporter automatisch keinen Sinn für Diskretion haben? Ist das der Grund? Natürlich rennen wir auf der Stelle los und lösen eine Massenpanik aus, weil ganz sicher niemand eine Vertuschungsaktion wittern wird, wenn eine von uns plötzlich tot ist und der Rest nichts weiter sagt als ›Totsein ist Scheiße!‹« Ich ging auf ihn zu, blieb aber stehen, als Rick und Shaun mich von beiden Seiten an den Armen packten. »Sie können mich mal«, fauchte ich, ohne gegen den Griff der beiden anzukämpfen. »Ich habe Sie für einen besseren Kerl gehalten.«
Senator Ryman schüttelte in unverhohlener Verblüffung den Kopf. »Sie ist tot, Georgia. Buffy ist tot. Chuck ist tot. Sie müssten eigentlich alle tot sein, tot und entsorgt, anstatt lebendig hier rumzustehen und mich anzuschreien, weil ich nicht will, dass Sie sofort wieder da rausrennen und sich noch mal umbringen lassen! Georgia, ich verheimliche Ihnen das nicht, weil Sie eine Reporterin sind. Ich verheimliche es Ihnen, weil es mir lieber wäre, wenn Sie am Leben blieben.«
»Bei allem gebotenen Respekt, Senator, ich glaube, diese Entscheidung müssen Sie uns selbst überlassen.« Ich riss mich von Shaun los. Als Shaun mich losließ, tat Rick es ihm nach. Gemeinsam schauten wir Senator Ryman an und warteten auf seine Antwort.
Der Senator schaute weg. »Ich will Sie nicht auf dem Gewissen haben, Georgia. Oder auf dem Gewissen meines Wahlkampfs.«
»Tja, Senator, dann müssen wir uns wohl alle Mühe geben, nicht zu sterben«, sagte ich.
Er wandte sich uns wieder zu. Aus seiner Miene war alle Hoffnung geschwunden. Es war das Gesicht eines Mannes, der sein Leben lang einem Traum nachgejagt war und erst langsam begriff, wie viel mehr es ihn noch kosten mochte, sein Ziel zu erreichen.
»Ich lasse Ihnen die Berichte senden«, sagte er. »Unser Flieger geht in einer Stunde. Wenn Sie mich entschuldigen würden.« Es war keine Frage, und er wartete auch nicht auf die Antwort. Er drehte sich einfach um und ging.
… das erste Mal, dass ich Buffy getroffen habe. Mann, ich wusste noch nicht mal, dass ich sie gerade kennenlernte, wisst ihr? So eine Sache war das. Ich und George wussten, dass wir einen Fiktiven brauchten, wenn wir einen Job bei einer der guten Seiten wollten, weil man sich da nämlich nicht einfach einloggen kann und sagen: »He, wir sind zwei von dreien, wo ist unser virtueller Schreibtisch?« Wir brauchten einen Keil, etwas, das uns vollständig machte. Und das war Buffy. Das wussten wir bloß noch nicht.
In der Bloggergemeinde gibt es diese Jobmesse, wie die Craigslist, nur noch spezieller. Georgia und ich gaben bei der nächsten Jobmesse bekannt, dass wir einen Fiktiven brauchten, eröffneten einen virtuellen Anmeldeschalter und warteten. Wir wollten schon aufgeben, als wir eine Chatanfrage von einer Person kriegten, die sich als »B.Meissonier« bezeichnete und erklärte, dass sie keinerlei Felderfahrung hätte, aber lernbereit sei. Wir haben dreizehn Stunden ohne Unterbrechung mit ihr gechattet. Noch in derselben Nacht haben wir sie eingestellt.
Buffy Meissonier war die lustigste Frau, die ich jemals kennengelernt habe. Sie hat Computer und Lyrik geliebt, und sie war die Art von Geek, die einem den Organizer repariert, bevor man gemerkt hat, dass er kaputt ist. Sie mochte alte Fernsehserien und neue Filme, und sie hat alle möglichen Arten von Musik gehört, sogar das Zeug, das wie statisches Rauschen mit Kirchenglocken klingt. Sie hat wirklich schlecht Gitarre gespielt, aber sie war bei jedem Ton voll dabei.
Manche Leute werden sagen, dass sie eine Verräterin war. Wahrscheinlich werde ich einer davon sein. Das ändert nichts daran, dass sie meine Freundin war. Lange, bevor sie irgendetwas Falsches getan hat, war sie meine Freundin, und ich war bei ihr, als sie starb, und sie wird mir fehlen. Das ist es, worauf es ankommt. Sie war meine Freundin.
Buffy, ich hoffe, dass es dort, wo du jetzt bist, Computer gibt und alberne Fernsehserien und Musik und Menschen, die lachen. Ich hoffe, du bist glücklich, dort, auf der anderen Seite der Mauer.
Du fehlst uns.
Aus Lang lebe der König, dem Blog von
Shaun Mason,
21. April 2040