15
Wie sich zeigte, kann man sich ganz einfach die volle und sofortige Aufmerksamkeit sowohl der Armee als auch des Geheimdienstes sichern, indem man einen Senator der Vereinigten Staaten aus einer Seuchenzone heraus anruft und ihm mitteilt, dass man eine lebende Katze und eine Spritze mit etwas gefunden hat, das nach einer kleinen, aber todbringenden Menge aktiver Kellis-Amberlee-Viren aussieht. Ich wusste bereits, dass Funk- und Handyübertragungen aus Quarantänezonen überwacht werden, aber so deutlich ist mir dieser Umstand noch nie vor Augen geführt worden. Das Wort »intakte Spritze« hatte kaum meinen Mund verlassen, da waren wir schon von Männern mit grimmigen Mienen und großen Knarren umstellt.
»Filmt weiter«, zischte ich Rick und Shaun zu. Sie antworteten beide mit einem angedeuteten Nicken, standen aber ansonsten ebenso regungslos wie ich da und starrten die vielen, vielen Waffen um uns herum an.
»Legen Sie die Spritze und alle Waffen, die Sie dabeihaben, auf den Boden und nehmen Sie die Hände über den Kopf«, donnerte eine teilnahmslose, vom Lautsprecherknacken verzerrte Stimme.
Shaun und ich wechselten Blicke.
»Äh, wir sind Journalisten«, rief Shaun. »Mit einer A-15-Lizenz, die uns das Tragen verdeckter Waffen gestattet. Wir haben Senator Rymans Wahlkampf begleitet. Deshalb haben wir eine Menge Waffen dabei, und bei der Sache mit der Spritze ist uns etwas mulmig zumute. Wollen Sie wirklich warten, bis wir alles abgelegt haben?«
»Himmel, hoffentlich nicht«, brummte ich. »Dann sind wir den restlichen Tag hier.«
Der nächste Bewaffnete – einer der Männer in Armeegrün und nicht in Geheimdienstschwarz – tippte sich ans rechte Ohr und sprach halblaut. Nach einer ganzen Weile nickte er und rief mit einer Stimme, die sehr viel weniger einschüchternd war als die aus dem Lautsprecher: »Legen Sie einfach die Spritze und alle sichtbaren Waffen ab, heben Sie die Hände und machen Sie keine plötzlichen Bewegungen.«
»Das ist schon sehr viel einfacher, danke.« Shaun ließ ein Grinsen aufblitzen. Zuerst begriff ich nicht, warum er seine Energie darauf verschwendete, vor den Anwesenden zu posieren, die vermutlich ziemlich angespannt waren und den Finger möglicherweise locker am Abzug hatten. Dann folgte ich seinem Blick und musste ein Lächeln unterdrücken. Hallo, Kamera Nummer vier. Hallo Quote – die würde unglaublich werden, insbesondere, wenn Shaun sein Bestes gab, um die Sache interessant zu halten.
Ich trat vor und legte die Spritze auf den Boden. Sie war sicher in einer Plastikblase verwahrt, die sicher in einer weiteren Plastikblase verwahrt war. Eine dünne Schicht Desinfektionsmittel trennte die Plastikhäute voneinander. Alles, was aus der Spritze tropfte, würde sterben, bevor es an die Luft kam. Trotzdem bewegte ich mich mit extremer Vorsicht. Ich legte meine Pistole ein paar Meter weiter weg, gefolgt von meinem Taser, dem Pfefferspray, das an meinem Schultergurt klemmte – es gibt da draußen noch andere Gefahren als die Infizierten, und die meisten davon können juckende Gaswolken in den Augen nicht leiden –, sowie den Teleskopschlagstock, den Shaun mir zu meinem letzten Geburtstag geschenkt hat. Ich hielt die Hände hoch, um zu zeigen, dass das alles war, was ich hatte, und trat zurück zu den andern.
»Die Sonnenbrille auch, Ma’am«, sagte der Soldat.
»Ach, das ist doch zum … sie hat retinales KA! Als wir hier reingekommen sind, haben Sie unsere Akten gekriegt, das sollten Sie doch wissen!« Shauns angeberisches Gehabe von eben war dahin. Nun war er ehrlich verärgert.
»Die Sonnenbrille«, wiederholte der Soldat.
»Schon in Ordnung, Shaun. Er macht bloß seine Arbeit.« Ich biss die Zähne zusammen und kniff die Augen zu, bevor ich meine Sonnenbrille abnahm und zu Boden warf. Einmal mehr trat ich zu den anderen zurück.
»Bitte öffnen Sie die Augen, Ma’am«, sagte der Soldat.
»Sind Sie darauf vorbereitet, mich sofort medizinisch zu versorgen?«, fragte ich und machte dabei keinen Hehl aus meiner eigenen Verärgerung. »Mein Name ist Georgia Carolyn Mason, Lizenznummer alpha-foxtrot-bravo-eins-sieben-fünf-acht-neun-drei, und wie mein Bruder schon sagte, haben Sie meine Akte. Ich habe retinales Kellis-Amberlee im fortgeschrittenen Stadium. Wenn ich ungeschützt die Augen öffne, riskiere ich dauerhafte Schäden. Einmal mehr: Wir sind Journalisten, und ich werde klagen.«
Eine weitere Pause entstand, während der Soldat sich mit seinem Vorgesetzten beriet. Diesmal dauerte es länger. Wahrscheinlich riefen sie meine Akte auf und vergewisserten sich, dass hier niemand versuchte, meine bevorstehende Umwandlung mittels einer Sonnenbrille und großer Worte zu verbergen. »Kehren Sie zu Ihrer Gruppe zurück«, sagte er schließlich. Ich trat zurück, bis Shauns Hand an meinem Ellbogen mir bedeutete, stehen zu bleiben.
Es dauerte fast zehn Minuten, bis Shaun und Rick ihre Waffen abgelegt hatten und auf ihre Plätze neben mir zurückgekehrt waren. Shaun legte die Hand an meinen Ellbogen, für den Fall, dass wir uns bewegen mussten. Ohne meine Sonnenbrille bin ich bei Tageslicht im Prinzip blind. Möglicherweise bin ich sogar noch schlimmer dran, weil ein Blinder sich nicht über Migräne oder Netzhautschäden den Kopf zerbrechen muss, nur, weil keine Wolke am Himmel ist.
»Mit wessen Autorität haben Sie diesen Bereich betreten?«, fragte der Soldat.
»Senator Peter Rymans«, sagte Rick mit einer Ruhe, die verriet, dass er mehr Erfahrung im Umgang mit Behörden hatte, als ihm lieb sein konnte. »Ich nehme an, dass Sie Ms Masons Anruf beim Senator abgehört haben?«
Der Soldat ignorierte die spitze Bemerkung. »Senator Ryman ist über Ihren derzeitigen Aufenthaltsort im Bilde?«
»Senator Ryman hat seine volle Zustimmung zu dieser Untersuchung gegeben«, sagte Rick, wobei er das Wort »Senator« betonte. »Ich bin mir sicher, dass er sich sehr für unsere Funde interessieren wird.«
Eine weitere Pause entstand, als der Soldat sich erneut mit seinem Vorgesetzten beriet. Diesmal wurde sie von einem statischen Knistern unterbrochen, und dann erklang Senator Rymans Stimme durch den Lautsprecher. »Geben Sie mir das. Was machen Ihre Leute da? Das ist mein Presseteam, und Sie verhalten sich, als hätten diese Leute sich unbefugt Zutritt zu meinem Grund und Boden verschafft – kommt Ihnen das nicht auch komisch vor?« Jemand anders murmelte reuig außerhalb der Mikrofonreichweite, worauf Senator Ryman donnerte: »Verdammt richtig, Sie haben nicht nachgedacht. Ist bei Ihnen alles in Ordnung, da drüben? Georgia, Mädchen, sind Sie verrückt geworden? Setzen Sie Ihre Brille wieder auf. Wie soll denn eine blinde Reporterin all meine schmutzigen kleinen Geheimnisse aufdecken?«
»Die freundlichen Herren haben mir befohlen, sie abzunehmen, Sir!«, rief ich.
»Die freundlichen Herren mit den vielen Waffen«, fügte Shaun hinzu.
»Tja, das war sehr zuvorkommend von diesen Leuten, aber jetzt möchte ich, dass Sie sie wieder aufsetzen. Haben Sie eine Ersatzbrille dabei, Georgia?«
»Das habe ich, aber die ist in meiner hinteren Hosentasche. Ich habe Angst, sie fallen zu lassen.« Verlass niemals ohne eine Ersatzsonnenbrille das Haus. Nimm am besten drei mit. Natürlich geht es dabei normalerweise um Vorsorge wegen möglicher Kontamination, und nicht um militärinduzierte Blindheit.
»Shaun, reichen Sie Ihrer Schwester die Brille. Ohne sieht sie nackt aus. Mir wird ganz mulmig, wenn ich das sehe.«
»Ja, Sir!« Shaun ließ meinen Ellbogen los. Kurz darauf spürte ich, wie er mir eine frische Brille in die Hand drückte. Ich stieß einen Seufzer der Erleichterung aus und setzte sie auf. Das Gleißen verebbte. Ich machte die Augen auf.
Die Szenerie hatte sich kaum verändert. Shaun und Rick standen nach wie vor zu meinen Seiten, die Bewaffneten hatten uns noch immer umstellt, und Kamera Nummer vier übertrug das Ganze immer noch, auf einer so niedrigen Frequenz, dass sie für die meisten Empfänger wie Rauschen aussehen würde. Buffy hält sich allein deshalb über alle Entwicklungen in der Funktechnologie auf dem Laufenden: Je mehr sie weiß, desto schwerer ist es, unsere Übertragungen zu stören. Ich wusste nicht, ob man die Kameras mit den höheren Frequenzen störte – wahrscheinlich schon, da die Armee hier war –, aber um unsere Niedrigfrequenzübertragungen stand es bestens.
»Sind Ihre Augen in Ordnung, Georgia?«, fragte der Senator. Shaun bedachte mich mit einem Blick, in dem dieselbe Frage lag.
»Absolut, Sir«, rief ich. Das stimmte nicht ganz. Meine Migräne nahm soeben epische Ausmaße an und würde mich wahrscheinlich tagelang begleiten. Trotzdem war es für die Regierung nah genug an der Wahrheit. »Wenn diese freundlichen Herren mit uns fertig sind, müssen wir miteinander reden – falls Sie Zeit haben.«
»Natürlich.« Im Tonfall des Senators lag eine Anspannung, die seine Lockerheit von vorhin Lügen strafte. »Ich will alles wissen.«
»Das wollen wir auch, Sir«, sagte Rick. »Erst einmal würden wir sehr gern wissen, was sich in dieser Spritze befindet. Unglücklicherweise fehlen uns die nötigen Einrichtungen, um ihren Inhalt zu überprüfen.«
»Das fragliche Objekt befindet sich nun im Gewahrsam der United States Army«, sagte die erste Stimme, die den Lautsprecher, den gerade noch Senator Ryman benutzt hatte, wieder übernahm. »Sein Inhalt geht Sie nun nichts mehr an.«
Ich straffte mich. Shaun und Rick taten es mir nach.
»Entschuldigen Sie«, sagte Rick, »aber wollen Sie damit sagen, dass ein möglicher Beweis dafür, dass ein Ausbruch mit aktiven Kellis-Amberlee-Erregern auf amerikanischem Boden herbeigeführt wurde, und zwar auf dem Grundstück eines Präsidentschaftskandidaten der Vereinigten Staaten von Amerika, das Volk nichts angeht? Um genau zu sein, dass er drei voll lizenzierte und akkreditierte Repräsentanten der amerikanischen Medien nichts angeht, die den Beweis entdeckt haben, nachdem man sie dazu aufgefordert hat, Untersuchungen durchzuführen, die die Streitkräfte versäumt haben?«
Die Soldaten um uns herum versteiften sich und hielten ihre Waffen plötzlich in Winkeln, die nahelegten, dass es selbst auf heimischem Boden zu Unfällen kommen kann. Die Geheimdienstmänner runzelten die Stirn, blieben aber ansonsten entspannter. Schließlich war die ursprüngliche Untersuchung nicht unter ihrer Leitung erfolgt.
»Mein Junge«, sagte die erste Stimme, »ich glaube nicht, dass Sie implizieren möchten, was Sie da implizieren.«
»Was – dass Sie uns sagen, dass wir nicht erfahren sollen, was wir gefunden haben, obwohl wir rund um die Welt Zuschauer haben, die eben das wirklich, wirklich wissen wollen?«, fragte Shaun, verschränkte die Arme und stellte sich auf eine Art und Weise hin, die locker wirkte, wenn man ihn nicht gut genug kannte, um zu erkennen, wie stinksauer er war. »Das klingt für mich aber nicht gerade nach Pressefreiheit.«
»Für unsere Leser wird es auch nicht nach Pressefreiheit klingen«, sagte ich.
»Miss, es gibt etwas, das als ›Geheimhaltungsselbstverpflichtung‹ bezeichnet wird, und ich kann dafür sorgen, dass Sie alle drei eine solche unterzeichnen werden, bevor Sie auch nur einen einzigen Schritt von diesem Gelände machen.«
»Tja, Sir, das würde vielleicht funktionieren, wenn wir nicht schon die ganze Zeit live übertragen würden«, antwortete ich. »Wenn Sie mir nicht glauben, gehen Sie auf unsere Website und sehen Sie selbst. Wir haben eine Liveübertragung, ein Transskript und alles Drum und Dran.« Einen Moment lang sagte niemand etwas, dann ertönte ein gedämpfter Fluch durch den Lautsprecher. Da schaute jemand online nach. Ich gestattete mir ein Lächeln. »Wenn Sie etwas geheim halten wollen, sollten Sie es nicht rumliegen lassen, sodass Journalisten es finden.«
»Und was ich gerne wüsste«, sagte Senator Ryman in mit einem Mal kühlerem Tonfall, »ist, was Ihnen das Recht dazu gibt, auf meinem Grundstück gefundenes Material zu beschlagnahmen, ohne mich als Besitzer voll ins Bild zu setzen. Insbesondere, wenn besagte Materialien möglicherweise etwas mit dem Tod meiner Tochter und ihrer Großeltern zu tun hatten.«
»Alle abgeriegelten Gefahrenzonen …«
»Bleiben Eigentum des ursprünglichen Besitzers, der weiterhin Abgaben für sie zahlen muss, ohne von den natürlichen Rohstoffen oder weiterer Landentwicklung zu profitieren«, sagte Rick. Ich warf ihm einen Seitenblick zu. Versonnen lächelnd fügte er hinzu: »Secor gegen den Staat Massachusetts, 2024.«
»Abgesehen davon wird es in diesem Land nicht unbedingt gerne gesehen, wenn man Beweismittel unter den Teppich kehrt«, sagte Senator Ryman. »Also, ich glaube, was Sie diesen netten Leuten mitteilen wollten, ist, dass sie die Gefahrenzone verlassen dürfen, sobald sie die vorschriftsmäßigen Bluttests durchlaufen haben, und dass sie Kontakt zu mir und ihnen aufnehmen werden, wenn Sie den Inhalt der Spritze analysiert haben, da sie von ihnen und auf meinem Grund und Boden gefunden wurde.«
»Nun …«
Senator Ryman schnitt ihm das Wort ab. »Ich hoffe, Ihnen ist klar, dass es Ihrer Karriere nicht besonders förderlich ist, sich mit einem Senator herumzustreiten – insbesondere mit einem Senator, der Präsident zu werden beabsichtigt, und sei es nur, damit er Ihnen zeigen kann, was das hier für eine hirnrissige Aktion war.«
Nach einer langen Pause hob die erste Stimme wieder vorsichtig zu sprechen an. »Nun, Sir, ich glaube, dass Sie vielleicht ein falsches Bild von der Situation gewonnen haben …«
»Das hoffe ich. Darf ich davon ausgehen, dass meine Leute frei sind?«
Voll falscher Kameradschaftlichkeit sagte die erste Stimme: »Natürlich! Meine Männer sind nur dort, um sie zu den Bluttests zu begleiten. Männer? Bringen Sie diese Bürger aus dem Gefahrengebiet!«
»Sir, ja, Sir!«, bellten die Soldaten. Die Geheimdienstleute wirkten leicht angewidert von der ganzen Sache.
Der Soldat, der mich aufgefordert hatte, meine Sonnenbrille abzusetzen, beriet sich mit dem Funkgerät auf seiner Schulter, bevor er widerstrebend sagte: »Wenn Sie drei bitte Ihre Waffen einsammeln und mir folgen würden, ich bringe sie für die Bluttests und Ihre anschließende Freilassung zum Tor. Bitte versuchen Sie nicht, den Gegenstand zu berühren, den Sie am Ort des Ausbruchs entnommen haben.«
Rick sah aus, als wollte er Einwände gegen die Bezeichnung »der Gegenstand« erheben, da wir genau genommen mehr als einen Gegenstand gefunden hatten. Da ich nicht glaubte, dass die Katze sich gerne von Militärwissenschaftlern sezieren lassen wollte, trat ich ihm gegen den Knöchel. Er starrte mich wütend an, doch ich beachtete ihn nicht weiter. Später würde er es mir danken. Er oder die Katze.
Unsere Waffen wieder einzusammeln dauerte länger, als sie abzulegen, da wir alle Sicherungen überprüfen mussten. Das Gebiet war als so sauber deklariert worden, wie etwas nach dem Nguyen-Morrison-Verfahren sein kann – so sauber, wie ein Ort, an dem man eine Spritze voller potenziell aktiver Kellis-Amberlee-Viren gefunden hat, sein kann –, aber sich in der Nähe eines noch nicht lange zurückliegenden Ausbruchs in den Fuß zu schießen kam mir trotzdem wie eine ziemlich miese Idee vor. Unsere Eskorte wartete, während wir uns bewaffneten, und ging dann im Gleichschritt mit uns zum Tor, wo, wie ich erfreut feststellte, Steve und zwei weitere Sicherheitsleute von Senator Ryman mit den Bluttesteinheiten warteten.
Als ich die Gehäuse sah, schnappte ich nach Luft. Ich beugte mich zu Shaun rüber und stieß ihn mit dem Ellbogen an. Er schaute in die gleiche Richtung wie ich und pfiff. »Da fährst du aber schwere Geschütze auf, Stevie.«
Steve lächelte dünn. »Der Senator will sichergehen, dass mit euch alles in Ordnung ist.«
»Mit meinem Bruder war noch nie alles in Ordnung, aber Rick und ich sind sauber«, sagte ich und streckte die rechte Hand aus. »Leg los.«
»Ist mir ein Vergnügen«, sagte er und schob das Gehäuse über meine Hand.
Bluttesteinheiten gibt es von der einfachen Feldversion, die in bis zu dreißig Prozent der Fälle falschliegt, bis zu den ultrahochentwickelten Modellen, die so empfindlich sind, dass sie bekanntermaßen schon falsche Positivergebnisse gemeldet haben, weil sie auf die inaktive Kellis-Infektion reagieren, die praktisch alle Menschen auf Erden haben. Das fortschrittlichste tragbare Modell ist der Apple XH-237. Ein solches Gerät kostet mehr, als ich wissen will, und weil es sich um Feldausstattung handelt, kann man es nur einmal benutzen, bevor man die Nadeln ersetzen muss, ein Vorgang, der mehr kostet, als die meisten selbstständigen Journalisten in einem Jahr verdienen. Mit diesen Geräten reicht ein einziger Test vollauf. Nadeln, die so dünn sind, dass man sie kaum spürt, stechen in alle fünf Finger, die Handfläche und das Handgelenk. Virenspür- und Abgleichmechanismen, die so neuartig sind, dass das Militär nach Erscheinen des XH-237 angeblich die Rechte an mehreren Apple-Patenten gekauft hat.
Shaun und ich haben ein solches Gerät – nur eines – im Sendewagen. Wir haben es seit fünf Jahren. Bislang haben wir uns nie reich oder verzweifelt genug gefühlt, um es zu benutzen. Den XH-237 benutzt man nur, wenn man hier und jetzt absolute Gewissheit braucht, wenn es keinen Spielraum für Fehler gibt. Es ist ein Gerät, das man benutzt, nachdem man dem Virus direkt ausgesetzt war. Das Militär rätselte nicht herum, was sich in der Spritze befand. Die wussten, was sie enthielt. Daraus konnte man so seine Schlüsse ziehen, die alles andere als beruhigend waren.
Steve aktivierte die Testeinheit. Die Klappe senkte sich und drückte meine Hand flach, bis ich spürte, wie die Sehnen sich dehnten. Einen kurzen Moment lang tat es weh. Ich spannte mich an, doch obwohl ich auf die Einstiche wartete, konnte ich nicht spüren, wie mir die Nadeln in Hand und Handgelenk stachen und wieder herausfuhren. Die Lampen auf der Oberseite der Einheit fingen an zu blinken, erst rot und dann gelb, bevor sie eine nach der anderen in stetem Grün leuchteten. Der ganze Vorgang dauerte nur ein paar Sekunden.
Lächelnd warf Steve das Gerät in eine Sondermülltüte. »Entgegen aller natürlichen Gerechtigkeit bist du nach wie vor sauber.«
»Bin ich meinem Schutzengel also wieder mal was schuldig«, sagte ich. Ein Seitenblick verriet mir, dass Shauns Testeinheit noch blinkte, während Ricks Test gerade erst anfing.
»Dann lass diesen Engel keine Überstunden machen«, sagte Steve leise. Überrascht drehte ich mich zu ihm um. Seine Miene war todernst. »Du kannst die Gefahrenzone jetzt verlassen.«
»Alles klar«, sagte ich und ging zum Tor, wo zwei in Militärgrün gekleidete Männer mit ausdruckslosen Gesichtern zusahen, wie ich den Zeigefinger auf das sehr viel einfachere Testpad drückte. Eine weitere Nadel stach tief in meine Fingerspitze, und das Licht sprang von Grün auf Rot und dann wieder auf Grün um, bevor das Tor sich klickend öffnete. Ich schüttelte meine schmerzende Hand und trat hindurch.
Zu unserem Wagen und Ricks Auto hatte sich ein drittes Fahrzeug hinzugesellt: Ein großer, schwarzer Transporter mit verspiegelten Fenstern, die den charakteristischen Glanz von Panzerglas aufwiesen. Auf dem Dach des Wagens stand ein so dichter Wald von Antennen und Satellitenschüsseln, dass unsere eigene Sammlung von Sende- und Empfangsvorrichtungen im Vergleich ziemlich dürftig aussah. Ich blieb stehen und betrachtete das Fahrzeug, während Shaun und Rick ihrerseits die Ranch verließen und sich neben mich stellten.
»Sieht das für euch nach unserem freundlichen Befehlshaber aus?«, fragte Shaun.
»Ich wüsste nicht, wer es sonst sein sollte«, sagte ich.
»Tja, wie wär’s, wenn wir dann Hallo und Danke für den herzlichen Empfang sagen gehen. Ich war immerhin gerührt. Ein Obstkorb wäre vielleicht passender gewesen, aber ein bewaffneter Hinterhalt? Das ist definitiv eine ganz besondere Art zu zeigen, dass einem jemand etwas bedeutet.« Shaun lief mit weiten Schritten zu dem Transporter. Rick und ich folgten ihm etwas bedächtiger.
Shaun hämmerte mit der Handkante an die Autotür. Als niemand antwortete, ballte er die Hand zur Faust und hämmerte lauter weiter. Gerade hatte er einen guten Rhythmus drauf, da wurde die Tür von einem rotgesichtigen General aufgerissen, der uns offen bösartig anstarrte.
»Ich glaube, er ist kein großer Musikliebhaber«, bemerkte ich in Richtung Rick, der schnaubte.
»Ich habe keine Ahnung, was ihr Kinder euch dabei denkt …«, setzte der General an.
»Ich bin mir ziemlich sicher, dass sie nach mir suchen«, sagte Senator Ryman, der hinter ihm zum Vorschein kam. Der General verstummte und wandte seinen eindringlichen Blick dem Senator zu. Ryman beachtete ihn nicht, sprang an ihm vorbei aus dem Wagen und ergriff Shauns Hand. »Shaun, schön zu sehen, dass es Ihnen gut geht. Ich war ein bisschen besorgt, als ich die abgefangene Übertragung gehört habe.«
»Wir haben noch mal Glück gehabt«, sagte Shaun grinsend. »Danke, dass Sie uns mit dem Papierkram geholfen haben.«
»War mir ein Vergnügen.« Senator Ryman blickte sich zu dem finster dreinschauenden General um. »General Bridges, danke für Ihre Sorge um das Wohlergehen meines Pressekorps. Ich werde mit Ihren Vorgesetzten über diese Operation reden und dafür sorgen, dass sie erfahren, welche Rolle Sie dabei gespielt haben.«
Der General wurde bleich. Noch immer grinsend wedelte Shaun mit den Fingern vor seiner Nase.
»Nett, Sie kennenzulernen, Sir. Einen schönen Tag noch.« Er drehte sich zu Rick und mir zurück und schlang uns die Arme um die Schultern. »Also, meine geschätzten Partner beim wirklich dämlichen Scheißebauen zur Erbauung der Massen, würdet ihr auch sagen, dass ich uns heute zusätzliche drei Prozent verschafft habe? Nein, das ist eine zu vorsichtige Schätzung, da ich ein Gott unter den Menschen bin und meine Nase in absolut nasenfeindliche Sachen stecke. Sagen wir fünf Prozent. Wahrhaftig, ihr alle solltet meine Lichtgestalt anbeten.«
Ich schaute zum Senator. Er lächelte nach wie vor gezwungen, aber sein Blick war ernst. Es war das Gesicht eines Mannes, der unter beträchtlicher Anspannung stand.
»Vielleicht später«, sagte ich. »Senator Ryman? Warum sind Sie hier rausgefahren?«
»Steve hat Ihre Berichte mitgehört«, sagte der Senator. »Als er erfahren hat, dass Sie etwas gefunden haben, hat er mich angerufen, und wir sind sofort hergekommen.«
»Vielen Dank dafür, Sir«, sagte Rick. »Hätten Sie das nicht getan, dann hätten wir uns vielleicht mit ein paar Problemen herumschlagen müssen.«
»Zum Beispiel mit dauerhafter Blindheit«, sagte Shaun mit einem Blick zu mir.
»Und einem Gratisaufenthalt in einer Regierungsquarantäneeinrichtung«, warf ich ein. »Sir, möchten Sie, dass wir mit Ihnen zum Haus zurückkehren und Ihnen die Einzelheiten über unseren Fund berichten?«
»Ehrlich gesagt, nein danke, Georgia. Im Moment möchte ich, dass Sie drei in Ihr Hotel zurückkehren und tun, was getan werden muss. Machen Sie Ihre Arbeit.« Sein Gesichtsausdruck hatte etwas Gebrochenes. Schon beim Begräbnis war er mir gealtert vorgekommen, doch richtig alt sah er erst jetzt aus. »Ich rufe Sie morgen an, wenn ich Zeit hatte, meiner Frau zu erklären, dass der Tod unserer Tochter kein Unfall war, und mich maßlos zu betrinken.«
»Ich verstehe«, sagte ich, und, an Rick gewandt: »Wir treffen uns beim Hotel.« Er nickte und ging zu seinem Auto. Ich wollte nicht, dass er mit uns fuhr und es hier zurückließ. Wir hatten soeben das Militär verärgert. Da konnte es durchaus zu ein bisschen »versehentlichem« Vandalismus kommen. »Sie rufen an, wenn Sie etwas brauchen, Sir?«
»Darauf können Sie sich verlassen.« Der Tonfall des Senators war freudlos, und das Gleiche galt für seine Miene, als er zum Sendewagen der Regierung ging. Steve stand bereits an der Beifahrertür und hielt sie auf. Ich sah keine weiteren Wachleute, aber ich wusste, dass welche da waren. So nah an einer Gefahrenzone würden sie bei einem Präsidentschaftskandidaten kein Risiko eingehen. Insbesondere nicht nach dem, was wir soeben herausgefunden hatten.
Ich beobachtete, wie der Senator ins Auto stieg. Steve machte die Tür hinter ihm zu. Dann nickte er uns zu, stieg an der Fahrerseite ein und fuhr los. Ein paar Minuten später holperte Ricks gepanzerter VW ihm nach, der Zivilisation entgegen.
Shaun legte mir die Hand auf die Schulter. »George? Können wir los, bevor die Arschgeigen, die hier das Sagen haben, sich einen Grund einfallen lassen, uns festzunehmen? Mal abgesehen von der Katze. Die hat Rick mitgenommen, wenn also deshalb jemand nachsitzen muss, dann nur er. Gummiknüppel, Elektroden an empfindlichen Körperstellen …«
»Hä?« Ich drehte mich zu ihm um. »Klar, wir können los. Ja, ich bin so weit.«
»Geht es dir gut?« Er musterte mich. »Du bist blass.«
»Ich dachte gerade an Rebecca. Gehst du ans Steuer? Mir tut der Kopf zu weh, um sicher zu fahren.«
Jetzt sah Shaun ernsthaft besorgt aus. Ich lasse ihn sonst nicht gerne fahren. Seine Vorstellung von Verkehrssicherheit besteht darin, so schnell zu fahren, dass die Bullen ihn nicht einholen. »Bist du sicher?«
Ich warf ihm den Schlüssel zu. Das würde ich normalerweise nie tun, aber normalerweise habe ich es auch nicht mit einem Haufen toter Leute, einem verstörten Präsidentschaftskandidaten und rasenden Kopfschmerzen zu tun. »Fahr.«
Shaun bedachte mich mit einem letzten besorgten Blick und ging zum Wagen. Ich folgte ihm, stieg in den Beifahrersitz und schloss die Augen. Shaun zeigte sich untypisch besorgt um mein Wohlergehen, indem er wie ein vernünftiger Mensch fuhr, mit halbwegs gemäßigten achtzig Stundenkilometern und dem Zugeständnis, dass man Bremsen auch außerhalb von Situationen wie »eine Zombiebande blockiert die Straße vor uns« benutzen kann. Ich ließ mich tiefer in meinen Sitz sinken, hielt die Augen geschlossen und ging im Kopf alles noch einmal durch.
Als ich gesagt hatte, dass bei dem Ausbruch auf der Ranch die offiziellen Fakten nicht zusammenpassten, hatte ich halb damit gerechnet, irgendwelche Spuren menschlicher Fahrlässigkeit oder möglicherweise eines Eindringlings zu finden, der den ganzen Schlamassel losgetreten hatte und im anschließenden Gemetzel übersehen worden war, sodass man den Pferden die Schuld gegeben hatte. Irgendeine Kleinigkeit, die in dem Bild gefehlt hatte und daher mein ungutes Gefühl ausgelöst hatte. Kurz gesagt, eine Winzigkeit, die überhaupt nichts ändern würde.
Rebecca Ryman war ermordet worden.
Das änderte alles.
Wir hatten seit Wochen gewusst, dass Tracys Tod – und damit wahrscheinlich der ganze Ausbruch in Eakly, obwohl sich das nicht endgültig beweisen ließ – kein Unfall gewesen war, aber wir hatten keine ernsthaften Hinweise darauf gehabt, dass es sich um mehr gehandelt hatte als einen Spinner, der die Gelegenheit ergriffen hatte, ein bisschen Chaos zu stiften. Doch jetzt … die Wahrscheinlichkeit, dass zwei zufällige Akte böswilliger Sabotage der gleichen Gruppe Menschen wiederfuhr, war klein bis vernachlässigbar. Sie wurde sogar noch kleiner, wenn man bedachte, dass der Mann, der die Verbindung zwischen den beiden Vorfällen darstellte, derzeit zu den Spitzenkandidaten für das Amt des Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika gehörte. Das war eine große Sache. Eine sehr, sehr große Sache.
Und es war auch eine sehr, sehr üble Sache, denn wer auch immer dahintersteckte, dachte sich nichts dabei, das Raskin-Watts-Gesetz zu übertreten, und das bedeutete, dass dieser Jemand bereits eine Grenze überschritten hatte, über deren Existenz die meisten Menschen sich nicht einmal bewusst sind. Mord ist eine Sache. Aber das hier war Terrorismus.
»George? Georgia?« Shaun schüttelte mich an der Schulter. Ich öffnete die Augen und kniff sie automatisch halb zu, bevor mir klar wurde, dass ich in gnädigem Zwielicht saß. Mit gehobener Braue wandte ich mich ihm zu. Er lächelte erleichtert. »He, du bist eingeschlafen. Wir sind da.«
»Ich habe nachgedacht«, sagte ich steif und schnallte mich los, bevor ich zugab: »Und vielleicht habe ich auch ein bisschen gedöst.«
»Keine große Sache. Wie geht’s deinem Kopf?«
»Besser.«
»Gut. Rick ist schon hier, und dein Team lässt ihn im Kreis springen – er hat dreimal angerufen, um zu fragen, wann wir da sind.«
»Irgendwas von Buffy?« Ich nahm meine Tasche, öffnete die Tür und rutschte aus dem Wagen. Die Tiefgarage war kühl und ziemlich voll. Das war nicht überraschend: Der Senator hatte uns im besten Hotel der Stadt untergebracht. Fünf-Sterne-Sicherheitsvorkehrungen sind nicht billig, aber sie haben auch ihre Vorteile, wie zum Beispiel Tiefgaragen mit Bewegungssensoren, die nicht nur ständig mitverfolgen, wer wo ist, sondern auch, wie lange jemand schon wo ist und was er dort tut. Wenn Shaun und ich hier unten eine Weile umhergelaufen wären, hätten wir uns einen ganz neuen Eindruck von der Sicherheitstechnik des Hotels verschaffen können. Die Idee wäre vielleicht reizvoll gewesen, wenn wir nicht bereits an einer Story dran gewesen wären, die fast zu heiß zum Anfassen war. Langsam sehnte ich mich nach den Zeiten zurück, als es uns für einen Aufmachertext genügt hatte, ein bisschen mit den Sicherheitssystemen reicher Leute rumzuspielen.
»Sie ist noch bei Chuck, aber sie sagt, dass die Server mit jeder beliebigen Datenmenge zurechtkommen und dass die Fiktiven ohnehin ein bis zwei Tage lang keine Reaktion parat haben werden. Wir sollen uns einfach ohne sie an die Arbeit machen.« Shaun knallte seine Tür zu und ging zu den Fahrstühlen, die uns ins eigentliche Hotel bringen würden. »Sie wirkte ziemlich erschüttert. Meinte, dass sie wahrscheinlich über Nacht dort bleiben würde.«
»Ist klar.«
Wie die meisten Leute des Senators wohnte Chuck in den Botschaftssuiten, wobei es sich um ein extravagantes Wort für eine Reihe Wohnungen handelte, die weniger Durchlauf hatten als unsere zwar hochklassige, aber zeitlich klar begrenzte Unterbringung. Er hatte eine Küche, ein Wohnzimmer und eine Badewanne, in der ein normaler Mensch auch tatsächlich ein Bad nehmen konnte. Unser Zimmer hatte eine ganze Reihe Kabelkanäle, zwei hoheitliche Betten, die wir an einer Wand zusammengeschoben hatten, um Platz für die Computer zu machen, und eine erstaunlich robuste Stromversorgung. Die Sicherungen waren erst zweimal wegen uns rausgeflogen, was für uns praktisch eine Bestleistung ist.
Die Fahrstühle waren mit einer ziemlich dürftigen Luftschleuse gesichert. Die Schiebetür aus Glas öffnete sich, als wir uns näherten, und schloss sich hinter uns wieder, sodass wir in einem kleinen Vorzimmer eingesperrt waren. Eine weitere Glastür versperrte uns den Weg zum Fahrstuhl. Da es sich um ein hochklassiges Hotel handelte, waren die Türen darauf programmiert, bis zu vier Personen gleichzeitig abzufertigen, obwohl die meisten Leute nicht so dumm waren, von solchen vermeintlichen Annehmlichkeiten Gebrauch zu machen. Wenn irgendjemand nicht sauber war, würden die Türen abgeriegelt werden, und man würde den Sicherheitsdienst rufen. Mit jemandem, über dessen Infektionsstatus man sich nicht sicher war, eine Luftschleuse zu betreten, war eine Form von russischem Roulette, auf die die meisten Leute wenig Lust hatten.
Shaun nahm meine Hand und drückte sie fest, bevor wir uns trennten. Er nahm den Aufzug links, während ich an den zur Rechten trat.
»Hallo, verehrte Gäste«, sagte die warme, pseudomütterliche Stimme des Hotels. Sie diente ganz eindeutig dazu, beruhigende Bilder von weichen Betten mit Schokoladenstückchen auf den Kopfkissen wachzurufen, an einem Ort, wo keine Infektion es jemals durch die Glastüren hereinschaffen würde. »Dürfte ich um Ihre Zimmernummern und Identifikation bitten?«
»Shaun Phillip Mason«, sagte Shaun und verzog das Gesicht. Unsere Spielereien funktionierten beim Sicherheitssystem zu Hause, aber bei derart hochentwickelter Ausstattung wie dieser war das Potential zu groß, dass der Computer Blödeleien als nicht gesicherte Identität einstufen und den Sicherheitsdienst rufen würde. »Zimmer 4–19.«
»Georgia Carolyn Mason«, sagte ich. »Zimmer 4–19.«
»Willkommen, Mr und Ms Mason«, sagte das Hotel nach fünfzehn Sekunden Pause, in denen es unsere Stimmmuster mit den in unseren Akten gespeicherten Vorlagen abglich. »Dürfte ich Sie um einen Netzhautscan bitten?«
»Medizinischer Dispens, Bundesrichtlinie sieben-fünfzehn-A«, sagte ich. »Ich leide an einem registrierten Fall von inaktivem retinalem Kellis-Amberlee und bitte um einen Mustererkennungstest, wie es im amerikanischen Gesetz zum Umgang mit Behinderungen vorgesehen ist.«
»Warten Sie, während ich Ihre Akten überprüfe«, sagte das Hotel. Dann wurde es still. Ich verdrehte die Augen.
»Jedes Mal«, brummte ich.
»Es will nur sorgfältig sein.«
»Jedes Mal.«
»Das System braucht nur ein paar Sekunden, um deine Akte rauszusuchen.«
»Wie oft sind wir jetzt schon durch diese Garage gegangen?«
»Vielleicht meinen sie, dass du die blöde Bundesrichtlinie vergessen würdest, wenn du infiziert wärst.«
»Ich würde nur zu gerne deine blöde …«
Der Lautsprecher erwachte knackend zum Leben. »Ms Mason, danke, dass sie uns auf ihren Gesundheitszustand aufmerksam gemacht haben. Bitte schauen Sie auf den Bildschirm vor Ihnen. Mr Mason, bitte treten Sie an die Bodenmarkierung und schauen Sie auf den Monitor vor Ihnen. Die Tests werden gleichzeitig durchgeführt.«
»Du hast echt Glück, du behindertes Miststück«, brummte Shaun, stellte sich mit den Zehen an die Linie auf dem Boden und öffnete weit die Augen.
Flackernd wechselte mein Bildschirm vom Scan- in den Textmodus. Ich räusperte mich und las vor: »Wohl hab’ ich’s im Sinn behalten, im Dezember war’s, im kalten, und gespenstige Gestalten warf des Feuers Schein umher. Sehnlich wünscht’ ich mir den Morgen, keine Lind’rung war zu borgen aus den Büchern für die Sorgen – für die Sorgen tief und schwer.«
»Bitte warten«, sagte das Hotel. Die schwarzen Kunststoffklappen vor den beiden metallenen Testpads glitten hoch. »Mr und Ms Mason, bitte legen Sie die Hände auf die Diagnoseflächen.«
»Ist es nicht wunderbar, dass das Hotel uns nicht sagt, ob wir bestanden haben oder nicht?«, sagte Shaun und legte die Hand auf das erste Testpad. »Vielleicht ruft es jetzt in diesem Moment den Sicherheitsdient und hält uns nur hin, bis er eintrifft.«
»He, danke Herr Optimist.« Ich drückte die Hand aufs Metall und spürte einen kurzen Nadelstich unten an der Handfläche. »Geht dir sonst noch irgendwas Aufmunterndes durch den Kopf?«
»Tja, wenn schon Rick abdreht, dann hat Mahir vielleicht inzwischen eine spontane Selbstentzündung hinter sich.«
»Ich hoffe, das hat jemand aufgenommen.«
»Mr und Ms Mason, willkommen in den Parrish-Weston-Suiten. Wir hoffen, dass Sie Ihren Aufenthalt genießen. Bitte lassen Sie uns wissen, wenn wir etwas tun können, um Ihren Aufenthalt angenehmer zu gestalten.« Am Ende der Begrüßungsrede glitten die Türen auf. »Danke, dass Sie sich für ein Weston-Hotel entschieden haben.«
»Gleichfalls«, sagte ich und drückte auf den Fahrstuhlknopf.
Die Wissenschaft, Menschen von Punkt A nach Punkt B zu bringen, hat sich im Laufe der letzten zwanzig Jahre verfeinert, da die Infizierten das früher einmal natürliche menschliche Bedürfnis, allein an dunklen, schlecht gesicherten Orten zu verweilen, stark gemindert haben. Das Weston hatte neun Aufzüge, die durch eine Reihe von Korridoren und Schächten verbunden waren. Sie wurden von einem Zentralcomputer gesteuert, der seinen Tag damit verbrachte, sie kollisionsfrei und möglichst effizient auf Reisen zu schicken. Es dauerte keine fünf Sekunden, bis die Fahrstuhltüren sich öffneten. Sobald wir ihn betreten hatten, fuhr der Fahrstuhl zwanzig Meter seitwärts und begann dann seinen schnellen Aufstieg zu der Fahrstuhltür, die unseren Hotelzimmern am nächsten war.
»Prioritäten?«, fragte Shaun, während der Fahrstuhl emporraste.
»Die Foren aufräumen, den allgemeinen Status feststellen und eine Meldung schreiben«, sagte ich. »Ich will meine Leute online haben, und wenn ich sie aus den Betten zerren muss. Und du machst das Gleiche mit deinen.«
»Was ist mit den Fiktiven?«
»Um die kann sich Rick kümmern.« Wenn Buffy die vielleicht wichtigste Schlagzeile verpassen wollte, die es je bei uns gegeben hatte, war das ihr gutes Recht, aber dann musste sie auch damit klarkommen, dass wir ihre Nachwuchsblogger aufscheuchten. Ihre Abteilung konnte nicht einfach die Vorhänge zuziehen, nur weil sie sich flachlegen lassen wollte.
Shaun grinste. »Darf ich es ihm sagen?«
Der Fahrstuhl wurde langsamer, als er sich unserem Stockwerk näherte, wobei er so langsam an Bewegungsmoment verlor, dass man nie darauf gekommen wäre, dass er eben noch mit über dreißig Stundenkilometern unterwegs gewesen war. Die Tür öffnete sich mit einem Glockenton. »Wenn dich das glücklich macht, erzähl es ihm ruhig. Achte darauf, ihm zu sagen, dass Magdalene ihm ganz allein gehört. Das sollte ein bisschen helfen.« Ich näherte mich unserem Zimmer und drückte den Daumen auf das Testfeld. Mit einem grünen Aufleuchten bestätigte es, dass ich eintreten durfte. Shaun öffnete die Tür, schob sich an mir vorbei und ließ mich auf dem Flur stehen. Ich seufzte. »Nach dir.«
»Lass dich nicht abhalten!«, rief er zu mir zurück.
Ich verdrehte die Augen und folgte ihm.
Der Senator hatte zwei Suiten nebeneinander für uns gebucht, in der Annahme, dass Buffy und ich das eine Zimmer nehmen würden und Shaun und Rick das andere. Die Sache lief allerdings anders. Buffy schläft nachts nicht ohne Licht, was ich aus offensichtlichen Gründen nicht tolerieren kann, und Shaun neigt zu gewalttätigen Reaktionen auf unerwartete nächtliche Geräusche. Deshalb sind Rick und Buffy in dem einen Zimmer gelandet und Shaun und ich im anderen, wo auch die Computer standen, die es zu unserem zeitweiligen Hauptquartier machten.
Rick saß an einem der Monitore, als wir reinkamen. Die gerettete Katze hatte sich schnurrend in seinem Schoß zusammengerollt. Ich hätte auch geschnurrt, wenn ich soeben den Großteil eines Thunfischsandwiches vom Zimmerservice verzehrt hätte.
»Die Katze hat’s gut«, bemerkte ich.
»Gott sei Dank.« Rick blickte auf. »Alle wollen wissen, was wir als Nächstes tun. Ich hatte schon Angst, dass einer der Server zusammenbricht, so oft sind die Aufnahmen abgerufen worden, Mahir klingelt mich ständig an, und die Foren sind …«
Ich schnitt ihm mit einem Handwedeln das Wort ab. »Wie sind unsere Quoten, Rick?«
»Ähm …« er fing sich wieder und schaute oben auf seinen Monitor. »Um sieben Prozent gestiegen, auf allen Märkten.«
Shaun pfiff. »Wow. Wir sollten öfters Terroristenverschwörungen aufdecken.«
»Noch haben wir nichts aufgedeckt. Wir haben nur herausgefunden, dass es eine Verschwörung gibt«, sagte ich und setzte mich an meinen Arbeitsplatz. »Ran an die Tastaturen und klingelt eure Leute an. In dreißig Minuten erstatten wir Bericht, und dann fangen wir mit dem Schnitt an und machen die Zusammenfassung für die Abendnachrichten.«
»Schon dabei.« Shaun schnappte sich einen Stuhl, schaute zu Rick und fügte beiläufig hinzu: »Du klingelst die Fiktiven an. Buffy kommt nicht.«
»Oh, großartig.« Rick rümpfte die Nase. Er rief seine Instant-Messenger-Liste auf und fragte: »Was verschafft mir die Ehre?«
»Du hast die Katze mitgenommen«, sagte ich. »Hau Magdalene an. Sie wird dir helfen. Und jetzt still. Mutti arbeitet.« Er schnaubte, wandte sich aber wieder seinem Computer zu. Shaun und ich taten es ihm nach.
Es dauerte dreißig Minuten, die Foren so zurechtzustutzen, dass sie nicht mehr wie eine Kombination aus Waldbrand und Verschwörungstheoriekongress aussahen. Bislang hatte noch niemand den Ausbruch auf der Familienranch der Rymans mit der ersten Freisetzung des Kellis-Heilmittels und dem Tod von JFK in Verbindung gebracht, aber lange hätte es nicht mehr gebraucht. Wie erwartet waren alle meine Mitarbeiter bereits wach, online und taten ihr Bestes, um den ganzen Schlamassel zu moderieren. Aus den Cross-over-Threads ließ sich schließen, dass offenbar das Gleiche für die Irwins und die Fiktiven galt. Sehet die Macht der Wahrheit. Wenn die Leute ihren Schatten an der Wand sehen, dann schauen sie nicht weg.
»Meine Foren sind aufgeräumt«, rief Shaun. »Ich bin bereit, wenn ihr es seid.«
»Genauso bei mir«, sagte Rick. »Die Chats sind hübsch am Brummen, und die freiwilligen Moderatoren haben alles unter Kontrolle.«
»Hervorragend.« Da die Freiwilligen genau genommen nicht für Nach dem Jüngsten Tag arbeiteten, mussten sie auch nicht an der Abschlussrunde teilnehmen. Ich rief den Mitarbeiterchat auf und tippte: Meldet euch an. »Auf Konferenzschaltung, Jungs. Gleich sehen wir den Schwarm.«
»Angemeldet.«
»Angemeldet.«
»Melde mich an. Zimmer elf, höchste Sicherheitsstufe.« Unser Konferenzsystem besteht zur Hälfte aus der Standard-Microsoft-Windows-VirtuParty-Ausstattung – die einem gemeinsame soziale Aktivitäten in Echtzeit über Webcams und einen gemeinsamen Server gestattet – und zur Hälfte aus Buffys hausgemachten Modifikationen. All unsere elf Kanäle haben variable Sicherheitsstufen, von Basisstufe drei, in die schlaue Leser relativ einfach eindringen können, bis elf, durch die noch niemand durchgekommen ist. Nicht einmal diejenigen, die wir für den Versuch bezahlt haben.
Auf meinem Bildschirm erblühten Fenster, von denen jedes einzelne das kleine, verpixelte Gesicht eines unserer Blogger enthielt. Shaun, Rick und ich erschienen als Erste, praktisch sofort gefolgt von Mahir, der aussah, als hätte er mehrere Tage nicht geschlafen, sowie Alaric und Suzy, dem Mädchen, das ich als Ersatz für Becks angeheuert hatte, nachdem sie zu den Irwins übergelaufen war. Becks selbst erschien einen Moment später, zusammen mit drei Irwins, die ich nur entfernt wiedererkannte. Fünf weitere Gesichter folgten, als die Fiktiven sich einloggten. Drei von ihnen teilten sich ein Fenster, was mir verriet, dass Magdalene mal wieder eine ihrer berüchtigten Grindhouse-Partys schmiss.
Am Ende fehlten bloß Dave – einer von Shauns Irwins, der sich auf einer Exkursion in der Wildnis von Alaska befand und wahrscheinlich gerade nicht an einen Computer mit Konferenzschaltung kam – und Buffy. Ich schaute von einem Gesicht zum andern und musterte die Mienen. Noch immer herrschte Schweigen. Die anderen sahen besorgt aus, verwirrt, neugierig, sogar aufgeregt, aber niemand wirkte, als hätte er etwas zu verbergen. Das hier war unser Team. Damit mussten wir arbeiten. Und wir hatten eine Verschwörung zu knacken.
»In Ordnung, Leute«, sagte ich. »Heute Nachmittag haben wir eine Expedition auf die Familienranch der Rymans gemacht. Inzwischen habt ihr das Videomaterial gesehen. Wenn nicht, loggt euch bitte ein, schaut es euch an, und kommt dann wieder. Jetzt lautet die Frage: Was machen wir als Nächstes?«
Bei der Wahlkampagne von Kongressfrau Kirsten Wagman habe ich etwas Wichtiges über Politik gelernt: Manchmal ist die Erscheinung wirklich wichtiger als der Inhalt. Nun reden wir hier nicht über eine der großen politischen Denkerinnen unserer Zeit, wenn wir mal ehrlich sind. Wir reden über eine ehemalige Stripperin, die ihren Sitz im Kongress durch das Versprechen gewonnen hat, für je tausend Stimmen ein weiteres für die politische Bühne unangemessenes Kleidungsstück zu tragen. Nach ihrem ersten, lawinenartigen Wahlsieg zu urteilen werden wir auch lange nach ihrer Amtszeit noch Kongresssitzungen mit Damen in Reizwäsche sehen.
Aber gewonnen hat sie nicht. Auch wenn es mit den Wählern nicht mehr allzu weit her ist und die Leute in neun von zehn Fällen das Interessante höher bewerten als das, was gut für sie ist, war Wagmans Versuch, Präsidentin zu werden, eben dieser zehnte Fall. Warum? Teilweise gebe ich die Schuld Senator Peter Ryman, einem Mann, der gezeigt hat, dass man Erscheinung und Inhalt zu beiderseitigem Vorteil in Einklang bringen kann, und, was noch wichtiger ist, dass es tatsächlich noch so etwas wie Integrität gibt.
Außerdem gebe ich die Schuld Nach dem Jüngsten Tag und Georgia Mason, die sich auf eine Art und Weise in den Wahlkampf eingebracht hat, die man in diesem Land nur selten erlebt. Ihre Berichterstattung ist nicht unparteiisch oder perfekt, aber sie verfügt über etwas, das man sogar noch seltener sieht als Integrität.
Sie kommt von Herzen.
Mit großer Freude gebe ich zu Protokoll, dass Amerikas Jugend nicht durch und durch gleichgültig und apathisch ist; dass man der Wahrheit nicht gänzlich zugunsten reiner Unterhaltung abgeschworen hat; dass es auf dieser Welt immer noch geschätzt wird, wenn jemand so genau und konzise wie möglich über Tatsachen berichtet und es den Leuten ermöglicht, ihre eigenen Schlüsse zu ziehen.
Noch nie war ich so stolz darauf, Mitglied eines Teams zu sein.
Aus Und noch ein Stückchen Wahrheit,
dem Blog von Richard Cousins, 18. März 2040