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Die Vorwahlen vom Superwahldienstag standen kurz bevor, und die Stimmung im Camp des Senators war gedrückt. Eigentlich hätten alle nervös und aufgedreht sein sollen. In wenigen Stunden würden wir erfahren, ob unser Zug wie eine Rakete abheben oder quietschend zum Stehen kommen würde. Stattdessen herrschte im Konvoi Trauerfeieratmosphäre. Die Wachleute überprüften weiterhin jede Handlung doppelt und dreifach, und niemand tat ohne seinen zugewiesenen Partner auch nur einen Schritt vor die Tür. Selbst die austauschbaren Praktikanten wurden langsam unruhig, und denen fiel eigentlich nie viel auf, wenn es nicht mit ihren Pflichten zu tun hatte. Die Lage war übel.

Der Konvoi hatte drei Häuserblocks vom Tagungszentrum entfernt sein Lager aufgeschlagen, auf einem ehemaligen Highschool-Fußballplatz aus der Zeit vor dem Erwachen, bevor Sport im Freien zu gefährlich geworden war. Es handelte sich um ein gutes Fleckchen für unsere Zwecke, mit Strom, fließend Wasser und ausreichend Platz, um einen Grenzzaun zu errichten, ohne dass dabei physische oder optische Hindernisse die Kamerasicht verdeckten. Aufgrund der zahlreichen Gäste, die sich zu den Feierlichkeiten in Oklahoma City drängten, mussten alle dreißig Minuten Hochsicherheitsbusse zum Tagungszentrum fahren. Jeder dieser Busse war mit modernsten Testeinheiten und bewaffnetem Wachpersonal ausgestattet.

Zwei Tage, nachdem Shaun und ich uns das Videomaterial angesehen und das Sicherheitsteam des Senators darauf aufmerksam gemacht hatten, erhielten wir schließlich die endgültige Bestätigung, dass man Tracy McNally während der Zombieattacke ins Knie geschossen hatte. Damit und aufgrund der gekappten Kreischerdrähte war nun absolut klar, dass es sich bei dem Angriff um einen stümperhaften Mordanschlag gehandelt hatte. Zu jenem Zeitpunkt war der Konvoi gerade im Begriff gewesen, Eakly zu verlassen, und mir kam es vor, als hätten wir dabei auch die letzten Reste von Zuversicht zurückgelassen.

Shaun war der Erste, der den Mordanschlag als stümperhaft bezeichnete. Als der Senator ihn bat, diese Einschätzung zu begründen, zuckte er mit den Schultern und sagte: »Sie sind doch noch am Leben, oder?« Das war kein besonders tröstliches Argument, aber ein gutes. Wenn es nur ein paar mehr Zombies während der ersten Welle gegeben hätte, oder wenn nur noch einige Wachleute mehr so wie Tracy ausgeschaltet worden wären, dann hätte der Konvoi nicht nur ein paar Verluste erlitten er wäre überrannt worden. Entweder hatte es sich nicht wirklich um einen ausgewachsenen Mordanschlag gehandelt, oder er war unglaublich schlecht geplant gewesen. Die erstere Möglichkeit kam uns unwahrscheinlich vor. Immerhin hatte man sich infizierter Menschen bedient.

Der Versuch, die Infizierten als Waffe einzusetzen, hat seit dem Verfahren Raskin-Watts im Jahre 2026 seinen Reiz weitgehend verloren. Damals gab man offiziell bekannt, dass jeder, der aktive Kellis-Amberlee-Viren als Waffe einsetzt, als Terrorist verfolgt werden würde. Welchen Sinn hat es, ein ungenaues, schwer zu kontrollierendes Tötungswerkzeug einzusetzen, wenn man sogar bei einem Scheitern voraussichtlich zu den wenigen Glücklichen gehört, die nach wie vor für die Todesstrafe infrage kommen?

Außer den Kreischern war offenbar keines der Geräte, die der Konvoi mit sich führte, sabotiert worden. Eine Überprüfung der Kameras am Tor bestätigte, dass die Leerstellen durch lokale elektromagnetische Impulse verursacht worden waren hinreichend gerichtet, um nur die Kameras in einem bestimmten Umkreis auszuschalten und dabei nicht die Aufmerksamkeit von Buffys Sensoren auf sich zu ziehen. Solche Geräte kann man in jedem Elektromarkt kaufen. Sie sind tragbar, leicht zu entsorgen und absolut nicht zurückzuverfolgen, wenn man nicht zufällig Modell und Fertigungsreihe kennt, was bei uns nicht der Fall war. Die Leute des Senators hatten seit dem Vorfall jeden vorhandenen Fetzen Beweismaterial überprüft, und trotzdem waren sie kein bisschen näher an der Wahrheit. Falls überhaupt, entfernten sie sich von ihr, weil die Spur inzwischen erkaltet war.

Wer sollte Senator Ryman töten wollen? Für den Anfang wäre wohl »so ziemlich jeder« eine gute Antwort. Senator Peter Ryman hatte am Anfang ziemlich schlechte Karten gehabt, doch irgendwie war er zum Spitzenkandidaten für die Präsidentschaftswahlen aufgestiegen. Bis zum offiziellen Parteitag konnte sich noch alles ändern, aber es ließ sich nicht abstreiten, dass er bei den Umfragen gut dastand, dass er solide Ergebnisse bei einem breiten Spektrum potenzieller Wähler vorzuweisen hatte und dass seine Positionen zu derzeit aktuellen Themen der Mehrheit tendenziell zusagten. Der Umstand, dass er der erste Kandidat war, der seinen Wahlkampf für die Welt der Blogger geöffnet hatte, schadete sicherlich auch nicht bei den Wählern unter fünfunddreißig hatte er sich damit deutlich mehr Aufmerksamkeit verschafft. Die anderen Kandidaten hatten zu lange gebraucht, um zu kapieren, dass ihnen eine Gelegenheit durch die Lappen ging, und jetzt versuchten sie hektisch, aufzuholen. In der Woche unmittelbar nach Eakly erhielten zwei unserer Betas von politischen Konkurrenten Angebote dafür, sie auf ihren Wahlkampftouren zu begleiten. Beide lehnten ab, wobei sie sich auf Interessenkonflikte beriefen. Wer verabschiedet sich schon, wenn die Sache gerade so gut läuft?

Abgesehen von Senator Rymans gefestigtem Vorsprung war er fotogen, beliebt und hatte einen guten Stand bei den Republikanern. Seine Laufbahn wies keine größeren Skandale auf. Niemand bringt es in der Politik so weit wie er und bleibt dabei absolut sauber, aber bei ihm fehlte nicht viel. Der buchstäblich größte Skandal über ihn, der sich auftreiben ließ, bestand darin, dass seine älteste Tochter Rebecca entweder drei Monate zu früh geboren oder vor der Eheschließung gezeugt wurde. Das ist alles. Er ist wie ein großer, freundlicher Pfadfinder, der einfach eines Tages aufgewacht ist und beschlossen hat, der Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika zu werden.

Anscheinend ist er nicht mal bei irgendwelchen Lobbygruppen. Obwohl seine Frau eine Pferderanch betreibt, unterstützt er die Einhaltung von Masons Gesetz, was bedeutet, dass die Tierrechtsorganisationen ihn nicht in der Tasche haben. Andererseits ist er gegen die Jagd im großen Maßstab und gegen Entwaldung, was bedeutet, dass er auch nicht zu den militanten Anti-Natur-Gruppen gehört. Er predigt weder Verdammnis, noch besteht er darauf, dass der säkulare Humanismus die einzige Antwort auf die Welt nach dem Erwachen wäre. Bislang konnte ich noch nicht mal einen Hinweis darauf finden, dass seine Wahlkampagne von der Tabakindustrie unterstützt wird, und praktisch jede Wahlkampagne wird von der Tabakindustrie unterstützt. Seit ihre Kunden nicht mehr an Lungenkrebs sterben, ist sie zum wichtigsten Geldgeber der meisten politischen Kampagnen avanciert. Mit Zigaretten, von denen niemand Krebs kriegt, lässt sich ein Haufen Geld machen.

Eine Menge Leute hätten etwas davon, wenn Peter Ryman plötzlich tot wäre. Vielleicht war es also nicht besonders überraschend, dass gedrückte Stimmung im Konvoi herrschte, als die Vorwahlen näher rückten. Die spielerische Atmosphäre, die in den ersten sechs Wahlkampfwochen geherrscht hatte, war dahin, und stattdessen sah man überall steife Leibwächter mit ausdruckslosen Mienen, die manchmal zu glauben schienen, dass sie selbst nach der Benutzung einer öffentlichen Toilette Bluttests verlangen mussten. Buffy kam ziemlich gut damit klar, vor allem, weil sie ihre Zeit entweder im Innern des Sendewagens oder mit Chuck und seinem Team bei den technischen Geräten verbrachte, aber Shaun und ich drehten fast durch.

Jeder von uns hat seine eigene Methode, mit verrückten Situationen umzugehen. Deshalb war Shaun am Superwahldienstag mit all den anderen Irwins unterwegs, die sich auf der Suche nach etwas Totem, dem sie auf die Nerven fallen konnten, eingefunden hatten, während ich mich mit etwa siebzig anderen Reportern, die allesamt zutiefst verstört wirkten, in den Bus zum Kongresszentrum gezwängt hatte. Mir war nicht ganz klar, warum sich die anderen ganz offensichtlich so unbehaglich fühlten ich hatte meinen Presseausweis dreimal scannen und mir zwei Blutproben abnehmen lassen müssen, bevor man mich auch nur hatte einsteigen lassen. Die einzige Möglichkeit, dass jemand vor Erreichen des Kongresszentrums zum Zombie wurde, bestand darin, dass er aus Nervosität einen Herzanfall erlitt.

Ein angespannt dreinschauender Mann, dessen Hemd auf eine Art und Weise ausgebeult war, die verkündete: »Ich trage eine schlecht sitzende kugelsichere Weste«, stieg ein, und der Fahrer erklärte: »Wir sind voll besetzt. Dieser Bus fährt nun zum Tagungszentrum.« Das trug ihm einen kurzen Applaus von den Fahrgästen ein, die größtenteils aussahen, als ob sie gerade ihre Berufswahl bereuten. Niemand hatte ihnen jemals gesagt, dass sie mit anderen Leuten reden mussten, wenn sie Reporter sein wollten!

Falls ich den Eindruck erwecke, dass ich wenig Respekt vor den anderen Angehörigen meines Berufsstands habe, liegt das daran, dass das im Allgemeinen auch zutrifft. Für jeden Dennis Stahl, der bereit ist, rauszugehen und seine Story festzunageln, gibt es drei bis vier »Reporter«, die lieber aus der Ferne aufgenommenes Videomaterial zusammenschnipseln, Leute per Telefon interviewen und nie das Haus verlassen. Es gibt eine recht beliebte Nachrichtenseite, Unter der Lupe, die sogar ein Verkaufsargument daraus macht: Ihre Betreiber behaupten, dass sie wahrhaft objektiv sind, weil keiner ihrer Newsies jemals ins Feld geht. Keiner von ihnen hat eine Lizenz der Klasse A, und sie benehmen sich, als wäre das ein Grund zum Prahlen, als ob es gut wäre, möglichst weit weg von den Ereignissen zu sein. Wenn die Paparazzischwärme zu irgendetwas gut sind, dann dazu, diese Einstellung zurückzudrängen.

Angst macht die Menschen dumm, und Kellis-Amberlee hält sie seit zwanzig Jahren in Angst und Schrecken. Irgendwann kommt der Punkt, an dem man seine Angst überwinden und sein Leben weiterleben muss, und viele Menschen scheinen dazu nicht mehr fähig zu sein. Wir haben den Kult der Angst mit offenen Armen aufgenommen, von Blutproben bis zu Gated Communities, und jetzt wissen wir anscheinend nicht mehr, wie man ihn wieder auf seinen Platz verweist.

Die Fahrt zum Kongresszentrum verlief beinahe schweigend, nur unterbrochen von den zahlreichen Piep- und Summlauten, mit denen die Geräte der Leute sich neu justierten, während wir durch mehrere Netzbereiche mit abgeschirmten Frequenzen fuhren. Die mobile Kommunikation ist inzwischen an dem Punkt angelangt, an dem man praktisch mitten im Regenwald oder auf einem Eisberg in unbekannten Gewässern stehen muss, um tatsächlich einmal »keinen Empfang« zu haben, aber private Schutzzonen und Verschlüsselungstechnologien haben sich etwa im gleichen Tempo weiterentwickelt, was oft dazu führt, dass man zwar Empfang hat, aber nicht aufs Netz zugreifen kann, weil einem der Zugangscode fehlt.

Eigentlich sollen Standardfrequenzen nicht gestört werden. Das hindert übereifrige Sicherheitsdienste allerdings nicht daran, bisweilen alles bis auf den Notruf zu sperren. Es war ebenso einfach wie amüsant, die freiberuflichen Journalisten in der Menge auszumachen: nämlich diejenigen, die ihre Organizer in ihre Handflächen schlugen, als könnte man damit irgendwie die richtigen Zugangscodes fürs Kongresszentrum aus ihnen herausholen. Die Sicherheitstechniker dieser Welt können von Glück sagen, dass das bislang noch nie funktioniert hat, und so waren die Freiberufler noch immer damit beschäftigt, ihre Geräte zu misshandeln, als wir unser Ziel erreichten.

Die Bushaltestelle befand sich in einer unterirdischen, gut ausleuchteten Parketage, genau auf halbem Weg zwischen Zu- und Ausfahrt. Als der Bus sich näherte, hob sich das Zufahrtstor. Wenn hier die üblichen Sicherheitsvorkehrungen galten, verhinderte ein Spezialschalter, dass Zu- und Ausfahrt gleichzeitig offen standen. Sobald etwas den Gebäudealarm auslöste, würden beide sich herabsenken und einrasten. In Bezug auf moderne Sicherheitsanlagen ist das Wort »Todesfalle« nicht unbedingt etwas Schlechtes. Es geht mehr darum, Verluste zu minimieren, als darum, sie ganz zu verhindern.

Sicherheitskräfte mit ausdruckslosen Mienen kamen auf den Bus zu, als die Türen aufgingen. Jeder von ihnen hatte eine Bluttesteinheit in der Hand. Mit einem unterdrückten Stöhnen stieg ich aus und ging auf den ersten freien Wachtposten zu. Ich rückte den Schultergurt meiner Tasche zurecht und streckte ihm meine Hand entgegen. Er stülpte das Gerät darüber.

»Presseausweis«, sagte er.

»Georgia Mason, Nach dem Jüngsten Tag.« Ich löste den Presseanstecker von meinem Hemd und hielt ihn ihm hin. »Ich gehöre zu Senator Ryman.«

Er schob den Ausweis in das Lesegerät an seiner Hüfte. Es piepte und warf ihn wieder aus. Der Wachtposten gab ihn mir zurück und blickte auf die Testeinheit, an der ein grünes Licht blinkte. Er runzelte die Stirn. »Bitte setzen Sie die Brille ab, Ms Mason.«

Wunderbar. Einige der extrem empfindlichen Geräte kommen aufgrund der erhöhten Zahl inaktiver Viren durcheinander, die retinales KA verursacht. Ich war nicht gerade wild darauf, meine Augen dem grellen Licht in der Tiefgarage auszusetzen, aber ich hatte auch keine Lust, vorsichtshalber erschossen zu werden. Also setzte ich meine Sonnenbrille ab und unterdrückte den Drang zu blinzeln.

Der Wachtposten beugte sich vor und begutachtete meine Augen. »Retinales Kellis-Amberlee«, sagte er. »Haben Sie eine Med-Card dabei?«

»Ja.« Niemand mit von Natur aus erhöhter Virenkonzentration geht ohne eine Med-Card aus dem Haus, wenn ihm sein Leben lieb ist. Ich holte mein Portemonnaie hervor, zog die Karte heraus und reichte sie ihm. Er steckte sie hinten in die Testeinheit. Das Grün hörte auf zu blinken, wurde gelb und leuchtete dann schließlich stetig grün. Offenbar war das Gerät nun überzeugt, dass meine Virenkonzentration sich innerhalb normaler Grenzwerte befand und kein Grund zur Sorge bestand.

»Danke für Ihre Kooperation.« Er gab mir meine Karte zurück, die ich einsteckte, bevor ich meine Sonnenbrille wieder aufsetzte. »Werden Ihre Mitarbeiter uns heute ebenfalls besuchen?«

»Heute nicht.« Nachdem er meinen Presseausweis eingelesen hatte, wusste er alles über unsere Truppe, was es zu wissen gab: unsere beruflichen Laufbahnen, wie unsere Quoten standen, welche Klagen gegen uns liefen, wie viele von uns den Senator und sein Team begleiteten. »Wo finde ich «

»Informationsstände befinden sich im Gebäude, die Treppe hoch und dann links«, sagte er, während er sich dem nächsten wartenden Journalisten zuwandte.

Fließbandmentalität. Nicht besonders herzlich, aber effektiv. Durch eine Glastür betrat ich das eigentliche Tagungszentrum, in dem ich hoffentlich in Kürze eine Toilette auftreiben würde. Das Licht hatte tanzende Flecken vor meinen Augen hinterlassen, und die würde ich nur wegkriegen, indem ich ein paar Schmerztabletten schluckte, bevor meine Migräne richtig aufblühen konnte. Die Chancen, das Unheil abzuwenden, standen schlecht, aber angesichts der Vorstellung, mit Brummschädel einen Tag unter Politikern und Reportern zu verbringen, musste ich es zumindest versuchen.

Die Klimaanlage lief auf Hochtouren, obwohl es Februar war und wir uns in Oklahoma befanden. Der Grund für die arktische Kälte war offensichtlich: Es war rammelvoll. Trotz der Xenophobie, die die Welt seit dem Erwachen in ihrem Griff hält, gibt es nach wie vor Dinge, die von Angesicht zu Angesicht stattfinden müssen, und Parteitage gehören dazu. Wenn überhaupt sind die Parteitage im selben Maße, in dem die kleineren politischen Veranstaltungen geschrumpft sind, gewachsen. Wenn sich mehr als zehn oder zwanzig Leute an einem Ort versammeln, besteht immer die Gefahr eines Ausbruchs, aber der Mensch ist von Natur aus ein soziales Wesen, und dann und wann braucht man einfach einen Vorwand, um zusammenzukommen.

Schon vor dem Erwachen war der Superwahldienstag eine große Sache. Heutzutage handelt es sich um einen Riesenzirkus. Neben den Vertretern der politischen Fraktionen und Lobbygruppen finden sich im Kongresszentrum Messehallen und sogar ein vorübergehend eingerichtetes Minieinkaufszentrum mit allerlei Dienstleistern und Händlern. Geben Sie ihre Stimme für den nächsten Präsidentschaftskandidaten ab, und kaufen Sie sich gleich noch ein Paar neue Laufschuhe! Sie wissen, dass alle Anwesenden auf Virenüberflutung geprüft worden sind, also lassen Sie es mal richtig krachen!

Die Kombination von plötzlicher Kälte und dem Gedränge so vieler Leiber genügte, um meine Kopfschmerzen pulsierend zum Ausbruch zu bringen. Ich zog die Schultern hoch und begann, mich quer durch die Menge Richtung Fahrstühle zu schieben. Wahrscheinlich würde man am Informationsstand erfahren, wo sich sowohl die Toiletten als auch das befand, was in diesem Zoo hier als Pressebüro durchging.

Dorthin zu kommen war leichter gesagt als getan, doch nachdem ich eine Weile gegen den Strom der Delegierten, Verkäufer, Wähler und Touristen geschwommen war, die um des lieben Spaßes willen gerne die unangenehmen Sicherheitsprozeduren über sich ergehen ließen, schaffte ich es schließlich zum Aufzug, in dem ich mich mit aller Kraft am Geländer festhielt. Ich halte zwar die Neigung des Durchschnittsamerikaners, sich drinnen zu verkriechen, während das Leben an ihm vorbeirauscht, für eine Überreaktion auf ein derzeit unvermeidliches Problem, aber ich bin trotzdem ein Kind meiner Zeit: Fünfzehn Personen sind für mich eine Menschenmenge. Der wehmütige Ausdruck, der manchmal in die Augen älterer Leute tritt, wenn sie von Zusammenkünften von sechs- oder siebenhundert erzählen, ist mir völlig fremd. So bin ich nicht aufgewachsen, und es fühlt sich für mich einfach falsch an, so viele Leiber an einem Ort zusammenzupferchen, selbst wenn der Ort so geräumig ist wie das Kongresszentrum in Oklahoma City.

Aus der Zusammensetzung der Menge schloss ich, dass ich mit dieser Einstellung nicht allein dastand. Abgesehen von den Leuten, die in den Unternehmensfarben des einen oder anderen Ausstellers gekleidet waren, war ich die jüngste Person weit und breit. Ich bin besser an Menschenmengen akklimatisiert als die meisten anderen nach dem Erwachen Geborenen, weil ich mich dazu gezwungen habe. Neben dem Kontakt mit Paparazzihorden war ich auch schon bei Technikkongressen und akademischen Konferenzen und habe mich dabei an die Vorstellung gewöhnt, dass Menschen sich zu Gruppen zusammenfinden. Hätte ich nicht die letzten paar Jahre damit verbracht, mich auf diesen Moment vorzubereiten, dann wäre ich schreiend aus dem Saal gerannt, worauf die Sicherheitskräfte wahrscheinlich einen Ausbruch vermutet und uns alle eingesperrt hätten.

So bin ich eben. Immer optimistisch.

Sobald ich aus dem Fahrstuhl trat, sah ich den Informationsstand: Ein buntes Achteck, umgeben von spärlich bekleideten jungen Damen, die Zigaretten verteilten. Ich drängte mich an ihnen vorbei, wobei ich drei Zigarettenschachteln ablehnte, und musterte mit zusammengekniffenen Augen den Plan des Tagungszentrums. »Sie sind hier«, las ich brummelnd. »Großartig. Ich weiß schon mal, wo ich bin. Und der Wasserhahn ist dann wo genau?«

»Nichtraucherin?«, erkundigte sich jemand neben mir. Ich drehte mich um und sah mich Dennis Stahl von der Eakly Times gegenüber. Er lächelte, und sein Presseausweis klemmte am Kragen seines etwas zerknitterten Jacketts. »Sie kamen mir doch gleich bekannt vor.«

»Mr Stahl«, sagte ich mit gehobenen Brauen. »Ich hatte nicht damit gerechnet, Sie hier anzutreffen.«

»Weil ich von der Zeitung bin?«

»Nein. Weil sich in diesem Saal etwa die halbe Bevölkerung Nordamerikas aufhält. Ohne einen Peilsender würde ich hier nicht mal meinen Bruder finden, geschweige denn ihm zufällig über den Weg laufen.«

Mr Stahl lachte. »Na schön.« Eine der leichtbekleideten jungen Frauen nutzte die Ablenkung, um ihm eine Schachtel Zigaretten in die Hand zu drücken. Er beäugte sie zweifelnd und hielt sie mir dann hin. »Zigarette?«

»Tut mir leid, ich rauche nicht.«

Er legte den Kopf auf die Seite. »Warum nicht? Ich glaube, eine Zigarette wäre das i-Tüpfelchen für Ihre demonstrative Aura knallharter journalistischer Integrität.« Ich hob die Brauen noch weiter. Er lachte. »Kommen Sie schon, Ms Mason. Sie kleiden sich ganz in Schwarz, haben einen tragbaren MP3-Player dabei so ein Gerät habe ich seit Jahren nicht gesehen , und Sie setzen niemals Ihre Sonnenbrille ab. Glauben Sie wirklich, dass ich ein Image nicht erkenne, wenn ich es sehe?«

»Zuerst einmal leide ich an retinalem KA. Die Sonnenbrille ist eine medizinische Notwendigkeit. Zweitens « Ich hielt lächelnd inne. »Sie haben mich ertappt. Es ist ein Image. Aber ich rauche trotzdem nicht. Wissen Sie, wo hier die Toiletten sind? Ich brauche etwas Wasser.«

»Ich bin seit drei Stunden hier, und ich habe noch keine Toiletten gesehen«, antwortete er. »Aber es gibt ein gut verstecktes Starbucks da hinten bei den Messeständen. Macht es Ihnen was aus, wenn ich Sie begleite?«

»Wenn es da Wasser gibt, bin ich ganz und gar einverstanden«, sagte ich und wehrte dabei eine weitere Zigarettenschachtel ab.

Mr Stahl nickte und legte mit einer ausholenden Armbewegung einen Weg durch die Menge frei. »Wasser oder einen angemessenen Ersatz«, versprach er. »Als Gegenleistung müssen Sie mir eine Frage beantworten warum rauchen Sie nicht? Wie gesagt, es käme mir wie das i-Tüpfelchen zu Ihrem Image vor. Persönliche Gründe?«

»Ich lege Wert auf ausreichend Lungenkapazität, um vor den lebenden Toten wegzurennen«, antwortete ich trocken. Mr Stahl hob eine Braue, und ich zuckte mit den Schultern. »Im Ernst. Man kriegt keinen Krebs mehr von Zigaretten, aber sie verursachen nach wie vor Emphyseme, und mir ist nicht danach, mich von einem Zombie fressen zu lassen, nur weil ich cool aussehen will. Außerdem kann der Rauch empfindliche Elektrogeräte stören, und bei den meisten Sachen ist es so schon schwer genug, sie im Feld am Laufen zu halten. Ich will all dem Scheiß, den die Dinger verkraften müssen, nicht noch eine zusätzliche Umweltverschmutzung hinzufügen.«

»Hm. Und ich hatte gedacht, dass wir wieder in einer Welt leben würden, wo jeder knallharte Journalist acht Schachteln am Tag raucht, nachdem sich die Sache mit dem Krebs erledigt hat.«

An den Messeständen wurden Waren aller Art feilgeboten, von gefriergetrockneter Nahrung, die sich garantiert für die Dauer jeder Belagerung halten sollte, bis zu mittelalterlichen Waffen mit eingebautem Spritzschutz. Wenn einem der Sinn nach einem angenehmeren Zeitvertreib stand, fand man die übliche Auswahl von neuen Autos, Haarpflegemitteln und Kinderspielzeug, wobei ich zugeben musste, dass der Mattel-Stand mit der Urban-Survival-Barbie, jetzt mit Machete und Bluttestgerät, eine gewisse Anziehungskraft auf mich ausübte.

»Dann gehen Sie wohl davon aus, dass ›alle knallharten Journalisten‹ im Doppelpack mit Eltern geliefert werden, denen es nichts ausmacht, wenn ihre zu Hause wohnenden Sprösslinge die Gardinen einräuchern«, sagte ich. »Was ist mit Ihnen? Sie stecken sich ja auch keine an.«

»Asthma. Ich könnte rauchen, wenn ich wollte. Was dazu führen könnte, dass ich kurz darauf mit in die Brust verkrallten Händen auf der Straße liege. Kommt mir weniger spaßig vor.« Er zeigte ans Ende der Reihe von Messeständen. »Da ist der Starbucks. Was führt Sie hierher?«

»Das Übliche: Ich folge dem Senator auf Schritt und Tritt wie ein Kätzchen an der Leine. Und Sie?«

»Bei mir ist es so ähnlich, nur allgemeiner.« Es gab keine Schlange im Starbucks, nur drei gelangweilt aussehende Bedienungen, die sich auf die Theke stützten und versuchten, beschäftigt auszusehen. Mr Stahl ging auf sie zu und sagte: »Einen großen schwarzen Kaffee bitte, zum Mitnehmen.«

Die Bedienungen wechselten Blicke, und eine setzte sich in Bewegung, um seiner Bestellung nachzukommen.

Dennis blickte mich an. »Möchten Sie was?«

»Nur eine Flasche Wasser, danke.«

»Wird gemacht.« Er nahm seinen Kaffee entgegen und reichte mir ein Wasser, während er der Bedienung an der Kasse seine Kreditkarte hinhielt.

Ich kramte in meiner Tasche. »Was bin ich Ihnen schuldig?«

»Vergessen Sie’s.« Er ging zu einem freien Tisch, und ich setzte mich ihm gegenüber. Er lächelte. »Betrachten Sie es als Gegenleistung für die Auflagen, die ich nach dem kleinen Zwischenfall beim Wahlkampf vor ein paar Wochen hatte. Erinnern Sie sich?«

»Wie könnte ich das vergessen.« Ich zog eine Dose mit Schmerztabletten aus meiner Umhängetasche, die immerhin so wirksam waren, dass man sie nur auf Rezept bekam. »Dieser ›kleine Zwischenfall‹ bestimmt seit Wochen mein Leben.«

»Haben Sie irgendwelche saftigen Einzelheiten für einen alten Freund?«

Der Versuch, die Tatsache unter Verschluss zu halten, dass man unsere Kreischer sabotiert hatte, wäre sinnlos gewesen. Selbst, wenn wir bereit gewesen wären, unseren Quoten derart zu schaden, hätten die Familien der Todesopfer uns wegen Behinderung der Ermittlungen bei einem Kapitalverbrechen verklagen können, wenn wir versucht hätten, etwas Derartiges zurückzuhalten. Ich schüttelte den Kopf. »Nichts, was die Presse nicht bereits veröffentlicht hätte.«

»Das ist die Gefahr dabei, Insiderquellen anzuzapfen«, sagte Mr Stahl und nippte an seinem Kaffee. »Aber im Ernst, wie läuft es bei Ihnen im Konvoi? Reibungslos?«

»Verhältnismäßig.« Ich schüttelte mir vier Tabletten in die Handfläche und stürzte sie mit einem tiefen Schluck eiskalten Wassers runter. Dann fügte ich hinzu: »Die Lage ist angespannt, aber alles läuft reibungslos. Es gibt praktisch keine Hinweise darauf, wer unseren Sicherheitszaun sabotiert hat. Das hat natürlich eine gewisse innere Unruhe zur Folge, wenn Sie verstehen, was ich meine.«

»Unglücklicherweise durchaus.« Mr Stahl schüttelte den Kopf. »Wer auch immer es war, er muss seine Spuren sorgfältig verwischt haben.«

»Und aus gutem Grund. Bei der Attacke sind Menschen ums Leben gekommen. Damit handelt es sich um Mord, und das heißt, dass den Tätern gemäß Raskin-Watts der Prozess gemacht werden kann. Die meisten Leute verüben keine Terroranschläge, wenn sie damit rechnen, erwischt zu werden.« Diesmal langsamer nahm ich einen weiteren Schluck Wasser, während ich darauf wartete, dass die Schmerztabletten anschlugen.

Mr Stahl nickte mit fest zusammengepressten Lippen. »Ich weiß. Carl Boucher war ein Sprücheklopfer und ein sturer Mistkerl, aber so einen Tod hat er nicht verdient. Keiner dieser Leute hat das. Ob man nun ein guter oder ein schlechter Kerl ist, niemand verdient einen solchen Tod.« Er stand mit seinem Kaffee in der Hand auf. »Tja, ich muss mich jetzt mit meinem Kamerateam treffen. In einer halben Stunde interviewen wir Wagman, und sie mag es gar nicht, wenn Journalisten unpünktlich sind. Passen Sie auf sich auf, Ms Mason, ja?«

»Ich tue mein Bestes«, antwortete ich nickend. »Sie haben meine E-Mail-Adresse.«

»Ich melde mich«, versicherte er mir, drehte sich um und wurde von der Menge verschluckt.

Ich blieb, wo ich war, trank mein Wasser und dachte über die Atmosphäre hier im Raum nach. In gewisser Weise fühlte es sich an wie eine Kreuzung aus Karneval und Studentenparty. Menschen jeden Alters und aller Denk- und Glaubensrichtungen, die darauf aus waren, sich so gut wie möglich zu amüsieren, bevor sie in weniger sichere Gefilde zurückkehren mussten. Schilder, die von der Decke hingen, wiesen den Wählern der verschiedenen Bezirke den Weg, falls sie ihre Stimmen auf die gute, alte persönliche Art abgeben wollten, anstatt von zu Hause mit dem elektronischen Wahlzettel, der sofort ausgewertet wird. Daraus, dass die meisten Leute die Schilder überhaupt nicht beachteten, schloss ich, dass sie ihre Stimmen bereits online abgegeben hatten, bevor sie sich auf den Weg ins Kongresszentrum gemacht hatten. Die Wahlkabinen mit den Zetteln aus Papier sind vor allem eine Kuriosität, die es nur noch deshalb gibt, weil das Gesetz darauf besteht, dass jeder, der will, seine Stimme persönlich statt elektronisch abgeben kann. Im Endeffekt führt das nur dazu, dass man erst dann genaue Wahlergebnisse kriegt, wenn die Papierzettel ausgewertet sind, selbst, wenn fünfundneunzig Prozent der Wähler bereits elektronisch abgestimmt haben.

Die Zigarettenfirmen waren nicht die Einzigen, die auf die altbewährte Werbewirksamkeit spärlich bekleideter Frauenkörper setzten, um ihre Waren unters Volk zu bringen. Mädchen, von denen die meisten kaum mehr als einen Bikini und ein Lächeln anhatten, schlängelten sich durch die Menge und verteilten Anstecker und Fähnchen mit politischen Slogans an die Passanten. Mehr als die Hälfte dieser Kinkerlitzchen fand bald schon ihren Weg in die nächste Mülltonne oder auf den Boden. Mir fiel allerdings auf, dass die meisten der Anstecker, die die Leute behielten, entweder für Senator Ryman oder für Gouverneur Tate warben, der sich eindeutig zu Rymans schärfstem Konkurrenten innerhalb der Partei mauserte. Die Kongressabgeordnete Wagman war mit ihrer Nummer ziemlich weit gekommen, aber man war sich im Großen und Ganzen darüber einig, dass für sie das Ende der Fahnenstange in Sicht war. Man kann sich eine ganze Weile erfolgreich als Pornostar gebärden, aber ins Weiße Haus schafft man es damit nicht. Derzeit deutete alles darauf hin, dass die Republikaner entweder Ryman oder Tate nominieren würden.

Der heutige Tag würde voraussichtlich einem von beiden einen soliden Vorsprung verschaffen, wodurch der bevorstehende Parteitag nur noch eine Formalität sein würde. Ich hatte darauf gehofft, dass noch ein dritter Kandidat für wenigstens etwas Wirbel sorgen würde, aber während der Wahlkampftouren war niemand groß rausgekommen. Die Wähler der Republikaner und selbst die der Demokraten und der Splitterparteien schenkten ihre gesamte Aufmerksamkeit und damit auch ihre politische Unterstützung entweder Rymans entspannter Haltung der Marke »Solange wir auf der Welt sind, sollten wir sehen, dass wir uns vertragen« oder Tates Fegefeuer-und-Verdammnis-Rhetorik.

Ich tippte auf meine Uhr, um die Memofunktion einzuschalten, hob sie an den Mund und murmelte: »Erinnerung: Versuch, irgendwann nach dem Ende der Vorwahlen ein Interview mit jemandem aus Tates Lager zu kriegen, egal, wie das Ergebnis aussieht.« Technisch gesehen zählen Shaun, Buffy und ich für ihn als »rivalisierende Journalisten«, da wir uns vor allem der Begleitung von Rymans Kampagne widmen. Gleichzeitig sind wir jedoch alle auf die Prinzipien journalistischer Integrität eingeschworen, und das bedeutet, dass man sich zumindest offiziell darauf verlassen kann, dass wir fair und unvoreingenommen berichten, es sei denn, es handelt sich bei einem Beitrag um einen klar als solchen gekennzeichneten Kommentar. Wenn ich nah genug an Tate herankam, um in Erfahrung zu bringen, wie er tickte, dann änderte das vielleicht etwas an meiner zunehmenden Abneigung gegen seinen politischen Standpunkt. Oder auch nicht, womit ich dann einen Grund mehr haben würde, mich für Ryman einzusetzen. So oder so würde es einen guten Beitrag abgeben.

Mein Wasser war fast alle, und ich war nicht zum Tagungszentrum gekommen, um mir die Leute anzuschauen und bei den Lokalreportern Freigetränke zu schnorren, mochte das auch noch so viel angenehmer sein als das Leben im Konvoi. Ich tippte mir an den Ohrstecker. »Ruf Buffy an.«

Ein Moment verstrich, während das Gerät die Verbindung herstellte, und dann erklang Buffys fragende Stimme in meinem Ohr. »Welch rühmlichen Dienst darf die Unwürdige Ihrer Majestät an diesem gepriesenen Nachmittag erweisen?«

Ich grinste schief. »Hab ich dich beim Pokerspielen gestört?«

»Genau genommen haben wir gerade ferngesehen.«

»Das wird aber langsam ziemlich gemütlich mit dir und Chuckles, findest du nicht?«

Buffys Antwort klang steif. »Kümmere dich nicht um meine Angelegenheiten, dann halt ich mich auch aus deinen raus. Außerdem bin ich nicht im Dienst. Es gibt nichts zu schneiden, und all mein Material für diese Woche ist bereits auf den Server geladen und geht nach und nach online.«

»Soll mir recht sein.« Entgegen meiner Befürchtungen sorgten die Schmerzmittel tatsächlich dafür, dass es in Sachen Kopfschmerzen bei einem leicht nervigen Pochen in meinen Schläfen blieb. »Kannst du mir sagen, wo sich der Senator gerade aufhält? Ich bin im Tagungszentrum, und es ist das reinste Irrenhaus. Wenn ich mich allein auf die Suche nach ihm mache, verschwinde ich vielleicht auf Nimmerwiedersehen.«

»Und weshalb genau sollte ich dazu in der Lage sein, einen Regierungsvertreter ausfindig zu machen?«

»Ich weiß, dass du mindestens einen Sender an dem Mann befestigt hast, und du lässt kein Gerät aus den Augen, ohne es orten zu können.«

Buffy schwieg einen Moment lang. Dann fragte sie: »Bist du in der Nähe einer Datenbuchse?«

Ich schaute mich um. »Etwa drei Meter weiter ist ein öffentlicher Anschluss.«

»Wunderbar. Die Online-Lagepläne des Kongresszentrums sind nämlich nicht frei verfügbar aus ›Sicherheitsgründen‹ oder so. Geh da hin und stöpsel dich ein, dann kann ich dir Senator Rymans gegenwärtige Position durchgeben, vorausgesetzt, dass er nicht im Umkreis von zwanzig Metern um einen Störsender steht.«

»Habe ich in letzter Zeit mal erwähnt, wie gern ich dich habe?« Ich stand auf, schmiss meine Flasche in eine Recyclingtonne und ging an den Anschluss. »Chuck also, was? Niedlich ist er wohl schon, wenn man diese dürren Technikertypen mag. Ich persönlich hätte mir was Größeres gesucht, aber wenn du deinen Spaß an ihm hast. Hauptsache du weißt, wo er sich rumtreibt.«

»Ja, Mutter«, sagte Buffy. »Bist du schon da?«

»Stöpsel mich gerade ein.« Es dauerte nur einen Augenblick, meinen Organizer anzuschließen. Die Standardisierung der Datenübertragung ist ein wahrer Segen für die technisch unfähigen Computernutzer dieser Welt. Mein System brauchte ein paar Sekunden, um eine Verbindung mit den Servern des Kongresszentrums herzustellen, vor allem, um die Antivirus- und Antispamsoftwares auf Kompatibilität zu prüfen. Dann signalisierte das Gerät mit einem Piepen Bereitschaft. »Ich bin drin.«

»Wunderbar.« Buffy wurde still. Ich hörte sie im Hintergrund tippen. »Ich hab’s. Du bist im Messebereich in der zweiten Etage, stimmt’s?«

»Genau. Beim Starbucks.«

»Vergiss den Singular. Allein auf der Etage gibt es acht Starbucks-Stände. Bring mir auf dem Rückweg einen Vanille-Himbeer-Mokka ohne Zucker mit. Der Senator befindet sich im Konferenzbereich drei Etagen weiter unten. Ich schicke dir eine Karte.« Mein Organizer meldete mit einem Piepen den Empfang. »Das sollte reichen, vorausgesetzt, er geht nicht woandershin.«

»Danke, Buffy.« Ich zog den Stecker aus der Wand. »Viel Spaß.«

»Ruf mindestens eine Stunde lang nicht wieder an.« Die Verbindung wurde unterbrochen.

Kopfschüttelnd konzentrierte ich mich auf die Karte, die auf meinem Display zu sehen war. Sie war ziemlich einfach gestaltet und zeigte das Tagungszentrum in so klaren Linien, dass ich den Weg kaum verfehlen konnte. Die letzte bekannte Position des Senators war rot markiert, und eine dünne gelbe Linie verband ihn mit dem blinkenden weißen Punkt, der den Anschluss repräsentierte, an dem ich die Informationen heruntergeladen hatte. Gute Arbeit. Ich rückte meine Sonnenbrille zurecht und machte mich auf den Weg durch die Messehalle.

Während meiner Getränkepause war die Menge dichter geworden. Das stellte kein Problem dar: Buffys Kartensoftware war mit einer vollständigen Übersicht über die Fußwege durchs Tagungszentrum ausgestattet und darauf programmiert, die schnellste Verbindung zwischen zwei Punkten anzuzeigen und nicht die kürzeste. Nachdem sie die Stauzeiten überschlagen hatte, zeigte sie mir eine Route durch wenig benutzte Korridore, halb versteckte Abkürzungen und über viele Treppen. Da die meisten Leute wenn möglich Fahrstühle benutzen, besteht die einfachste Möglichkeit, sich nicht in der Menge zu verlieren, oft darin, die Treppe zu nehmen.

Die menschliche Neigung zur Verwendung scheinbar zeitsparender Vorrichtungen ist seit dem Erwachen Thema zahlreicher Untersuchungen gewesen. Bei einem Krisenfall in einer großen Mall im Mittleren Westen hatte es geschätzte sechshundert Todesopfer gegeben, und zwar einzig und allein, weil die Leute nicht willens gewesen waren, die Treppe zu nehmen. Wenn Fahrstühle überfüllt sind, bleiben sie stecken. Die Leute saßen also in Fahrstühlen fest oder wurden in den noch funktionierenden Fahrstühlen von Zombies attackiert. Man sollte meinen, dass die Leute sich nach so einem Vorfall die Mühe machen würden, ein paar Treppen zu steigen, aber dem ist nicht so. Manchmal ist die hartnäckigste Gewohnheit eben die, nichts außer dem absolut Notwendigen zu tun.

Ich brauchte etwa fünfzehn Minuten, um die drei Etagen nach unten zurückzulegen und an dem oberflächlichen Sicherheitscheck zwischen dem Messebereich und dem Konferenzbereich vorbeizukommen, den nur die Kandidaten, ihre unmittelbaren Familienangehörigen, ihr offizieller Stab und die Presse betreten durften. Bei der Überprüfung scannte man lediglich meinen Presseausweis, um sich zu vergewissern, dass es sich nicht um eine Fälschung handelte, tastete mich nach nicht genehmigten Waffen ab und führte einen einfachen Bluttest mit einer billigen, tragbaren Einheit durch, die von einer Firma stammte, deren Geräte nach meinen Quellen in drei von zehn Fällen falsche Negativmeldungen anzeigen. Ich schätze, wenn man an so einem Ort erst einmal drinnen ist, machen die Leute sich keine großen Sorgen mehr darüber, ob man gesund ist.

Die Ruhe im Konferenzbereich war eine willkommene Abwechslung zum wilden Treiben in den Etagen darüber. Hier unten war das Warten auf Ergebnisse eine richtiggehende Beschäftigung. Es gab immer ein paar Hoffnungsvolle, die bis zum Ende durchhalten würden, selbst wenn die Zahlen bereits deutlich machten, dass sie kaum Aussichten auf den Chefsessel hatten letztlich weiß man, dass fast immer die Parteikandidaten nominiert werden, die am Superwahldienstag gewinnen, und dass man ohne den Rückhalt der Partei kaum eine Chance auf einen Sieg bei den Präsidentschaftswahlen hat. Man darf es gerne versuchen, aber gewinnen wird man wohl nicht. Neun von zehn derjenigen, die während der letzten paar Monate durchs Land getourt sind, können nach der Bekanntgabe der Abstimmungsergebnisse nach Hause gehen. Erst in vier Jahren haben sie die nächste große Gelegenheit, und für manche von ihnen ist diese Wartezeit zu lang: Eine Menge Kandidaten aus diesem Jahr werden es nicht wieder versuchen. An Tagen wie diesem werden Träume geboren und zerschlagen.

Der Senator und sein Team hielten sich in einem mit zahlreichen Polstermöbeln ausgestatteten Konferenzzimmer auf halber Höhe des Korridors auf. Eine Wandplakette identifizierte den derzeitigen Bewohner als »Senator Ryman, Rep., WI«, aber ich klopfte trotzdem, bevor ich auf die Klinke drückte, nur für den Fall, dass drinnen etwas vorging, wobei ich besser nicht stören sollte.

»Herein«, rief jemand kurz angebunden und verärgert. Ich nickte, und da ich offenbar nicht störte, trat ich ein.

Als ich Robert Channing kennengelernt hatte, war mir der Chefassistent des Senators wie ein kleinlicher und selbstgefälliger Mann vorgekommen, der alles verabscheute, was sich seinen Plänen widersetzen könnte. Auch jetzt, nachdem ich ihn ein paar Monate kannte, musste ich diesen Eindruck nicht revidieren. Allerdings war mir inzwischen klar geworden, dass er seine Arbeit sehr gut macht. Er begleitet den Konvoi nicht. Normalerweise hält er sich im Büro des Senators in Wisconsin auf, bucht Säle für seine Auftritte und koordiniert die Pressearbeit, da »drei Amateurjournalisten mit einer völlig unprofessionellen Website nicht gerade eine flächendeckende Berichterstattung gewährleisten«. Komischerweise respektiere ich ihn vor allem deshalb, weil er mir solche Sachen bereitwillig ins Gesicht sagt. Vom ersten Tag an ist er sehr freimütig alles angegangen, was den Einzug des Senators ins Weiße Haus beeinflussen könnte, und wenn er dafür ein paar Leuten auf die Zehen treten muss, macht ihm das offenbar nichts aus. Er ist kein besonders netter Kerl, aber es ist gut, ihn auf seiner Seite zu haben.

Channing schaute mich mit zusammengekniffenen Augen an, und ihm war anzusehen, dass er derzeit wohl eher nicht auf meiner Seite stand. Sein Schlips hing schief, und sein Jackett hatte er über einen Stuhl geworfen. Das verriet mir noch deutlicher als das aufgeknöpfte Jackett des Senators und dessen fehlender Schlips, dass die beiden einen harten Tag hinter sich hatten. Senator Ryman ist recht schnell dabei, auf Korrektheiten zu pfeifen, aber Channing zieht sein Jackett nur aus, wenn der Stress zu groß wird, um ihn mit Tweedstoff am Leib zu ertragen.

»Ich dachte mir, ich komme mal vorbei und schaue, wie es im Fort läuft.« Ich schloss die Tür hinter mir. »Vielleicht kriege ich ja ein paar brauchbare Zitate, wenn die Zahlen reinkommen.«

»Ms Mason«, begrüßte Channing mich steif. Mehrere der namenlosen Praktikanten waren weiter hinten im Zimmer damit beschäftigt, Sachen von verschiedenen Monitoren in ihre Organizer abzutippen. »Bitte versuchen Sie, uns nicht in die Quere zu kommen.«

»Werd mir Mühe geben.« Ich setzte mich auf den nächstbesten freien Stuhl und schaute mit hinter dem Kopf verschränkten Händen zu ihm herüber. Channing gehört zu den Leuten, die es kaum aushalten, dass er aufgrund meiner Sonnenbrille nicht erkennen kann, ob ich ihn ansehe oder nicht.

Verdrießlich erwiderte er meinen Blick, griff dann nach seinem Jackett und ging mit langen Schritten zur Tür. »Ich hole Kaffee«, sagte er, trat auf den Korridor und knallte die Tür hinter sich zu.

Senator Ryman machte keinen Hehl aus seiner Belustigung. Stattdessen platzte er laut lachend mit ihr heraus, als hätte er seit Jahren nichts so Lustiges mehr gesehen wie die Flucht seines Chefassistenten aus dem Zimmer. »Georgia, das war nicht nett«, sagte er schließlich immer noch lachend.

Ich zuckte mit den Schultern. »Ich habe mich nur hingesetzt.«

»Was für ein böses, böses Weibsstück. Ich schätze, Sie sind hier, um in Erfahrung zu bringen, ob Sie noch einen Job haben?«

»Ich habe meinen Job unabhängig davon, ob Sie eine Wahlkampagne haben oder nicht, Senator, und ich kann die Hochrechnungen ebenso gut vom Konvoi aus mitverfolgen wie von hier. Ich wollte mir nur einen Eindruck von der Stimmung im Lager verschaffen.« Ich schaute mich im Zimmer um. Die meisten Anwesenden hatten ihre Jacketts ausgezogen, und manche auch die Schuhe. Leere Kaffeetassen und halb gegessene Butterbrote lagen verstreut auf den Arbeitsflächen, und die meisten Tafeln waren vollgekritzelt mit Tic-Tac-Toe-Spielgittern. »Ich würde auf ›vorsichtigen Optimismus‹ tippen.«

»Wir liegen mit dreiundzwanzig Prozent vorne«, sagte der Senator mit einem knappen Nicken. »›Vorsichtiger Optimismus‹ ist eine treffende Einschätzung.«

»Wie fühlen Sie sich?«

Er runzelte die Stirn. »Wie meinen Sie das?«

»Nun, Sir, irgendwann innerhalb der nächsten « ich schaute demonstrativ auf die Uhr »… sechs Stunden werden Sie erfahren, ob sie Chancen auf eine Nominierung durch Ihre Partei haben, und damit auf das Amt des Präsidenten, oder ob sie den Trostpreis für die zweite Geige kriegen oder schlimmstenfalls überhaupt nichts. Heute beginnt Ihr Sieg oder Ihre Niederlage bei den Wahlen. Also, wie fühlen Sie sich angesichts all dessen?«

»Schrecklich aufgeregt«, sagte der Senator. »Es ist lange her, seit ich zu meiner Frau gesagt habe: ›Weißt du, Schatz, ich glaube, bei diesen Wahlen versuche ich, Präsident zu werden.‹ Und jetzt ist die Sache ernst. Ich habe durchaus gewisse Erwartungen, aber keine allzu großen. Wie auch immer das Wahlergebnis ausfallen wird, das Volk wird gesprochen haben, und ich werde mich mit seiner Entscheidung abfinden müssen.«

»Aber Sie rechnen damit, dass das Volk sich für Sie ausspricht.«

Er fixierte mich mit strengem Blick. »Georgia, ist das hier gerade zu einem Interview geworden?«

»Kann sein.«

»Danke für die Vorwarnung.«

»Vorwarnungen gehören nicht zu meinem Job. Soll ich die Frage wiederholen?«

»Mir ist nicht klar gewesen, dass das eine Frage war«, sagte er in plötzlich ironischem Tonfall. »Ja, ich rechne damit, dass es sich zu meinen Gunsten ausspricht, weil man es nicht so weit bringt wie ich, ohne dabei ein gewisses Ego zu entwickeln, und ich bin der Meinung, dass der durchschnittliche Amerikaner intelligent genug ist, um zu wissen, was das Beste für sein Land ist. Ich hätte mich nicht zur Wahl aufstellen lassen, wenn ich nicht der Meinung wäre, dass ich der beste Mann für den Job bin. Werde ich enttäuscht sein, wenn ich nicht gewählt werde? Ein bisschen. Es ist ganz natürlich, enttäuscht zu sein, wenn man nicht gewählt wird. Aber ich bin bereit, daran zu glauben, dass eine amerikanische Öffentlichkeit, die intelligent genug ist, sich einen Präsidenten zu wählen, auch intelligent genug ist, um zu wissen, was sie will, und wenn sie nicht mich wählt, muss ich wohl noch mal in mich gehen und gründlich darüber nachdenken, wo ich mich bei der Sache vertan habe.«

»Haben Sie bereits über Ihre nächsten Schritte nachgedacht, falls sie nach den heutigen Wahlen gut genug dastehen, um die Kampagne fortzusetzen?«

»Wir werden unsere Botschaft weiter unters Volk bringen. Wir werden uns den Menschen draußen auf der Straße stellen, um zu zeigen, dass ich nicht die Sorte Präsident bin, die sich in ein hermetisch abgeriegeltes Zimmer setzt und die Probleme ignoriert, die dieses Land plagen.« Die Attacke gegen Präsident Wertz war subtil, aber berechtigt. Schon vor seiner Wahl hat man unseren derzeitigen Präsidenten nicht mehr außerhalb gut gesicherter Bereiche innerhalb der Städte gesehen, und die meiste Kritik an seiner Administration gilt seiner Unfähigkeit zu kapieren, wie wenige Menschen die nötigen Mittel haben, ihre Luft filtern zu lassen, bevor sie mit ihr in Berührung kommen. Wenn man ihn reden hört, könnte man meinen, dass Zombieattacken etwas sind, das nur den Leichtsinnigen und Dummen widerfährt, und nicht etwas, wovor neunzig Prozent der Weltbevölkerung jeden Tag Angst haben müssen.

»Wie steht Mrs Ryman zu all dem?«

Senator Rymans Miene wurde sanfter. »Emily ist denkbar erfreut, dass alles so gut läuft. Ich bin mit dem vollen Verständnis und der Unterstützung meiner Familie in diesen Wahlkampf gezogen, und ohne sie wäre ich nicht mal halb so weit gekommen.«

»Senator, in den letzten paar Wochen hat Gouverneur Tate den viele als ihren Hauptgegner innerhalb der Partei sehen sich für strengere Verfahren bei der Überprüfung von Kindern und älteren Menschen sowie für den Ausbau des privaten Schulsystems ausgesprochen, da in den überfüllten öffentlichen Schulen angeblich das Risiko einer großflächigen Virusinkubation und eines Ausbruchs erhöht ist. Wie stehen Sie zu diesem Thema?«

»Tja, Ms Mason, wie Sie wissen, besuchen all meine Töchter die hervorragenden öffentlichen Schulen unserer Heimatstadt. Meine Älteste «

»Das wäre dann Rebecca Ryman, achtzehn Jahre?«

»Ganz genau. Meine Älteste wird diesen Juni ihren Highschoolabschluss machen und plant, im Herbst mit dem Studium der Politikwissenschaft an der Brown University anzufangen, ganz wie ihr alter Herr. Es gehört zu den Pflichten der Regierung, ein freies Schulsystem bereitzustellen, das gleiche Chancen bietet. Was bedeutet, dass wir zusätzliche Bluttests für Kinder unter vierzehn einführen müssen und dass wir mehr Mittel für die Sicherheit in den Schulen brauchen. Wenn wir aber Geld von den öffentlichen Schulen abziehen, weil sie vielleicht irgendwann in Gefahr geraten könnten, kommt mir das ein bisschen vor, als würde man den Schober abbrennen, damit das Heu nicht schimmelt.«

»Was sagen Sie zu der Kritik, dass Ihre Kampagne sich zu sehr auf die säkularen Probleme konzentriert, denen sich unser Land gegenübersieht, und die spirituelle Seite ignoriert?«

Senator Rymans Lippen verzogen sich zu einem Lächeln. »Dazu sage ich: Wenn Gott hier runterkommt und mir beim Aufräumen hilft, dann helfe ich ihm nur zu gerne bei seinen Aufräumarbeiten. Bis dahin mache ich mir lieber Gedanken darüber, wie ich die Menschen ernähre und am Leben erhalte, und überlasse es ihm, sich um die Sachen zu kümmern, an denen ich ohnehin nichts ändern kann.«

Die Tür öffnete sich, und Channing kehrte mit einem Tablett Starbucks-Becher auf den ausgestreckten Armen zurück. Die namenlosen Praktikanten stürzten sich sofort auf ihn. In dem sich anschließenden Chaos landete irgendwie eine geöffnete Coladose vor mir. Ich quittierte sie mit einem dankbaren Nicken und trank einen Schluck, bevor ich fortfuhr: »Wenn Ihre Kampagne heute endet, Senator, wenn das hier der Höhepunkt ihrer bisherigen Arbeit ist war es das dann wert?«

»Nein«, antwortete er. Stille senkte sich über den Raum. Ich konnte beinahe hören, wie sich ihm alle Gesichter zuwandten. »Ihre Leser wissen zweifellos darüber Bescheid, dass diesen Monat ein Anschlag auf mein Camp zum Tod von vier guten Männern und Frauen führte, die meine Kampagne unterstützt haben. Sie haben es getan, weil es ihr Job war, aber auch für ein Ideal, dem sie endlich wieder eine Chance geben wollten. Stattdessen sind sie von uns gegangen, ins nächste Leben, was auch immer es für uns für Helden wie sie bereithält. Wenn diese Männer und Frauen überlebt hätten, könnte ich all das hinter mir lassen, etwas trauriger und etwas klüger, aber in der Überzeugung, das Richtige getan zu haben. Ich wüsste, dass ich mein Bestes gegeben habe und dass ich es beim nächsten Mal vielleicht tatsächlich ins Ziel schaffe. Aber jetzt?

Nichts, was ich tue, wird sie zurückbringen, und wenn ich etwas an dem ändern könnte, was in Eakly passiert ist, hätte ich es schon hundertmal getan. Von meinem Standpunkt aus bleibt mir nur eines übrig, und zwar zu gewinnen. Für das Ideal, in dessen Dienst sie gestorben sind, und für ihr Andenken. Wenn ich also verliere, wenn ich mit leeren Händen heimkehre, wenn ich ihren Familienangehörigen bei nächster Gelegenheit sagen muss: ›Tut mir leid, aber ich habe es doch nicht geschafft‹ nein, dann war es das nicht wert. Aber eine andere Wahl hatte ich nicht.«

Eine lange, benommene Stille trat ein, und dann erfüllte stürmischer Beifall den Raum. Der Großteil kam von den austauschbaren Praktikanten, aber auch die Techniker klatschten und auch Channing, der inzwischen keine Kaffebecher mehr in den Händen hielt. Ich nahm diesen Umstand interessiert zur Kenntnis, bevor ich mich wieder dem Senator zuwandte und nickte.

»Danke, dass Sie sich Zeit für mich genommen haben«, sagte ich, »und viel Glück bei den heutigen Vorwahlen.«

Senator Ryman ließ sein routiniertes Lächeln aufblitzen. »Ich brauche kein Glück. Ich will bloß, dass das Warten ein Ende hat.«

»Und ich will bloß einen ihrer Zugänge verwenden, damit ich das Ganze aufbereiten und zum Hochladen rüberschicken kann.« Ich holte meinen MP3-Player hervor und hielt ihn hoch. »Ich brauche etwa fünfzehn Minuten für den Rohschnitt.«

»Darf ich Ihren Beitrag vor der Herausgabe noch einmal gegenlesen?«, fragte Channing.

»Platz, Großer«, sagte der Senator. »Ich wüsste nicht, warum das nötig wäre. Georgia hat sich uns gegenüber bislang korrekt verhalten, und ich rechne nicht damit, dass sich das ändern wird. Georgia?«

»Sie können das Interview noch mal gegenlesen, wenn sie wollen, aber das wird bloß die Veröffentlichung verzögern«, sagte ich. »Lassen Sie mich meine Arbeit machen, dann steht es noch vor dem Ende der Wahlen auf meiner Startseite.«

»Legen Sie los«, sagte der Senator und wies auf einen freien Platz an der Wand. »Sie kriegen so viele Zugänge, wie Sie brauchen.«

»Danke.« Ich nahm meine Cola, setzte mich rüber und machte mich an die Arbeit.

Einen Bericht zu schneiden ist für mich zugleich leichter und schwerer als für Shaun und Buffy. Mein Material ist selten von den Schauwerten abhängig. Ich muss mich nicht um Kameraperspektiven und Licht kümmern oder darum, ob die Bilder das Richtige vermitteln. Andererseits heißt es, dass ein Bild mehr sagt als tausend Worte, und in der heutigen Zeit, in der Bedürfnisse und Fragen mit Hochgeschwindigkeit befriedigt und beantwortet werden, sind die Leute manchmal nicht mehr dazu bereit, sich mit all den komplizierten Worten herumzuschlagen, wenn ein paar Bilder es angeblich ebenso gut tun. Es ist schwieriger, den Leuten einen Beitrag ganz ohne Bilder oder Filme schmackhaft zu machen. Ich muss dann so schnell wie möglich zum zentralen Thema vorstoßen, es festnageln und vor den Augen des Publikums sein Innerstes zutage fördern.

Mit »Superwahldienstag: Nagelprobe für die Präsidentschaftskandidatur« würde ich nicht gerade Preise einheimsen, aber nachdem ich mein improvisiertes Interview mit Senator Ryman aufbereitet und ein paar Standbilder von ihm eingefügt hatte, war ich mir ziemlich sicher, dass der Beitrag die Leserschaft fesseln und gleichzeitig die Wahrheit vermitteln würde, so, wie sie sich mir dargeboten hatte. Mehr konnte ich kaum verlangen.

Nachdem ich den Beitrag hochgeladen und abgeschickt hatte, tat ich das, was ich nach lebenslanger Übung im wahrheitsgemäßen Berichten am besten konnte: warten. Ich sah den namenlosen Praktikanten beim Herumrennen und Channing beim Auf- und Abgehen zu, während der Senator, der wusste, dass sein Schicksal bereits feststand, ruhig und unerschütterlich über all diesen Leuten thronte. Allerdings wusste er noch nicht, was das Schicksal nun für ihn beschlossen hatte.

Um Mitternacht schlossen die Wahllokale. Alle Monitore im Zimmer wurden auf die wichtigsten Nachrichtensender eingestellt, und ein Dutzend Köpfe sprachen gegeneinander an, in dem Versuch, die Spannung zu steigern und ihre Quoten noch ein kleines bisschen weiter hochzutreiben. Ich konnte es ihnen nicht verdenken, aber das Getue ließ mich dennoch kalt.

Mein Ohrstecker piepte. Ich tippte dagegen.

»Ja.«

»Georgia, hier ist Buffy.«

»Ergebnisse?«

»Senator Ryman hat die Vorwahlen mit einer sauberen Mehrheit von siebzig Prozent für sich entschieden. Er ist elf Punkte nach oben geschnellt, kaum, dass dein Beitrag online war.«

Ich schloss lächelnd die Augen. Einer der Nachrichtensprecher hatte soeben dieselben Informationen oder zumindest etwas in der Art verkündet: Johlen und Jubeln erfüllten den Raum. »Sag es, Buffy.«

»Wir fahren zur Nationalversammlung der Republikaner.«

Manchmal macht die Wahrheit einen tatsächlich frei.

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Die Bedeutung des Falls Raskin-Watts mitsamt aller gescheiterten Urteilsanfechtungen wird im Zuge der jüngeren sensationellen Vorfälle oft übersehen. Wieso auch sollten zwei längst tote religiöse Spinner aus Nordindiana noch die heutige Politik beeinflussen?

Doch das tun sie, und nicht zu knapp. Zum einen stellt die gegenwärtige Tendenz dazu, Geoff Raskin und Reed Watts als »religiöse Spinner« abzutun, eine so extreme Vereinfachung dar, dass es fast schon kriminell ist. Geoff Raskin hat an der Universität von Santa Cruz einen Abschluss in Psychologie gemacht und sich auf die Frage spezialisiert, wie sich große Menschenmengen lenken lassen. Reed Watts war ein ordinierter Geistlicher, der mit problematischen Jugendlichen gearbeitet und eine entscheidende Rolle dabei gespielt hat, mehrere Gemeinden »zurück zu Gott« zu bringen. Kurz gesagt waren sie intelligente Männer, die erkannten, dass sie den gesellschaftlichen Wandel, den Kellis-Amberlee wie eine Sturmwelle mit sich brachte, zu ihrem eigenen Vorteil einsetzen konnten, um ihren Glauben voranzubringen.

Haben Geoff Raskin und Reed Watts fürs Gemeinwohl gearbeitet? Lest die Berichte darüber, was sie mit Warsaw, Indiana, angestellt haben, und überlegt es euch dann. Siebenhundertdreiundneunzig Menschen starben allein in der ersten Infektionswelle, und die Aufräumarbeiten nach der zweiten Welle dauerten sechs Jahre, während denen Raskin und Watts in Hochsicherheitszellen darauf warteten, dass man ihnen den Prozess machte. Laut eigener Aussagen hatten sie beabsichtigt, die lebenden Toten als Drohung einzusetzen, um die Bevölkerung von Warsaw und schließlich die der gesamten Vereinigten Staaten zu ihrem Standpunkt zu bekehren: dass Kellis-Amberlee nämlich die Strafe des Herrn sei und dass alles Gottlose schon bald vom Antlitz der Erde getilgt werden würde.

Das Gericht gelangte zu dem Urteil, dass der Einsatz des aktiven Kellis-Amberlee-Virus als Waffe, wie ihn die gefangenen Zombies darstellten, als Terrorhandlung einzustufen sei und dass jede derartige Tat gemäß der internationalen Antiterrorgesetze von 2012 zu ahnden sei. Geoff Raskin und Reed Watts wurden mit Giftspritzen hingerichtet, und ihre Leichen wurden der Regierung überstellt, zur weiteren Untersuchung des Virus, bei dessen Verbreitung sie geholfen hatten.

Die Moral von der Geschichte lautet abgesehen von dem offensichtlichen »Spiel nicht mit den Toten«, dass es Grenzen gibt, die niemals überschritten werden sollten, egal, welch gute Absichten man verfolgt.

Aus Unschöne Bilder, dem Blog von Georgia Mason,
11. März 2040