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Bei aller Eile waren die Vorschriften zur der Grundsatzrede des Senators und der darauffolgenden Dinnerparty unglücklicherweise eindeutig: Förmliche Garderobe war Pflicht, selbst für Journalisten. Möglicherweise galt das sogar insbesondere für Journalisten – schließlich bezahlten alle anderen Anwesenden eintausendfünfhundert Dollar für das Privileg, im selben Raum mit Senator Ryman Gummihuhn zu essen, während wir durch das lästige Schlupfloch namens »Pressefreiheit« reinkamen. Würde man uns aussperren, wären wir ziemlich garstig geworden. Wenn man uns reinließ, uns verwöhnte, hätschelte und auf unseren Platz verwies, konnte man zumindest den Anschein von Kontrolle wahren. Das mag noch keinen großen Skandal daran gehindert haben, ins Rollen zu kommen, aber es hat eine Menge dazu beigetragen, die kleineren unter den Teppich zu kehren, wo sie hingehörten.
Die Mitarbeiter der Kampagne waren vorsichtig mit unserem Gepäck gewesen und hatten meine und Shauns Sachen an entgegengesetzten Enden des Trailers aufgestellt, in dem wir während unseres Aufenthalts in Sacramento wohnen würden. Unglücklicherweise war das passiert, bevor Shaun auf der Suche nach seiner eigenen Abendgarderobe wie ein Wirbelwind hindurchgefegt war. Meine Koffer waren unter einer dicken Schicht aus Shauns Klamotten, Waffen, Papierkram und anderem Zeug begraben. Ich brauchte gut zehn Minuten, um sie freizulegen, und weitere fünf, um den Koffer mit meiner eigenen Abendgarderobe zu finden. Dabei fluchte ich unentwegt auf Shaun, um mich abzulenken.
Für Männer ist förmliche Garderobe eine vernünftige Angelegenheit: Hose, Anzugjacke, Kummerbund. Selbst ein Schlips kann ganz nützlich sein, da man ihn im Notfall als Kompresse oder Würgeschlinge verwenden kann. Die förmliche Garderobe für Frauen hat sich dagegen seit dem Erwachen nicht geändert: Sie ist anscheinend nach wie vor darauf ausgelegt, uns bei der ersten sich bietenden Gelegenheit umzubringen. Scheiß drauf. Meine Garderobe war maßgefertigt. Den Rock kann ich bei Bedarf abreißen, im Oberteil ist Platz für zwei Aufzeichnungsgeräte und eine Pistole, und es gibt eine versteckte Hüfttasche für Ersatzmunition. Selbst mit all diesen Änderungen handelt es sich um das unpraktischste Kleidungsstück, das ich besitze, und die Situationen, in denen ich es tragen muss, verlangen so gut wie immer auch Strumpfhosen und hohe Absätze. Zumindest bestehen moderne Strumpfhosen aus einem praktisch unzerstörbaren Polymergewebe.
Ich würde also hohe Absätze tragen. Ich würde Strumpfhosen tragen. Ich würde sogar dunklen Lippenstift tragen, sodass ich wenigstens halbwegs geschminkt wirkte. Aber ich würde auf keinen Fall meine Kontaktlinsen einsetzen, nur um mir so schnell wie möglich den Senator und mein Team zu krallen, sie davon zu überzeugen, dass ich wichtige Neuigkeiten hatte, und sie möglichst schnell hierher zurückzukriegen. Nach wie vor fluchend zerrte ich das Halstuch, das zu dem Kleid gehörte, aus der Seitentasche meines Kleiderkoffers, klemmte mir meinen Gästeausweis links an die Brust und stürmte Richtung Fahrzeugpool aus dem Anhänger.
Steve hatte Dienst und wartete entspannt, aber einsatzbereit darauf, dass jemand per Funk Fahrzeuge oder Sicherheitskräfte anforderte. Als er mich kommen sah, nahm er Haltung an. Sein Kinn klappte herunter, als er bemerkte, wie ich angezogen war. Hinter der Sonnenbrille waren seine Augen nicht zu sehen, aber er gab sich keine Mühe zu verbergen, wie er den Kopf hob, um mein Kleid, das Tuch um meine Schultern und schließlich, mit gehobener Braue, meine Sonnenbrille zu mustern.
»Willst du wohin?«, fragte er.
»Ich wollte mich selbst zu einer Party einladen«, antwortete ich. »Würdest du mich mitnehmen?«
»Hast du nicht stattdessen deinen Bruder hingeschickt?«
»Die Lage hat sich geändert. Ich muss dringend dorthin.«
Einen Moment lang schaute Steve mich mit unnachgiebiger Miene an. Ich erwiderte seinen Blick ebenso ruhig. Wir hatten beide viel Übung darin, aber ich hatte mehr zu verlieren, wenn ich nachgab. Schließlich nickte Steve leicht und sagte: »Hat das etwas mit Eakly zu tun, Georgia?«
Dort war sein Partner gestorben. Wir wussten, dass es eine Verschwörung gab. Aber wir wären wohl kaum noch am Leben gewesen, wenn unser Sicherheitsteam Teil dieser Verschwörung gewesen wäre. Vielleicht gab es hier Wanzen. Doch dagegen ließ sich nichts machen, und das hier war das Endspiel. Es war Zeit, alles in die Waagschale zu werfen. »Allerdings hat es mit Eakly zu tun und mit der Ranch und mit Chucks und Buffys Tod. Bitte. Du musst mich zu dieser Dinnerparty bringen.«
Einen Moment lang grübelte Steve schweigend über meine Worte nach. Er war ein Riesenkerl, und viele Leute gehen davon aus, dass Riesenkerle etwas langsam in der Birne sind. Bei Steve hatte ich nie Derartiges vermutet, auch nicht jetzt. Er war zum ersten Mal mit der Situation konfrontiert, mit der mein Team und ich seit Monaten lebten, und daran musste er sich erst mal gewöhnen. Als er sich schließlich in Bewegung setzte, handelte er schnell und ohne zu zögern. »Mike, Heidi, ihr bewacht das Tor. Wenn mich jemand anfunkt, sagt, dass ich auf dem Klo bin und mich zurückmelde. Sagt, dass ich Würstchen mit Bohnen zu Mittag gegessen habe, wenn ihr meint, dass sie dann aufhören, Fragen zu stellen.«
Heidi kicherte, ein hoher, nervöser Laut, der ganz und gar nicht zu ihrem professionellen Gehabe passte. Mike runzelte die Stirn, und seine Miene verriet Verwirrung. »Klar, können wir machen«, sagte er. »Aber warum …?«
»Wir haben euch nach der Sache auf der Ranch angeworben, deshalb scheuere ich dir jetzt keine für diese Frage. Es hat seine Gründe.« Steve warf mir einen Blick zu. »Ich schätze, wenn man die Gründe an einem so öffentlichen Ort wie diesem darlegen könnte, dann hättet ihr sie bereits erfahren.«
Ich nickte. Ich hätte gar nicht erst so viel gesagt, wenn er nicht die Erinnerung an Eakly wachgerufen hätte. Schließlich konnte ich den Mann nicht anlügen, wenn ich ihn um Hilfe bat. Das wäre falsch gewesen, selbst, wenn ich mir eingebildet hätte, ihn anlügen zu können, was nicht der Fall war.
»Tu es einfach, Mike«, sagte Heidi und stieß dem unglücklichen Mike den Ellbogen in die Seite. Er nahm den Stoß gleichmütig hin und gab nur ein leises Schnauben von sich. »Wir haben alles unter Kontrolle, Steve«, sagte Heidi. »Das Tor im Auge behalten, auf den Funk achten, niemandem sagen, dass du weg bist.«
»Gut. Georgia? Hier entlang.« Steve drehte sich um und setzte sich mit eindrucksvoller Effizienz in Bewegung. Er brachte mich zu einem der kleineren Fahrzeuge. Es handelte sich um einen modifizierten Jeep mit schwarzer Karosserie, die ihn wie einen seltsamen neuen Typ von Käfer aussehen ließ. Er holte den Autoschlüssel hervor, und die Türen öffneten sich mit einem Piepen. »Du verzeihst doch, wenn ich dir nicht die Tür aufhalte.«
»Natürlich«, antwortete ich. Bei einem neuartigen Zweisitzer waren wahrscheinlich Bluttestgeräte in die Türgriffe eingebaut, damit nicht irgendein unglückseliger Fahrer plötzlich auf engem Raum mit einem Infizierten zusammen feststeckte. Die guten Manieren waren nicht etwa ausgestorben. Allerdings verstand man unter Höflichkeit heute vor allem die Sorgfalt, den Beifahrer nicht neben einem Zombie im Auto zu platzieren.
Obwohl Steve so alarmiert war, dass er seinen Posten verließ – ohne seinen Aufenthaltsort per Funk an die Basis durchzugeben –, fuhr er wie immer vorsichtig. Er kehrte mit exakt der vorgeschriebenen Höchstgeschwindigkeit in die Stadt zurück, sodass wir nicht geblitzt wurden. Das hätte zu viel Aufmerksamkeit auf uns gezogen, insbesondere, wenn welche von unseren Leuten sich fragten, was er hier draußen trieb. Zwar wurde aufgezeichnet, dass wir das Gelände verlassen hatten, aber diese Information war gesperrt, solange nicht das Recht auf Privatsphäre wegen eines Ausbruchs außer Kraft gesetzt wurde.
Der Saal, in dem Senator Ryman seine Grundsatzrede hielt und die anschließende Dinnerparty stattfand, war in der Innenstadt, in einem Viertel, das man nach dem Erwachen wiederaufgebaut hatte. Vor ein paar Jahren haben Shaun und ich eine Artikelserie über die »üblen« Stadtteile Sacramentos gemacht. Wir sind mit Kameras an den Absperrungen vorbeimarschiert und haben uns die Gebiete angesehen, die niemals wieder für menschliche Bewohner freigegeben worden sind. Ausgebrannte Gebäuderuinen, die aus rissigem Asphalt ragen und in deren Türen und Fenstern noch Absperrband mit Biohazardzeichen zu sehen ist. Wenn man sich im Regierungsgebäude aufhält, einem Traum aus weißem Marmor und sauberem Chrom, würde man nie vermuten, dass Sacramento auch diese andere Seite hat. Man muss schon selber dort gewesen sein.
Auf dem Weg ins Foyer mussten wir uns drei Bluttests unterziehen. Der erste erwartete uns an der Einfahrt zur Tiefgarage, wo Angestellte mit Plastikhandschuhen die Testpads brachten, ihre höflichen Manieren in seltsamem Gegensatz zu den Wachen mit Automatikpistolen, die links und rechts des Schalters auf dem Posten waren. Sie standen starr wie Standbilder. Ich bekam eine Gänsehaut, nicht wegen der Sicherheitsmaßnahmen an sich, sondern weil sie so unverhohlen zur Schau gestellt wurden. Niemand würde widersprechen, falls uns die Wachen niederschossen. Meine Aufzeichnungsgeräte liefen, aber ohne Sicherheitsprotokoll konnte ich nicht senden, und ohne Buffy verfügte ich über keine Sicherheitsprotokolle, auf die ich mich verlassen konnte. Wir brauchten sie so sehr. Wie immer.
Steve blieb in der Garage zurück und bewachte schweigend das Auto. Ohne Presseausweis und Einladung hätte er es niemals auf die Party geschafft, ohne eine Szene zu riskieren, und dafür war es noch zu früh. Ich war mir ziemlich sicher, dass es in näherer Zukunft zu einer Menge übler Szenen kommen würde. Vorausgesetzt, der Senator hörte lange genug zu, damit wir weiterhin eine Zukunft hatten.
Ich musste einen zweiten Bluttest ablegen, um aus der Garage in den Fahrstuhl zu kommen. Der dritte Bluttest war etwas überraschend: Er war nötig, damit ich den Fahrstuhl verlassen durfte. Wie man auf die Idee kam, dass ich während der zehn Sekunden zwischen den Stockwerken dem Virus ausgesetzt worden sein konnte, war mir ein Rätsel, aber man hätte wohl kaum das Geld für eine Testeinheit ausgegeben, wenn so etwas nicht schon wenigstens einmal vorgekommen wäre. Die Fahrstuhltür öffnete sich erst, als das Licht über der Tür grün wurde, und ich gestattete mir, einen Moment lang darüber nachzudenken, was wohl passieren würde, wenn mehr als eine Person auf einmal den Fahrstuhl benutzte. Dann betrat ich das Foyer und befand mich in einer Welt, in der man noch nie etwas vom Erwachen gehört zu haben schien.
Das Rätsel der extremen Sicherheitsvorkehrungen löste sich sofort, denn dieser riesige, üppig ausgestattete Saal sah aus, als hätte man ihn direkt aus den Zeiten vor der Seuche hierhertransportiert. Niemand trug sichtbare Waffen oder Schutzkleidung. Ein paar Leute hatten durchsichtige Plastikstreifen über den Augen, die verrieten, dass sie an retinalem Kellis-Amberlee litten, aber das war alles. Hier gab es sogar Panoramafenster. Bei genauerer Betrachtung stellte ich fest, dass es sich um Hologramme handelte, die den Blick auf eine Stadt zeigten, die zu perfekt war, um echt zu sein. Vielleicht hat es draußen früher einmal so ausgesehen, aber ich bezweifle es: Die Umweltverschmutzung begleitet uns schon sehr viel länger als die lebenden Toten.
Es gab zwar keine erkennbaren Waffen, aber durchaus einen Sicherheitsdienst. Ein Mann mit einem tragbaren Strichcode-Scanner in der Hand hielt mich an, als ich noch keine zwei Schritte aus dem Fahrstuhl heraus getan hatte. »Name?«
»Georgia Mason, Nach dem Jüngsten Tag. Ich begleite das Ryman-Wahlkampfteam.« Ich löste meinen Ausweis von der Brust und überreichte ihn dem Mann. Er zog ihn durch seinen Scanner, gab ihn mir zurück und schaute stirnrunzelnd auf die Anzeige. »Ich müsste auf Ihrer Liste stehen.«
»Nach dem, was ich hier lese, hat bereits ein Shaun Mason auf diesen Namen eingecheckt.«
»Wenn Sie auf die Liste der eingetragenen Journalisten schauen, werden Sie feststellen, dass wir beide als Begleiter des Ryman-Teams registriert sind.« Ich gab mir keine Mühe, ihn mit geistreicher Konversation einzuwickeln. Er wirkte wie ein typischer Bürokrat, und solche Leute weichen praktisch nie von den expliziten Vorschriften ab, die ihr Beruf mit sich bringt.
»Bitte warten Sie, ich rufe die Liste auf.« Er machte eine scheinbar beiläufige Handbewegung, doch ich sah, wie vier Leute in der Menge die Blicke in unsere Richtung wandten, und keiner davon hielt einen Drink in der Hand oder lachte. Wenn vier der Leute vom Sicherheitsdienst so leicht zu erkennen waren, konnte man sich ausrechnen, dass es mindestens vier weitere, unauffälligere gab.
Der Scanner piepte, als er die Verbindung herstellte und die verfügbaren Daten über Journalisten mit Zugangsberechtigung abrief. Schließlich hörte es auf zu piepen, und die Stirn des kleinen Mannes legte sich in noch tiefere Falten.
»Es ist alles in Ordnung«, sagte er in einem Tonfall, als bereitete es ihm Unbehagen, dass ich nicht gelogen hatte. »Sie dürfen weitergehen.«
»Danke.« Die Wachleute verschmolzen wieder mit der Menge, nachdem sie nun wussten, dass ich nicht ungeladen aufgetaucht war. Ich heftete mir meinen Ausweis wieder an und entfernte mich ein paar Schritte von dem Mann mit dem Scanner, bevor ich nach meinem Ohrstecker griff. »Shaun«, murmelte ich leise.
Einen Moment lang kam keine Antwort, dann signalisierte der Sender mit einem Piepen, dass die Verbindung hergestellt war. Shauns erschreckte Stimme klang nah: »He George. Ich hätte gedacht, dass du schon bis über beide Ohren in der Arbeit an der Website steckst. Was gibt’s?«
»Erinnerst du dich noch an die Pointe, die ich gestern vergessen habe?«, fragte ich und ließ den Blick über die Menge schweifen, während ich mich dorthin auf den Weg machte, wo ich den Eingang zum großen Speisesaal vermutete. »Die wirklich lustige?«
Die Überraschung verschwand aus Shauns Stimme und wurde durch Wachsamkeit ersetzt. »Ja, ich erinnere mich. Kennst du jetzt den Rest von dem Witz?«
»Ja. Ein paar Freunde von mir haben ihn online entdeckt. Wo bist du?«
»Wir sind beim Podium. Senator Ryman schüttelt den Leuten die Hände. Wie geht die Pointe?«
»Sie ist lustiger, wenn ich sie dir persönlich erzähle. Wie komme ich zum Podium?«
»Geh durch die große Doppeltür, ich bin am anderen Ende des Saals.«
»Alles klar. Georgia Ende.« Ich unterbrach die Verbindung und ging weiter.
Shaun und Rick standen ein paar Meter links von der Menschenmenge, durch die der Senator sich händeschüttelnd durcharbeitete. Die Leute hier hatten für das Vorrecht bezahlt, den Mann zu treffen, der als nächster Präsident galt, und das würden sie bei Gott auch tun, selbst wenn sie ihm nur ein paar Sekunden lang die Hand schütteln und ein Lächeln austauschen würden. Es sind diese wenigen Sekunden, die einen Mann zum Präsidenten machen. Hier, in der »Sicherheit«, die durch die doppelt geprüfte Gästeliste und den dreifach geprüften Infektionsstatus der Gäste suggeriert wurde, konnten die Politiker unbesorgt an alte Gewohnheiten anknüpfen und Hände schütteln, als wäre es nie anders gewesen. Die wirklich jungen Leute waren leicht von denen zu unterscheiden, die sich allen erdenklichen Schönheitsoperationen und Verjüngungskuren unterzogen hatten, denn die Jungen wirkten ganz benommen von dem Menschengedränge und den vielen Berührungen. Sie waren mit einer anderen politischen Kultur aufgewachsen. Mit diesem Problem würden sie leben müssen, bis sie selbst alt waren und Spitzenpositionen erreicht hatten.
Der Senator schien sich kein bisschen unbehaglich zu fühlen. Der Mann war in seinem Element, lächelte mit blitzenden Zähnen und gab fortlaufend geistreiche Bonmots von sich, in O-Ton-gerechten Häppchen, falls einer der umstehenden Reporter gerade sendete. Diese Kunst hatte er schon beherrscht, bevor wir uns seinem Wahlkampfteam angeschlossen hatten, aber durch die ständige Pressebegleitung hatte er sie gezwungenermaßen perfektioniert. Er war gut. Mit etwas Zeit würde er herausragend werden.
Shaun beobachtete meine Ankunft. Seine Körperhaltung verriet, wie höllisch angespannt er war und wie sehr er das zu verbergen suchte. Als er mich durch die Menge auf ihn zuhalten sah, entspannte er sich ein wenig. Mit einer Kopfbewegung bedeutete er mir, näher zukommen. Ich schüttelte den Kopf und formte mit den Lippen die Worte »Wo ist Tate?«
Mit erhobenem Finger signalisierte Shaun mir zu schweigen. Er zog seinen Organizer hervor und kritzelte mit dem dazugehörigen Stift eine Nachricht aufs Display. Eine Sekunde später piepte meine Uhr, und die Nachricht wurde angezeigt: andere seite v. raum mit investoren was ist los?????, stand dort. Die Antwort Ich muss mit Sen. Ryman reden ohne dass Tate zuhört einzutippen hätte auf der kleinen Klapptastatur zu lange gedauert. Ich löschte die Nachricht und kam näher.
»Georgia«, grüßte Rick, als ich hinzutrat. Er hielt eine Sektflöte in der Hand, die mit Champagner gefüllt zu sein schien, wenn man nicht zu genau auf die Bläschen schaute. Apfelschorle – ein nützlicher Trick, um in der Menge nicht aufzufallen. Wenn die Leute denken, dass man sich ebenso betrinkt wie sie, hören sie auf, wachsam zu sein.
»Rick.« Ich nickte ihm zu. Shaun warf einen offen besorgten Blick in meine Richtung. Ich legte ihm die Hand auf den Arm. »Netter Anzug.«
»Man nennt mich Bond«, sagte er ernst.
»Dachte ich mir.« Ich schaute zum Senator. »Wir müssen uns da reinwagen. Ich wünschte, ich hätte einen Viehtreiber.«
»Erfahren wir irgendwann in nächster Zeit, was hier los ist, oder sollen wir dir blind folgen?«, fragte Shaun. »Ich frage nur, weil davon abhängt, ob ich dir irgendwann innerhalb der nächsten acht Sekunden eins über den Schädel gebe. Das ist eine sehr wichtige Information.«
»Es ist nicht ganz einfach, das hier zu erklären«, sagte ich. »Es sei denn, ihr wisst, wer in der Gegend sendet?«
Shaun stöhnte, womit er die verwirrten Blicke mehrerer Umstehender auf sich zog. Sofort war sein Plastiklächeln zur Stelle. »Himmel, George, das war ein schrecklich schlechter Witz.«
»Ich habe nicht behauptet, dass die Pointe gut wäre, nur, dass sie mir wieder eingefallen ist«, erwiderte ich und trat näher an ihn heran. Ich sprach so leise, dass meine Stimme kaum zu hören war. »Dave und Alaric hatten ihren großen Durchbruch. Sie konnten das Geld zurückverfolgen.«
»Wo ist es hingeflossen?« Shaun sprach sogar noch leiser als ich. Seine Lippen schienen sich kaum zu bewegen.
»Wo ist es hergekommen?, wäre die bessere Frage. Es ist zu Tate geflossen. Es kam von den Tabakkonzernen und von ein paar Leuten, die sie noch nicht ermitteln konnten.«
»Wir wussten schon, dass es Tate war.«
»Die IPs, die sie ermittelt haben, sind aus Washington … und aus Atlanta.«
Es gibt nur eine Organisation in Atlanta, die wichtig genug ist, um mich derart losstürmen zu lassen, insbesondere jetzt, wo wir bereits einen Teil der Verschwörung kannten. Shaun riss die Augen auf. Er war so schockiert, dass er völlig vergaß, sich unauffällig zu verhalten. Wenn jemand den Seuchenschutz infiltriert hatte …
»Sie wissen es nicht mit Sicherheit?«
»Sie geben sich Mühe, aber die Sicherheitsvorkehrungen sind gut, und man hat sie schon zweimal fast erwischt.«
Shaun seufzte vernehmlich, und ich stieß ihm den Ellbogen in die Rippen. Er schüttelte den Kopf. »Tut mir leid. Ich wünschte bloß, dass Buffy hier wäre.«
»Ich auch.« Ich verbarg einen Datenstick in meiner Hand und ließ ihn in seine Tasche gleiten. Für einen Beobachter hätte es ausgesehen, als versuchte ich, seine Brieftasche zu klauen. Sollten sie den Sicherheitsdienst rufen. Der würde nichts finden. »Hier ist eine Kopie von dem ganzen Zeug. Es gibt sechs weitere. Steve weiß nicht, dass er eine hat.«
»Kapiert«, sagte Shaun. Man muss seine Daten immer sichern und so weit wie möglich verteilen. Zu viele Journalisten haben diese Grundregel schon vergessen, und manche haben sich niemals wieder davon erholt, welche Story ihnen durch die Lappen gegangen ist. Wenn uns diese Sache entglitt, war der Verlust unserer Glaubwürdigkeit unser geringstes Problem. »Wo noch?«
»An mehreren Orten. Ich kenne nicht alle. Die Jungs haben ihre eigenen Sicherungskopien gemacht.«
»Gut.«
Rick hatte unser kaum hörbares Gespräch kommentarlos mitverfolgt. Als wir aufhörten zu reden, hob er die Brauen, worauf ich den Kopf schüttelte. Er nahm die Zurückweisung freundlich auf, nippte an seinem »Champagner« und ließ den Blick weiter über die Menge schweifen. Sein Hauptinteresse schien einer ganz bestimmten Gruppe zu gelten. Einige davon waren Politiker, während ich andere aus dem Wahlkampfteam kannte. Ich schaute zu Rick, der mit dem Kopf auf Tate deutete. Alles klar. Das waren Leute, von denen er vermutete, dass ihre Loyalitäten unserem Gouverneur galten. Bei dem es sich zufälligerweise um den Mann handelte, der höchstwahrscheinlich den Tod vieler Unschuldiger zu verantworten hatte, sowie die Korruption und den Mord an einer der Unseren.
Keine dieser Personen war nah genug, um unsere Unterhaltung mitzuhören, es sei denn, jemand von ihnen hatte ein Abhörgerät in der Nähe des Senators platziert. Wenn ich es riskieren wollte, dann jetzt. »Ich geh da jetzt rein«, murmelte ich Shaun zu und fing an, mir einen Weg durch die Menge auf Senator Ryman zu bahnen.
Eins musste man den Händeschüttlern lassen: Sie gaben nicht so einfach ihren Boden preis, nicht mal, als ich mich recht grob zwischen sie drängte. Eine Dame, die meine Großmutter hätte sein können, rammte mir ihren linken Absatz mit einer Kraft auf den Fuß, die auch bei einer weit jüngeren Frau beeindruckt hätte. Glücklicherweise bestehen sogar meine feinen Schuhe aus verstärktem Polymer. Trotzdem musste ich mir auf die Zunge beißen, um nicht laut zu fluchen. Der Sicherheitsdienst mochte keine Probleme mit solch beiläufigen Attacken haben, aber ich war mir ziemlich sicher, dass er den Ausruf »schwanzlutschendes Miststück« nicht tolerieren würde.
Nach viel Geschubse und mehreren schmerzhaften Tritten gegen Schienbeine und Knöchel fand ich mich rechts vom Senator wieder, der gerade bei einem Achtzigjährigen mit mächtigem Brustkasten stand, der ihm voller Inbrunst die Hand schüttelte. In den Augen des Alten brannte ein revolutionärer Eifer, wie man ihn nur bei Menschen sieht, die bereits in sehr jungen Jahren die Religion oder die Politik für sich entdeckt haben. Keiner von beiden schien meine Anwesenheit zu bemerken.
Der Händeschüttler machte keinerlei Anstalten, abzulassen, offenbar kam er gerade erst richtig in Fahrt. Ich wägte die Gefahr, von einem Achtzigjährigen angegriffen zu werden, gegen die Möglichkeit ab, dass er ermüden würde, und kam zu dem Schluss, dass ich handeln musste. So unauffällig wie möglich legte ich Senator Ryman eine Hand auf den freien Arm und sagte zuckersüß: »Senator, wenn Sie einen Moment für mich erübrigen könnten, wäre ich Ihnen zutiefst dankbar.«
Der Senator schreckte auf. Sein Belagerer warf mir Blicke wie Dolche zu, die zu ausgewachsenen Schwertern wurden, als der Senator sich zu mir umdrehte und sein bestes Titelbildlächeln aufblitzen ließ. »Selbstverständlich, Ms Mason.« Geschickt löste er seine Finger aus dem Händedruck. »Wenn Sie mich entschuldigen würden, Stadtrat Plant, ich muss mich mit jemandem aus meinem Pressekorps beraten. Meine Damen und Herren, ich bin gleich wieder bei Ihnen.«
Ich hatte fast fünf Minuten gebraucht, um mich durch das Gewühl zu kämpfen. Um wieder herauszukommen, brauchte es nichts als die Hand des Senators in meinem Rücken, die mich auf den freien Bereich links der Tribüne geleitete. »Nicht, dass es mir etwas ausmachen würde, gerettet zu werden, Georgia. Ich habe schon angefangen, mir Sorgen um die Knochen in meiner Hand zu machen. Aber was tun Sie hier?«, fragte Senator Ryman leise. »Als ich mich das letzte Mal erkundigt habe, hieß es, Sie wären im Kongresszentrum geblieben, weshalb auch Ihr Bruder hier sei, der dem Stab auf die Nerven fällt und alle Shrimp-Kanapees aufisst.«
»Ich bin im Kongresszentrum geblieben«, antwortete ich. »Senator, ich weiß nicht, ob Ihnen das bewusst ist, aber …« Jemand rief dem Senator eine Gratulation zu, worauf dieser mit einem Grinsen und einem hoch erhobenen Daumen antwortete. Es war ein perfekter Moment für ein Foto, und ich machte die Aufnahme mit der Kamera in meiner Armbanduhr, ohne auch nur darüber nachzudenken. Ein Reflex. Ich räusperte mich und fing noch mal von vorne an. »Buffy hat für jemanden gearbeitet, der die Kontrolle über Ihre Kampagne haben wollte.«
»Das haben Sie mir schon erzählt«, sagte er nun etwas brüsk. Ich erkannte den ungeduldigen Ausdruck in seinen Augen aus Dutzenden von Pressebriefings wieder. »Es gibt eine große, finstere Verschwörung, um mich zu Fall zu bringen. Ich verstehe allerdings nicht, was plötzlich so dringend ist, dass Sie hier rüberkommen und eine Szene riskieren, beim vielleicht wichtigsten politischen Ereignis meines Lebens. Heute Abend sind viele der Leute hier, die das Sagen haben – sehr viele. Dies sind die Menschen, die mir Kalifornien auf dem Silbertablett präsentieren könnten, und das würden Sie wissen, wenn Sie sich die Mühe gemacht hätten, die Pressemappen zu lesen und zu meiner Rede zu kommen.« Wenn Sie Ihre Arbeit gemacht hätten, lautete die unterschwellige Botschaft, die so deutlich war, dass er sie genauso gut laut hätte aussprechen können. Ich hatte ihn enttäuscht. Er hatte sich auf meine Berichterstattung als Teil seiner Kampagne verlassen, auf die objektive Journalistin, die er mit seiner Politik und seiner Rhetorik überzeugt hatte – doch ich war nicht für ihn da gewesen.
Seit Buffys Tod hatte der Senator sich immer wieder Ausflüchte von mir anhören müssen, und es war klar, dass er es langsam leid war. Mehr als nur leid: Er war wirklich verärgert davon, und ärgerte sich über mich.
Ich sprach nun schneller, damit er keine Gelegenheit hatte, mich abzuwürgen, bevor ich ausgeredet hatte. »Senator, seit Wochen lasse ich zwei meiner Leute jeden Datenfetzen zurückverfolgen, den wir finden konnten. Die haben nachgeforscht, wo das Geld herkommt. Darauf läuft es letztlich immer hinaus – aufs Geld. Und sie haben herausgefunden …«
»Wir reden später darüber, Georgia.«
»Aber Senator Ryman, wir …«
»Ich sagte, wir reden später darüber.« Auf seinen Lippen lag nun sein starres Politikerlächeln, das er bei Debatten auflegte oder wenn er aufmüpfige Praktikanten zurechtwies. »Das hier ist weder die richtige Zeit noch der richtige Ort für dieses Gespräch.«
»Senator, wir haben Beweise dafür, dass Tate in die Sache verwickelt war, die Buffy zugestoßen ist.« Der Senator erstarrte. Als ich spürte, dass er nun wohl endlich zuhören würde, setzte ich nach. »Wir haben schon seit einer Weile Tondokumente darüber, aber jetzt hat mein Team die Zahlungen entdeckt. Wir haben die Verbindungen aufgespürt. Buffy war nicht der Anfang. Eakly war der Anfang. Eakly und die Ranch …«
»Nein.«
Seine Stimme war sanft, aber unnachgiebig. Sein Widerspruch brachte mich zum Verstummen, als wäre ich gegen eine Mauer geknallt. Nach einem Moment der Starre setzte ich neu an. »Senator Ryman, bitte, wenn Sie nicht …«
»Georgia, das hier ist nicht die richtige Zeit und nicht der richtige Ort dafür, insbesondere, wenn Sie hierhergekommen sind, um derlei Anschuldigungen zu erheben.« Seine Miene war kalt. Ich hatte noch nie erlebt, dass er jemanden, der kein politischer Rivale war, derart kalt angeschaut hatte. »David Tate und ich waren bei diesem Wahlkampf vielleicht nicht immer einer Meinung, und Gott weiß, dass mir klar ist, dass Sie beide sich nicht besonders gut leiden können, aber ich werde hier nicht rumstehen und mir anhören, wie Sie solche Dinge über einen Mann sagen, der bei der Beerdigung meiner Tochter gesprochen hat. Das kann ich mir nicht bieten lassen.«
»Senator, dieser Mann ist ebenso sehr verantwortlich für den Tod Ihrer Tochter, als hätte er sie eigenhändig infiziert.«
Senator Rymans Schultern spannten sich an, und er hob die Hand ein paar Zentimeter, bevor er sich zwang, sie wieder sinken zu lassen. Er hätte mich am liebsten geschlagen – das stand ihm so deutlich ins Gesicht geschrieben, dass selbst Shaun es erkannt hätte. Er wollte, aber er würde es nicht tun. Nicht hier, nicht vor all diesen Zeugen.
»Es ist Zeit, dass Sie gehen, Georgia.«
»Senator …«
»Wenn Sie drei nicht innerhalb der nächsten fünfzehn Minuten dieses Gebäude verlassen, werden Sie die Nacht im Gefängnis von Sacramento verbringen, weil ich dann nämlich Ihre Presseakkreditierung zurückziehe.« Sein Tonfall war ruhig, sogar gelassen, aber ohne jede Freundlichkeit, und Freundlichkeit war das, was ich am meisten von ihm gewohnt war. »Wenn ich wieder im Kongresszentrum bin, komme ich bei Ihrem Trailer vorbei, und Sie zeigen mit jedes bisschen Beweismaterial, das Sie zu haben meinen.«
»Und dann?«, fragte ich, obwohl ich es besser wusste. Ich musste herausfinden, wie ernst er diese Sache nehmen würde.
»Wenn ich Ihnen dann glaube, dann stehe ich hinter Ihnen, wenn wir uns an die Bundesbehörden wenden, denn das, was Sie diesem Mann vorwerfen, Georgia, ist Terrorismus, und wenn man solche Anschuldigungen ohne unumstößliche Beweise erhebt, dann könnte dadurch mehr als nur die Karriere eines Mannes zerstört werden.«
Er hatte recht. Wenn herauskam, dass Rymans Wahlkampfteam einen Mann beherbergte, der Kellis-Amberlee als Waffe eingesetzt hatte – zum Teufel, dass ein Mann, der Kellis-Amberlee als Waffe benutzte, mit auf dem Stimmzettel stand –, würde auch ihn das ruinieren. Seine politischen Feinde würden diesen Skandal niemals ruhen lassen. Einige würden wahrscheinlich behaupten, dass er Tate unterstützt hatte, sogar dabei, Rebecca zu töten, um sich Stimmen zu erkaufen.
»Und wenn Sie mir nicht glauben?« Ich formte die Worte mit Lippen, die sich taub anfühlten.
»Wenn ich Ihnen nicht glaube, dann sitzen Sie alle im nächsten Bus nach Berkeley, und unsere Wege trennen sich noch vor Sonnenaufgang«, sagte der Senator und kehrte mir den Rücken zu. Als er sich der Menge zuwandte, strahlte er bereits wieder übers ganze Gesicht. »Kongressabgeordnete!«, sagte er so kameradschaftlich, als hätte er einfach einen Schalter umgelegt. »Sie sehen wunderbar aus heute Abend – ist das Ihre Frau? Nun, Mrs Lancer, es ist mir wirklich ein Vergnügen, Sie endlich persönlich kennenlernen zu dürfen, nachdem ich Sie auf so vielen Weihnachtskarten gesehen habe …«
Und damit ging er davon und ließ mich allein mitten in der Menge zurück, während sich die wichtigen Leute dieses kleinen, modernen Babylons um mich drängten, in dem Versuch, für einen Moment seine Aufmerksamkeit zu erhaschen. Keine fünf Meter weiter standen meine Kollegen und warteten darauf, dass ich ihnen Bericht erstattete.
Die Wahrheit schien mir niemals ferner gewesen zu sein oder schwerer zu begreifen. Und in meinem ganzen Leben war ich mir noch nie so allein und verloren vorgekommen.
Mit elf habe ich begriffen, dass wir nicht unsterblich sind. Ich habe immer gewusst, dass die Masons einen biologischen Sohn namens Phillip hatten. Unsere Familie redete nicht viel über ihn, aber dann und wann, wenn jemand Masons Gesetz erwähnte, kam die Sprache auf ihn. Es ist komisch, aber irgendwie habe ich ihn als Kind verehrt, weil die Menschen sich an ihn erinnerten. Ich habe niemals wirklich darüber nachgedacht, dass man sich wegen seines Todes an ihn erinnerte.
George entdeckte die Schachtel auf der Suche nach unseren Weihnachtsgeschenken. Sie lag in Moms Büroschrank, und wahrscheinlich hatten wir sie schon tausendmal gesehen, aber an jenem Tag fiel sie George irgendwie ins Auge, und sie zog sie hervor und wir schauten hinein. An jenem Tag lernte ich meinen Bruder kennen.
Die Schachtel war voller Fotos, die wir noch nie gesehen hatten, Bilder von einem lachenden kleinen Jungen in einer Welt, in der er sich niemals Gedanken um die Dinge hatte machen müssen, mit denen wir jeden Tag konfrontiert waren. Phillip, der bei der State Fair auf einem Pony ritt. Phillip, der an einem Sandstrand spielte, auf dem nirgends ein Zaun in Sicht war. Phillip mit seiner langhaarigen Mutter in kurzärmeliger Bluse, die unserer Mutter überhaupt nicht ähnlich sah. Unsere Mutter trug das Haar kurz, ihre Ärmel waren immer lang genug, um ihre Schutzkleidung zu verbergen, und ihr Halfter drückte sich mir in die Seite, wenn sie mir einen Gutenachtkuss gab. Phillips Lächeln verriet, dass er niemals vor etwas Angst gehabt hatte, und ich hasste ihn ein bisschen, weil seine Eltern so viel glücklicher waren als meine.
Wir haben später nie über diesen Tag geredet. Wir haben die Bilder in den Schrank zurückgelegt, und unsere Weihnachtsgeschenke haben wir auch nicht gefunden. Aber an jenem Tag wurde mir klar … wenn Phillip, dieses glückliche, unschuldige Kind, sterben konnte, dann konnte das auch uns passieren. Eines Tages würden wir Pappschachteln sein, hinten im Schrank von irgendjemandem, und wir konnten nicht das Geringste dagegen tun. George wusste es auch. Vielleicht hat sie es sogar schon vor mir gewusst. Wir hatten nichts außer uns selbst, und wir konnten sterben. Es ist schwer, mit diesem Wissen zu leben. Wir haben unser Bestes gegeben.
Ab jetzt darf uns niemand mehr irgendetwas abverlangen. Jetzt nicht und auch später nicht. Wenn die Geschichte auf uns zurückblickt – die dumme, blinde Geschichte, die alles verurteilt und einen Scheiß darauf gibt, was wir dafür bezahlt haben –, soll sie sich gefälligst daran erinnern, dass niemand das Recht hatte, das hier von uns zu verlangen. Niemand.
Aus Lang lebe der König, dem Blog von
Shaun Mason,
18. Juni 2040