21
Ich erwachte und hörte Rick und Shaun leise streiten, im Hintergrund das beruhigende statische Brummen von Servern und Computern. Wie versprochen hatte Shaun das Netzwerk in Gang gekriegt, während ich geschlafen hatte. Ich streckte mich versuchsweise und stellte zufrieden fest, dass ich keine Kopfschmerzen hatte und dass mein Schädel sich auch nicht anfühlte, als sei er mit Medikamentenwatte vollgestopft. Ich würde weiterleben. Später würde ich dafür bezahlen – meine Kopfschmerzen rühren von kleinen Verletzungen des Sehnervs her, und je mehr künstliche Stimuli ich einsetze, um sie zu unterdrücken, desto wahrscheinlicher ist es, dass der Schaden dauerhaft wird –, aber ich würde weiterleben.
»… sage dir, du lässt sie schlafen, bis sie aufwacht. Arbeite an deinem Artikel.«
»Es sind die Töchter der Amerikanischen Revolution. Sie haben seit der Revolution nichts Neues zu sagen gehabt.«
»Dann sollte das ja einfach zu schreiben sein.«
»Arschloch.«
»He, Mann, ich will bloß, dass du deine Arbeit machst und meine Schwester ein bisschen schlafen lässt. Ist das so falsch?«
»Jetzt gerade? Ja.«
»Streichel deine Katze und mach deinen Artikel fertig.« Shaun klang erschöpft. Ich fragte mich, wie lange ich wohl in meinem traumlosen, drogeninduzierten Wunderland gewesen war, während er sich mit den Servern abgemüht und auf Mahirs Anruf gewartet hatte.
Anscheinend hatte ich geseufzt, denn ich hörte Schritte. Die Matratze bog sich durch, als Shaun sich auf die Bettkante stützte und besorgt fragte: »George? Brauchst du was?«
Noch acht Stunden mehr Schlaf, neue Augen und eine wiederauferstandene Buffy. Da ich aber wohl nichts von dem, was ich wirklich wollte, kriegen würde, antwortete ich mit einem Seufzer: »Meine Sonnenbrille?« Meine Stimme war rau und kratzig. Ich wandte das Gesicht Shaun zu, hielt die Augen geschlossen und hob die Brauen, um meine Bitte zu unterstreichen.
Er berührte meine Hand mit den Fingerspitzen und drückte mir dann die Sonnenbrille in die Hand. »Du warst etwa zehn Stunden weg. Ich habe dreimal versucht, bei Mahir anzurufen, aber er antwortet nicht. Becks sagt, dass sie noch einmal nach uns mit ihm gesprochen hat, als sie ihn darum bitten musste, ein paar ihrer Tagebuchdateien zu löschen und neu hochzuladen, aber seitdem hat niemand von ihm gehört.«
Becks …? Ach so, Rebecca Atherton, die Newsie, die er mir nach der üblen Sache in Eakly geklaut hatte. Ich setzte die Sonnenbrille auf und öffnete die Augen. Einen Moment lang orientierte ich mich, dann setzte ich mich auf. Es dauerte ein bisschen, bis ich wieder scharf sehen konnte. Shaun legte mir eine Hand aufs Knie, um mir Halt zu geben, und ich legte meine darüber und blickte zum entfernten Schein der Computermonitore an der gegenüberliegenden Wand. Ich sah einen verschwommenen Fleck Dunkelheit, der sich vom Grün abhob, nickte ihm zu und sagte: »Hi Rick.«
»Hi Georgia«, antwortete der Fleck. »Geht’s dir besser?«
»Ich bin halb blind, und ich habe das Gefühl, als hätte mir ein Möwenschwarm in den Kopf geschissen, aber es tut nicht weh, also werd ich’s wohl überleben.« Ich drückte Shauns Hand. »Wie war die Veranstaltung mit den Töchtern?«
»Langweilig.«
»Gut. Immerhin eine Sache, bei der man sich darauf verlassen kann, dass sie öde bleibt.« Langsam begannen meine Augen wieder zu funktionieren. Der Fleck hatte jetzt einen Kopf. »Beabsichtigst du zu bleiben, oder müssen wir deine Stelle auch neu ausschreiben?«
Rick überlegte. »Shaun meinte, dass ihr das schon besprochen hättet.«
»Wir beide, ja. Wir drei? Wohl nicht.« Ich zuckte mit den Schultern. »Ich dachte mir, dass du da auch ein Wörtchen mitreden solltest. Möchtest du bleiben? Ich fürchte, unsere Überlebensquote sieht nicht so gut aus. Eins zu vier ist echt übel.«
»Ich lasse es lieber bei euch drauf ankommen als bei irgendwem sonst, der mir einfällt, wenn es euch recht ist.«
Ich hob die Brauen so weit, dass sie über die Gläser meiner Sonnenbrille schauten. »Ach? Und was für eine Logik ist das?«
»Ich weiß, dass ich dich und deinen Bruder noch nicht lange kenne und dass ihr kaum Gründe habt, mir zu vertrauen, und das, was ich gleich sage, macht es wahrscheinlich nicht besser. Aber ich war jahrelang mit Buffy befreundet. Sie war ein guter Mensch, und sie wollte nie irgendjemandem wehtun, aber wenn ich nicht lange genug in diesem Team bleibe, um dafür zu sorgen, dass ihr das im Kopf behaltet, dann wird man sie nicht als großartige Schriftstellerin oder als gute Freundin in Erinnerung behalten, wenn die Sache schließlich rauskommt, sondern als die Person, die für das Eakly-Massaker verantwortlich ist und als Erfüllungsgehilfin bei der Ermordung von Rebecca Ryman. Dann kann sie nur noch darauf hoffen, als ›Verräterin‹ bezeichnet zu werden. Und das lasse ich nicht zu.« Aus seinem Tonfall hörte man heraus, wie er das Gesicht verzog. »Ich bleibe, weil ich es muss. Ihr könnt versuchen, mich zum Gehen zu zwingen, wenn ihr wollt, aber das wäre für uns alle nicht besonders spaßig.«
»Das würde mir nicht im Traum einfallen.« Ich drückte Shauns Hand ein letztes Mal, stand auf und ging an meinen Computer. Aus der Nähe sah das Bild ein wenig verschwommen aus, aber damit kam ich klar. »Wenn du so gerne bleiben möchtest, bleibst du. Wir sind froh, dich dabeizuhaben.« Mein Monitor blinkte mich an und wartete auf das Passwort. Ich gab es ein. Shaun konnte für mich ins Netz gehen, aber das hieß nicht, dass er an meine Dateien rankonnte. Während ich anfing zu tippen, fragte ich: »Wie ist unser allgemeiner Status?«
»Buffys Tod ist innerhalb von fünf Minuten in den Nachrichten gewesen«, sagte Shaun, der sich wieder an sein eigenes Gerät setzte. »Aber das ist noch nicht mal das Komische.« Er machte eine bedeutungsschwangere Pause, für die ich ihn finster anstarrte. Er ist gut darin, finstere Blicke zu erkennen, selbst durch getönte Brillengläser. »Willst du wissen, was das Komische ist?«
»Ja, Shaun«, sagte ich. »Ich habe zehn Stunden geschlafen, und ich will wissen, was das Komische ist.«
»Na schön. Das Komische ist: Unser Tod ist zur gleichen Zeit in den Nachrichten gewesen.«
Ich riss die Augen auf. »Wie bitte?«
»Man hat uns alle als tot vermeldet«, sagte Shaun. »Die Hälfte aller Nachrichtenwebsites hat die Story gebracht, bevor jemand Zeit zum Widersprechen hatte, und die Hälfte davon führt dich immer noch als verstorben.«
Ich schaute zu Rick, der nickte.
»Wer auch immer beim Seuchenschutz angerufen hat, hat das ›versehentlich‹ auf einer Frequenz getan, die von mehreren örtlichen Nachrichtenwebsites auf der Suche nach Klatsch und Tratsch überwacht wird«, sagte er. »Man hat uns alle als tot geführt, noch bevor wir in Memphis waren. Als Shaun einen Beitrag gepostet hat, in dem er sich über den Kaffee der Seuchenschutzbehörde beschwerte, wurde die Meldung über ihn zurückgezogen, und etwa die Hälfte der Websites hat das Gleiche mit meiner Todesanzeige gemacht, als ich über die Töchter geschrieben habe.« Er lächelte schief. »Ich bin nicht interessant genug, damit sich Nachrichten über mich so schnell verbreiten wie welche über die Masons.«
»Und ich?«, fragte ich, zu verärgert, um an mich zu halten.
»Immer noch tot«, sagte Rick. »Es sind ein paar tolle Verschwörungstheorien im Umlauf darüber, dass Shaun und ich deinen Tod verheimlichen würden, bis wir beweisen können, dass du nichts getan hast, was deine Lizenz dir nicht gestattet hätte.«
»Womit meine Lebensversicherung verfallen würde.« Ich schlug mir eine Hand vors Gesicht. »Noch irgendwelche anderen guten Nachrichten?«
»Nur Buffy hat es an die Mauer geschafft«, sagte Shaun. »Sie ist die Einzige, deren Tod in der öffentlichen Datenbank der Seuchenschutzbehörde auftaucht.«
Ich verkniff mir ein Stöhnen. »Wie viele Leute glauben, dass wir unseren Tod vorgetäuscht hätten, um die Quoten hochzutreiben?«
»Viele.« Shauns Tonfall war grimmig. »Und das hätte auch gut funktioniert, wenn wir das wirklich versucht hätten. Wir haben weitere drei Punkte Marktanteil gewonnen, während die Leute auf die hässlichen Einzelheiten gewartet haben.«
»Und, sind hässliche Einzelheiten aufgetaucht?«
»Über uns? Nein. Über Buffy? Ja. Überall. Jemand ist in unseren Kamera-Upload eingedrungen und …«
»Ich kann’s mir vorstellen. Heute Abend stelle ich unsere offizielle Meldung dazu ins Netz, damit die verdammten Gerüchte über eine Ente verstummen und die Leute wissen, dass ich noch atme. Buffy verdient Besseres, als dass ihr Tod mit einem Publicity-Stunt in Verbindung gebracht wird, den es gar nicht gegeben hat.«
»Wie offiziell wird diese offizielle Meldung sein?«, fragte Rick.
»Du meinst, ob ich den Anruf bei der Behörde erwähnen werde?«, fragte ich. Er nickte, und ich erwiderte sein Nicken. »Ja, das werde ich.«
»Ist das …?«
»Klug? Sicher? Eine gute Idee? Die Antwort auf alle drei Fragen lautet Nein, aber ich mache es trotzdem.« Ich öffnete meinen Posteingang und durchsuchte die Absender nach Mahirs Namen. »Jemand, dem es auf Geheimhaltung ankommt, will uns aus dem Weg räumen. Also scheiß drauf. Wir versauen ihnen die Geheimhaltung.«
»Und wenn sie zu schießen anfangen?«
»Wer sagt, dass sie damit aufgehört haben?« Selbst durch Buffys wirklich gute Filter kam immer noch eine beeindruckende Menge Spam durch. Ich fing an, Nachrichten zu löschen. »Dabei fällt mir ein: Wir müssen jemand Neuen einstellen, der das Fiktions-Ressort leitet.«
Rick warf mir einen durchdringenden Blick zu. »Geht das nicht ein bisschen plötzlich? Buffy ist gerade erst gestorben.«
»Buffys Tod war plötzlich. Das hier ist notwendig. Die Fiktiven sind anders als die Newsies und die Irwins. Sie arbeiten nicht einfach deshalb weiter, weil sie nicht stillhalten können. Man muss sich um sie kümmern, sonst hat man es mit einer Million laufender Projekte zu tun, ohne dass wirklich etwas läuft. Wenn wir keine bösen Leserbriefe mit Anfragen kriegen wollen, was denn nun mit der nächsten Folge einer fünfzigteiligen Romanze ist, brauchen wir einen neuen Ressortleiter.«
Shaun blinzelte. »Hat Buffy niemanden benannt?«
»Buffy hat sich für unsterblich gehalten. Sprich mit Magdalene. Wenn sie es nicht macht, dann kann sie uns wahrscheinlich jemanden vorschlagen.« Mit einem Mal war ich wieder müde. Ich ließ den Computer automatisch Spam aussortieren, klickte das Fenster weg und öffnete das Testamentsverzeichnis. Der Ordner enthielt aktuelle Kopien der Testamente aller Personen, die derzeit für Nach dem Jüngsten Tag arbeiteten, einschließlich Einzelheiten zur Verteilung der Rechte an ihrem geistigen Eigentum. Ordnungsgemäße und bezeugte Testamente sind für alle Berufe vorgesehen, in denen der normale Betrieb einen in Kontakt mit bundesstaatlich festgelegten Gefahrenzonen, den Infizierten – oder Journalisten bringt. Letztere sind laut geltendem amerikanischen Recht ebenso gefährlich wie Zombies. Den im Verzeichnis angegebenen Daten zufolge war Buffys Testament nicht aktualisiert worden, seit wir Kalifornien verlassen hatten.
Ich gab mein Passwort ein, um die Datei zu öffnen. Sowohl Shaun als auch ich hatten das Recht, auf alle Daten auf unseren Servern zuzugreifen, für den Fall, dass Situationen wie diese eintraten. Das Dokument öffnete sich. Es handelte sich um eine schreibgeschützte Version des Originaldokuments, das laut der Angaben im Briefkopf beim Familienanwalt der Meissoniers in Berkeley lag. Für unsere Zwecke reichte es absolut aus.
Shaun rutschte aus seinem Stuhl, trat hinter mich und legte mir eine Hand auf die Schulter. Buffy hinterließ den Großteil ihrer persönlichen Habe ihrer Familie, ihre schriftstellerischen Werke und ihren literarischen Nachlass unserer Website und ihre nichtfiktiven Werke – also ihre persönlichen Dateien – Shaun und mir. Wir durften so mit ihren Daten verfahren, wie wir es für angemessen hielten. Von einem Nachfolger stand nichts in dem Testament, aber das spielte keine Rolle, weil der letzte Reiter mir alles sagte, was wir wissen mussten.
»Zum Teufel noch mal«, brummte ich. »Sie wusste, dass diese Sache sie das Leben kosten würde. Und sie wusste, dass sie falsch handelt, selbst wenn sie es sich nicht eingestehen wollte. Sie wusste es.«
»Woher willst du das wissen?«, fragte Rick.
Shaun antwortete für mich. »Sie hat uns ihre persönlichen Dateien hinterlassen. Warum sollte sie das tun, wenn sie nicht gewusst hat, dass wir etwas daraus brauchen würden? Vielleicht hat sie das Gefühl gehabt, diese Sache tun zu müssen, aber anscheinend konnte sie sich nicht selbst einreden, das Richtige zu tun. George …«
»Rick, du musst uns jemand Neuen für die Fiktiven suchen.« Ich klickte auf Drucken und schloss die Datei. »Fürs Erste ist das deine Mission. Das und der Artikel über die Töchter. Shaun, ich werde einen Bericht über das Geschehene schreiben müssen, aber …«
»Aber zum größten Teil ist das Irwin-Material. Kapiert.« Shaun drückte meine Schulter und wandte sich dann wieder seinem eigenen Gerät zu. »Was ist mit Buffys Dateien? Dem Server, den sie uns genannt hat?«
»Ich hätte wirklich gerne das Videomaterial von Mahir. Ich hatte gehofft, dass wir das zuerst erledigen können. Aber ja, die Dateien. Ich mache mich gleich daran.«
»George …«
»Sei einfach still, während ich mich darum kümmere.« Die Worte kamen unwirscher heraus, als ich beabsichtigt hatte. Ich setzte mich hin und fing an zu tippen.
Nach dem Jüngsten Tag hat zwei Datenserver für seine Mitarbeiter. Einer ist der sogenannte öffentliche Server, auf den alle unsere Blogger Daten hoch- und runterladen können, sowie alle Blogger, die mit unserer Seite verbandelt sind. Wenn jemand in irgendeiner Weise für uns arbeitet, eröffnen wir ein Benutzerkonto für ihn. Solche Konten werden nur in seltenen Fällen gesperrt, es sei denn, jemand missbraucht sie ernsthaft. Alles andere wäre unsinnig, insbesondere, da wir dazu neigen, immer wieder auf die gleichen Freiberufler zurückzugreifen. Warum sollten wir es uns mit jemandem verscherzen, nur um den Server auszumisten? Wichtiger noch, warum sollten wir Zeit darauf verschwenden, immer wieder für die gleichen Leute Konten einzurichten? Wenn wir erst mal etwas größer sind – vorausgesetzt, wir überleben so lange –, werden wir dieses Vorgehen überdenken müssen, aber bislang sind wir gut damit gefahren.
Der Privatserver ist sehr viel besser gesichert. Derzeit gibt es sieben Personen, die über ihre Benutzerkonten auf ihn zugreifen können, und eine davon ist tot. Ich, Mahir und Rick von den Newsies; Buffy und Magdalene von den Fiktiven; Shaun und Becks von den Irwins. Dort bewahren wir alles Wichtige auf, von privaten Finanzunterlagen bis zu Berichten über die Wahlkampagne, bei denen wir noch nicht alle Fakten geprüft haben. Dieser Server ist so gut wie nur möglich vor Hackerangriffen geschützt, denn eine einzige ungeprüfte Nachricht, die unter meinem Namen veröffentlicht wird, würde genügen, um den Nachrichtenbereich unserer Seite ernsthaft zu schädigen oder ihn gar für immer zu erledigen.
Das Nachrichtengeschäft ist eine ernsthafte Angelegenheit. Wenn man sich nicht dementsprechend verhalten will, dann hat man dort nichts verloren.
Ich öffnete ein FTP-Fenster und gab die Adresse unseres Sicherheitsservers ein. Als der Computer einen Benutzernamen und ein Passwort verlangte, gab ich stimmendersee und das Passwort Februar-4–29 ein. Shaun und Rick verließen ihre Arbeitsplätze und stellten sich hinter mich. Der Monitor flackerte zunächst einige Male, dann öffnete sich ein Player und eine Videoaufnahme wurde abgespielt. Ich drückte auf Escape, aber das Programm blieb geöffnet, also lehnte ich mich zurück und ließ mich von der Anwesenheit meines Teams trösten. Es war ziemlich geschrumpft, doch immerhin das war uns geblieben.
Auf dem Schirm erschien das geliebte Gesicht von Buffy Meissonier. Sie hatte einen zerfledderten Faltenrock an und saß im Schneidersitz auf der Arbeitsfläche in unserem Sendewagen. Ich wusste, wann sie diese Kleider getragen hatte: Einen Tag vor unserem Aufbruch aus Oklahoma City, als wir gerade kaum miteinander gesprochen hatten. Sie hatte gewollt, dass wir aufgeben. Hinterher ist man angeblich immer schlauer. Tja, jetzt war es ein bisschen zu spät, aber immerhin wusste ich nun, warum sie so darauf gedrängt hatte, dass wir alle nach Hause zurückkehren. Auf ihre verquere Art hatte sie versucht, uns das Leben zu retten.
Buffy schaute lächelnd in die Kamera. »He«, sagte sie. Ihr Tonfall und ihre Miene zeichneten zusammen das Bild einer Frau, die über die Maßen erschöpft war, innerlich zerrissen und ohne Hoffnung auf Rettung. »Wahrscheinlich schaut ihr euch das jetzt an. Schrödingers Videoaufzeichnung – wenn ihr sie sehen könnt, könnt ihr mir nicht mehr sagen, wie die Bildqualität ist. Ist das nicht immer so? Mein Meisterwerk, und ich werde niemals sehen, wie die Leute es aufnehmen. Immerhin heißt das auch, dass ich nicht mit den Kritiken leben muss. Aber ich sollte lieber zur Sache kommen, denn wenn ihr das hier seht, habt ihr sicher keine Zeit zu vertrödeln.
Ich heiße Georgette Marie Meissonier, Lizenznummer delta-bravo-echo-acht-vier-eins-zwei-null-sieben. Ich bin geistig und körperlich voll zurechnungsfähig, und ich möchte mit dieser Aufzeichnung darüber aussagen, dass ich willentlich und wissentlich an einer Betrugskampagne mitgewirkt habe, die sich gegen die gesamte amerikanische Öffentlichkeit und in erster Linie gegen meine Geschäftspartner Shaun Phillip Mason und Georgia Carolyn Mason richtet. Als Teil dieser Kampagne habe ich Nachrichtenreportagen und private Daten an Dritte übermittelt, in dem Wissen, dass diese die Informationen verwenden würden, um den Präsidentschaftswahlkampf von Senator Peter Ryman zu untergraben. Ich habe Aufzeichnungsgeräte in Privaträumen platziert, in dem Wissen, dass diese Aufzeichnungen ebenfalls zur Unterminierung des Wahlkampfs verwendet werden würden.«
Buffy holte tief Luft. Mit einem Mal sah sie unter ihrem erschöpften Äußeren sehr jung aus. »Ich wusste es nicht. Ich wusste, dass ich das Falsche tat und dass ich nie wieder im Nachrichtengeschäft arbeiten würde, aber ich wusste nicht, dass jemand verletzt werden würde. Das wusste ich erst nach der Sache mit der Ranch, und zu dem Zeitpunkt steckte ich schon zu tief drin, um einen Ausweg zu finden. Es tut mir leid. Das bringt die Toten nicht zurück, aber es ist die Wahrheit, weil ich wirklich nicht wollte, dass jemand verletzt wird. Ich dachte, dass ich das Richtige tue. Ich dachte, wir würden wieder eine stärkere Nation werden, wenn alles vorbei wäre, und dass ich dann dazu beigetragen hätte.« Eine Träne rann aus ihrem linken Auge und über ihre Wange. Das wäre mir übertrieben theatralisch erschienen, wenn ich Buffy nicht so gut gekannt hätte – so, wie ich sie kannte, erschien es mir nicht theatralisch genug. Sie weinte wirklich. »Ich sehe sie in meinen Träumen. Wenn ich die Augen zumache, sind sie alle da. Alle, die in Eakly gestorben sind. Alle, die auf der Ranch gestorben sind. Es war meine Schuld, und ich habe solche Angst, dass wir diesen Auftrag gekriegt haben, weil jemand, der an den Zahlen drehen konnte, wusste, dass ich für den richtigen Preis käuflich bin. Es tut mir so leid. Ich wollte das nicht. Ich wollte nichts von alledem.
Wenn ich wüsste, an wen ich mich verkauft habe, würde ich es euch sagen, aber ich weiß es nicht. Ich habe mir alle Mühe gegeben, es nicht herauszufinden. Denn wenn ich es gewusst hätte … ich glaube, dann wäre mir klar geworden, dass es falsch war.« Buffy schaute zur Seite und rieb sich die Augen. »Ich bin da zu tief reingeraten. Ich hab es nicht wieder rausgeschafft. Und ihr lasst uns nicht nach Hause gehen. Georgia, warum können wir nicht nach Hause gehen?« Sie wandte sich wieder der Kamera zu. In ihren Augen standen Tränen. »Ich will nicht sterben. Ich will nicht, dass ihr das hier anschaut. Können wir nicht einfach nach Hause?«
»Himmel, Buffy, es tut mir so leid«, flüsterte ich. Meine Worte verloren sich in der Stille nach Buffys Plädoyer wie Steine in einem Wunschbrunnen und zeigten ebenso wenig Wirkung.
Auf dem Bildschirm holte Buffy tief Luft, verharrte einen Moment lang reglos und atmete dann langsam aus. »Ihr werdet das hier zu sehen kriegen«, sagte sie, und ihre Lippen verzogen sich zu einem kleinen, verbitterten Lächeln. »Ihr müsst es sehen. Sonst erfahrt ihr nie die Wahrheit. Indem ihr diese Datei aufgerufen habt, habt ihr zugleich ein Video an meine Eltern geschickt, in dem ich ihnen sage, wie leid es mir tut und wie sehr ich meine Arbeit geliebt habe. Wenn die Datei sich schließt, könnt ihr auf mein Privatverzeichnis zugreifen, einschließlich einer Datei mit dem Namen ›Geständnis‹. Diese Datei ist gesperrt und hat einen Zeitstempel. Wenn ihr sie nicht öffnet, dann ist sie vor Gericht beweiskräftig. Ich habe nicht alles den Servern anvertraut. Derzeit weiß ich wohl besser als irgendjemand sonst, wie gefährlich es ist, Menschen zu vertrauen. Ihr besitzt etwas von mir, was niemand sonst hat. Schaut dort nach. Ihr werdet alles finden, was ich habe, einschließlich der Zugriffscodes für die ganzen Abhörgeräte. Viel Glück. Rächt mich, wenn ihr könnt. Und es tut mir leid.«
Buffy hielt inne und fügte dann, diesmal mit einem echten Lächeln, hinzu: »All das – hier zu sein, bei euch zu sein, diesen Wahlkampf zu begleiten – ist wirklich das, was ich mir gewünscht habe. Vielleicht nicht alles, aber ich bin froh, dass ich mitgekommen bin. Also danke. Und viel Glück.« Das Bild erlosch.
Wir drei starrten mehrere Minuten lang schweigend auf den Monitor. Ein Schniefen links hinter mir verriet mir, dass Rick weinte. Nicht zum ersten Mal verdammte ich Kellis-Amberlee dafür, dass es mir diesen einfachen menschlichen Trost genommen hatte.
»Was meint sie damit, dass wir etwas von ihr besitzen, was niemand sonst hat?«, fragte Shaun und legte mir die Hand auf die rechte Schulter. »All ihr Gepäck war im Truck.«
»Aber wir haben ihren Laptop«, sagte ich. Ich stieß mich vom Tisch ab, stand auf und drehte mich zu den anderen um. »Hol mir einen Werkzeugkasten und ihren Computer.«
Man klaut niemals einem anderen Reporter die Schlagzeile. Man nimmt einem anderen Reporter niemals sein letztes bisschen Munition weg. Man macht sich nie am Computer eines anderen Reporters zu schaffen. Das sind die Regeln, es sei denn, man arbeitet für eines der Revolverblätter, bei denen es statt »niemals« »immer« heißt. Aber sobald man tot ist, ist man nur noch ein Stück Fleisch, und dann gelten keine Regeln mehr. Das musste ich mir immer wieder sagen, als ich die Bodenabdeckung von Buffys Laptop abschraubte. Shaun und Rick standen neben mir und schauten zu. Wir hatten das Gerät bereits gescannt und nichts entdeckt – buchstäblich nichts. Irgendwann hatte sie die Festplatten gelöscht, wahrscheinlich kurz bevor wir die Fahrt angetreten haben, die sie das Leben gekostet hat. In Sachen Verfolgungswahn war Buffy Weltklasse gewesen. Dazu hatte sie nach Eakly auch allen Grund gehabt.
Es war fast schon enttäuschend simpel, als dann die Bodenplatte des Laptops sich löste, ein Klebeband riss, das an dem Akkugehäuse hing und mir ein Datenstick in die Hand fiel. Ich hielt ihn hoch, um ihn den anderen zu zeigen. »Es wird spannend«, sagte ich. »Shaun, Becks war mal eine Newsie. Wie gut kann sie mit Computern umgehen?«
»Nicht so gut wie Buffy …«
»Niemand ist so gut wie Buffy.«
»Aber sie ist gut.«
»Gut genug?«
»Es gibt nur einen Weg, das herauszufinden.« Er streckte die Hand aus. Ich gab ihm, ohne zu zögern, den Datenstick. Wenn ich Shaun nicht mehr trauen konnte, war alles vorbei. So einfach war das.
»Hol sie ans Netz und lass sie die Daten hier durchgehen. Buffy meinte, dass Zeitstempel und IPs dabei sind. Wir müssen herausfinden, was sich damit machen lässt.« Ich stand auf. »Rick, setz dich wieder an deinen Bericht.«
»Was hast du vor?«
»Mahir aufscheuchen.« Ich setzte mich wieder an meinen Computer. Der Stuhl war noch warm. Es war gar nicht viel Zeit vergangen, obwohl es mir so vorgekommen war. »Koste es, was es wolle. Wir brauchen eine Kopie vom Inhalt dieser CD an einem anderen Ort, und London dürfte da wohl geeignet sein.«
»Georgia?« Ricks Stimme klang sanft. Ich warf ihm einen Blick zu. Er war nicht an seinen eigenen Computer zurückgekehrt, sondern stand einfach nur da und schaute mich an.
»Was ist?«
»Werden wir das hier überleben?«
»Wahrscheinlich nicht. Willst du aussteigen?«
»Nein.« Er schüttelte den Kopf. »Ich wollte nur wissen, ob dir das klar ist.«
»Das ist es. Und jetzt an die Arbeit.«
Rick und Shaun nickten beide und setzten sich dann in Bewegung.
Zwar war Mahir anscheinend nicht da oder schlief – oder, Gott behüte, diese Sache war sogar noch schlimmer als gedacht, und er war bereits tot –, sein Computer tauchte aber nach wie vor im Netzwerk auf. Ich tippte seine Adresse und meinen Prioritätscode ein, womit ich einen personalisierten Kreischer aktivierte. Sobald er irgendetwas online machte, würde er laute, penetrante Pieptöne zu hören kriegen, die eine sofortige Kontaktaufnahme verlangten. Im Allgemeinen gilt es als extrem unhöflich, Kreischer zu verwenden, wenn es sich nicht um einen Notfall handelte. Meiner Meinung nach zählte das hier als Notfall.
Nachdem ich somit alles getan hatte, was ich vernünftigerweise tun konnte, um meinen Stellvertreter aufzutreiben, senkte ich den Kopf, legte die Finger auf die Tasten und machte mich an die Arbeit.
Es hat etwas zutiefst Beruhigendes, einen Bericht über konkrete Ereignisse zu schreiben. Man hat alle Informationen, die man braucht, und muss sie nur noch glätten und in einen Sinnzusammenhang bringen. Man nimmt die Fakten, die Gesichter, die Facetten der Wahrheit, poliert sie auf Hochglanz und bringt sie zur Erbauung der Leser zu Papier – oder, in meinem Falle, auf den Monitor. Jede Seite von meinen Texten wird sofort auf die Website übertragen und bei jedem Hochladen wird meine Lizenz bestätigt. Wenn irgendjemand dies für ein Täuschungsmanöver hielt, um meinen Tod zu vertuschen, konnte er die Seite beim Lizenzierungskomitee wegen Missbrauchs meiner Nummer melden, womit den Gerüchten schneller ein Riegel vorgeschoben werden würde, als ich es aktiv selbst hätte tun können. Und außerdem würde es eine gute Schlagzeile liefern.
Die E-Mails trafen ein, sobald ich die erste Seite hochgeladen hatte. Die meisten waren positiv, beglückwünschten mich zu meinem Überleben und versicherten mir, dass meine Leser die ganze Zeit gewusst hätten, dass ich es schaffen würde. Einige waren nicht so freundlich, einschließlich einer, die ich markierte, um sie später in einem Kommentar zu verwenden. Darin hieß es, dass Shaun und ich den Tod verdient hätten, weil Sünder wie wir uns auf der gleichen ethischen Stufe wie die lebenden Toten befanden. Dieser Brief würde bestens zu der Enthüllung passen, auf welche Weise man Buffy gekauft hatte.
Ich hatte soeben Seite sechs hochgeladen, als Shaun rief: »Becks sagt, dass sie in diesem Moment die IPs abgleicht. Anscheinend sind die meisten verschlüsselt.«
»Soll heißen?«
»Soll heißen, dass sie sie nicht zurückverfolgen kann.«
Verdammt. »Was ist mit den Zeitstempeln?«
»Sie beweisen, dass es niemand von uns war und auch nicht der Senator, aber abgesehen davon bringen sie uns nicht viel. Wenn man nur nach den Zeiten geht, könnte es sogar Mrs Ryman gewesen sein.«
Verdammt und verdammt noch mal. »Hast du irgendwelche guten Nachrichten für mich?«
Shaun blickte grinsend von seinem Monitor auf. »Wie wäre es mit Zugriffscodes für Buffys gesammelte Wanzen?«
»Klingt nach einer guten Nachricht«, sagte ich. Ich hätte auch noch mehr gesagt, doch mein Computer piepte und signalisierte mir blinkend, dass eine wichtige Nachricht am unteren Bildschirmrand aufgetaucht war. Ich klickte auf die Taskleiste.
Mahirs Gesicht erschien in einem Videofenster. Sein Haar war ungekämmt und sein Blick wild. »Was ist los? Was gibt es?«
»Du bist nicht ans Telefon gegangen«, sagte ich und schämte mich, noch während die Worte meinen Mund verließen. Er war am anderen Ende der Welt. Diese Situation konnte ihm unmöglich ebenso dringlich erscheinen.
»Die hiesigen Fiktiven haben eine Totenwache und eine Lesung zu Buffys Ehren abgehalten.« Er wischte sich das Haar aus dem Gesicht. »Ich war da, um darüber zu berichten, und ich fürchte, ich habe ein bisschen viel getrunken.« Jetzt klang er betreten. »Ich bin eingeschlafen, sobald ich zu Hause war.«
»Das erklärt, wie du den Kreischer verschlafen hast«, sagte ich. Ich drehte mich in meinem Stuhl herum und fragte: »Shaun, haben wir hier eine Kopie der Dateien?«
»Im lokalen Gruppenverzeichnis«, bestätigte er.
»Gut.« Ich wandte mich wieder meinem Computer zu. »Mahir, ich lade ein paar Dateien in dein Verzeichnis. Ich möchte, dass du sie bei dir speicherst. Mach mindestens zwei physische Kopien. Ich empfehle dir, sie anderswo aufzubewahren.«
»Soll ich sie auch noch vom Server löschen, wenn ich sie gelesen habe?«
Sein Tonfall war locker. Offenbar wollte er einen Witz machen. Ich war allerdings derzeit kein bisschen locker drauf. »Ja. Das wäre eine gute Idee. Wenn du deine restlichen Daten lange genug von der Festplatte ziehen kannst, um deinen Sektor neu zu formatieren, wäre das auch nicht dumm.«
»Georgia …« Er zögerte. »Gibt es etwas, das ich wissen sollte?«
Ich verkniff mir ein Lachen. Buffy war tot. Uns hatte man dem Seuchenschutz als tot gemeldet. Jemand hatte versucht, mit unserer Hilfe die Regierung der Vereinigten Staaten zu unterwandern. Es ging eine ganze Menge vor, wovon er hätte wissen sollen. »Bitte«, sagte ich, »lade die Dateien runter, lies sie und sag mir dann deine ehrliche Meinung.«
»Du willst meine ehrliche Meinung?« Seine Miene nahm einen Ausdruck unverhohlener Sorge an. »Verschwinde aus diesem Land, Georgia. Komm her, bevor etwas passiert, wovon du dich nicht wieder erholst.«
»England würde mich nicht aufnehmen.«
»Wir finden einen Weg.«
»So unterhaltsam das politische Exil auch sein mag, Shaun würde durchdrehen, wenn ich versuchen würde, ihn zum Umziehen zu zwingen, und ohne ihn gehe ich nicht.« Aus einem Impuls heraus nahm ich die Sonnenbrille ab und lächelte Mahir an. »Tut mir leid, dass wir uns vielleicht niemals persönlich kennenlernen werden.«
Mahir wirkte erschreckt. »Red nicht so.«
»Lies einfach die Dateien. Hinterher kannst du mir sagen, wie ich reden soll.«
»In Ordnung«, sagte er. »Pass auf dich auf.«
»Ich versuch’s.« Ich begann mit der Datenübertragung, sein Bild verschwand und wurde von einem Ladebalken ersetzt.
»Georgia?«
Shauns Stimme und der falsche Name. Ich drehte mich zu ihm um, und ein kalter Knoten bildete sich in meiner Magengrube, als mir klar wurde, dass er mich nicht George genannt hatte. »Was ist?«
»Becks hat eine der Wanzen online.«
»Und?«
»Und ich glaube, du solltest das hören.« Er zog seine Kopfhörer aus den Lautsprecherboxen.
Sofort war das Knacken und Rauschen einer Liveübertragung im Zimmer zu hören, das in der plötzlichen Stille umso lauter klang. Selbst Lois, die neben Ricks Monitor kauerte, war mucksmäuschenstill. Sie hatte die Ohren an den Kopf gelegt und die Augen weit aufgerissen.
»… verstanden?« Tates Stimme klang übertrieben laut, verstärkt von den internen Mikrofonen der Wanze und von Shauns Boxen. »Wir lösen dieses Problem, und zwar jetzt, bevor es noch schlimmer wird.«
Eine weitere, unverständliche Stimme erklang. Shaun bemerkte meinen Blick und nickte. Er würde sie von Becks filtern lassen, sobald wir alles gehört hatten. Vielleicht kriegte sie den Ton sauber genug, damit wir erkennen konnten, wer da sprach. Mehr würde sich kaum machen lassen.
»Und ich sage Ihnen, sie kommen uns zu nah. Jetzt, wo diese Meissonier weg ist, können wir sie nicht mehr steuern. Wer weiß, wie viele von ihren verdammten Wanzen sie in den Büros platziert hat. Ich habe Ihnen doch gesagt, dass wir keiner Spionin trauen dürfen.«
Ich hielt den Atem an, und Rick fing an, leise zu fluchen. Nur Shaun war absolut still und hielt die Lippen fest zusammengepresst. Ohne zu wissen, dass er belauscht wurde, fuhr Tate fort: »Ich bin im mobilen Büro ihres kleinen Freunds. Wenn es einen Ort gibt, den sie nicht verwanzt hat, dann den, an dem sie ihre eigenen Sünden begangen hat.«
»Er hat sie nicht besonders gut gekannt«, sagte Rick mit verbitterter, abwesender Stimme.
»Wir auch nicht«, antwortete Shaun.
»Es ist mir egal, wie Sie den Rest abservieren«, bellte Tate. »Kümmern Sie sich darum. Wenn der Seuchenschutz sie nicht erledigen konnte, finden wir eben einen anderen Weg. Verstanden? Kümmern Sie sich darum!« Ein Krachen erklang, als ob jemand einen Hörer grob auf die Gabel knallte, gefolgt vom Geräusch von Schritten. Das Zischen war noch ein paar Sekunden lang zu hören und riss dann so abrupt ab, wie es begonnen hatte.
»Die nehmen nur auf und speichern, wenn Ton empfangen wird«, sagte Shaun überflüssigerweise. Wir wussten alle, wie Buffys Speicherwanzen funktionierten. Man versteckte sie irgendwo, damit sie alles, was sie hörten, aufzeichneten. Wenn es um sie herum still war, verfielen sie in einen Ruhezustand, um ihre Batterien zu schonen. Anscheinend hatte sie die Aufnahmen ihrer eigenen Wanzen nicht angehört, sondern sie nur gespeichert und gesendet, in der heiteren Gewissheit, dass sie auf der richtigen Seite stand.
»Tate«, knurrte Rick. »Dieser Dreckskerl.«
»Tate«, sagte ich. Mir brannten die Augen. Ich schob meine Sonnenbrille wieder runter und schaute von einem zum andern. »Wir müssen uns mit dem Senator treffen.«
»Können wir uns darauf verlassen, dass er nicht in der Sache mit drinsteckt?«, fragte Shaun.
Ich zögerte. »Wie gut ist Becks?«
»Nicht so gut.«
»Na schön.« Ich wandte mich wieder meinem Monitor zu. »Kreischer für alle. Ich will das ganze Team online. Es ist mir egal, wo sie sind, ich will sie hierhaben.«
»Georgia …?«, fragte Rick unsicher.
Ich schüttelte den Kopf, während ich zu tippen begann. »Sei still, setz dich und mach dich an die Arbeit. Wir haben zu tun.«
In jedem Leben kommt einmal der Moment, in dem man am Scheideweg steht und einem klar wird, dass die nächste Entscheidung auf alles, was man noch tun wird, einen Einfluss haben wird und die Wahlmöglichkeiten in Zukunft vielleicht sehr eingeschränkt sein werden, wenn man sich in diesem Moment falsch entscheidet. Und manchmal ist die falsche Entscheidung die einzige, bei der man sich am Ende noch selbst im Spiegel ansehen kann.
Es ist nicht einfach, solche Momente überhaupt zu erkennen. War es in meinem Leben der Tag, an dem ich beschlossen habe, Reporterin zu werden? Der Tag, an dem mein Bruder und ich uns bei einer Jobmesse eingeloggt und ein Mädchen kennengelernt haben, das sich »Buffy« nannte? Der Tag, an dem wir beschlossen, uns für den Traumjob als Hausblogger der Ryman-Wahlkampagne zu bewerben?
Oder war es der Tag, an dem uns klar wurde, dass wir soeben vielleicht die letzte Tat unseres Lebens vollbrachten … und beschlossen, dass es uns egal war?
Mein Name ist Georgia Mason. Mein Bruder nennt mich George.
Und ich stehe an der Wegscheide.
Aus Unschöne Bilder, dem Blog von
Georgia Mason,
8. April 2040