26
Shaun brach das Schweigen. »Bitte sag mir, dass das nicht durch die Haut gegangen ist«, sagte er beinahe flehend. »Das Blut kommt woanders her, hab ich recht, George? Stimmt’s?«
»Wir brauchen einen Sondermüllbeutel.« Es war keine Angst in meiner Stimme. Wirklich, kein bisschen. Ich klang … hohl, als wäre ich völlig losgelöst von meiner Umwelt. Als ob mein Körper und meine Stimme in verschiedenen Universen existierten, nur durch einen dünnen Faden verbunden. »Hol einen aus dem Erste-Hilfe-Kasten, leg ihn auf den Tisch und tritt zurück. Ich will nicht, dass einer von euch das hier anrührt.« Oder mich. Ich wollte nicht, dass sie mich berührten, wenn das Risiko bestand, dass ich sie infizierte. Aber das konnte ich nicht aussprechen. Wenn ich es tat, würde ich zusammenbrechen, und dann konnten wir uns von der Chance, diese Sache einzugrenzen, verabschieden.
»George …«
»Wir brauchen eine Testeinheit.«
Ricks Stimme klang in Anbetracht der Umstände überraschend gefestigt. Shaun und ich drehten uns zu ihm um. Er war weiß im Gesicht und zitterte, aber sein Tonfall war unnachgiebig. »Shaun, ich weiß, dass du das nicht hören willst, und wenn du mich später schlagen willst, mach das, aber jetzt brauchen wir erst einmal eine Testeinheit.«
Ein Sturm schien sich in Shauns Miene zusammenzubrauen. Er wusste, dass Rick recht hatte: Ich sah es in seinen Augen und an der Art und Weise, in der er meinem Blick auswich. Wenn er es nicht gewusst hätte, wäre es ihm egal gewesen, dass Rick einen Bluttest verlangte. Aber weil er es wusste, war es der Allerletzte, was er wollte. Nun ja. Vielleicht nicht das Allerletzte. Andererseits sah es so aus, als ob genau das, was er am meisten fürchtete, soeben eingetreten war.
»Er hat recht, Shaun.« Ich legte den Pfeil neben die Tastatur. Er war so klein. Wie konnte etwas so Kleines das Ende der Welt bedeuten? Ich hatte kaum bemerkt, wie der Pfeil mich getroffen hatte. Ich hätte nie gedacht, dass man den eigenen Tod nicht bemerken kann, aber offenbar ist so etwas möglich. »Nehmt nicht einfach eine Feldeinheit. Holt das ernstzunehmende Gerät. Wenn schon, machen wir es richtig.« Der XH-237 hat noch nie ein falsches Ergebnis angezeigt. Er ist, soweit man weiß, hundertprozentig genau.
Shaun hätte niemals auf ein anderes Gerät vertraut. Er starrte mich in offenem Unglauben an. Anscheinend gab er sich alle Mühe, die Realität zu verleugnen. Warum tat ich nicht das Gleiche? »Georgia …«, setzte er an.
»Falls ich überreagiere, kaufe ich von meinem Geburtstagsgeld einen neuen«, sagte ich und ließ mich in meinen Stuhl zurücksacken. »Rick?«
»Ich hole ihn, Georgia.« Er ging an den Erste-Hilfe-Kasten.
Ich schloss die Augen. »Ich reagiere nicht übertrieben.«
So leise, dass ich ihn fast nicht hören konnte, flüsterte Shaun: »Ich weiß.«
»Hier ist der Beutel«, sagte Rick. Ich öffnete die Augen und schaute dorthin, wo seine Stimme hergekommen war. Er hielt einen kevlarverstärkten Sondermüllbeutel hoch. Auf mein Nicken hin legte er den Beutel auf die Tischplatte und trat zurück. Wir kannten den Ablauf. Solange wir nicht wussten, ob ich sauber war, würde mich niemand anrühren … und ich wusste, dass ich nicht sauber war.
Mit übertrieben sorgfältigen Bewegungen, sodass Shaun und Rick alles genauestens mitverfolgen konnten, griff ich nach dem Beutel und öffnete ihn, bevor ich den Pfeil nahm. Ich warf ihn hinein und aktivierte die Versiegelung. Jetzt war es eine Sache des Seuchenschutzes. Dessen Mitarbeiter würden die Versiegelung öffnen, sobald sie den Beutel erhielten, und alles, was danach geschah, betraf mich nicht. Ich würde nicht mehr da sein, um es mitzukriegen.
Als der Beutel versiegelt und beiseitegelegt war, blickte ich auf. »Wo ist die Testeinheit?« Ich spürte, wie die Muskeln in meinen Augen sich entspannten. Vielleicht war das nur psychosomatisch, aber ich bezweifelte es. Die Viren, die für die ständige Pupillenweitung verantwortlich waren, brachen zu üppigeren Weidegründen auf, in meinen restlichen Körper.
»Hier«, sagte Shaun und hielt das Gerät hoch. Er trat näher und kniete sich vor mich, womit er sich nur Zentimeter außerhalb des gesetzlich definierten Sicherheitsabstands befand, den man zu Personen einhalten musste, bei denen möglicherweise eine Virenvermehrung bevorsteht. Ich warf ihm einen stechenden Blick zu, und er schüttelte den Kopf. »Fang nicht damit an.«
»Mach ich nicht.« Ich streckte die linke Hand aus. Wenn er mich selbst testen wollte, hatte er jedes Recht dazu. Vielleicht würde er dann an das Ergebnis glauben.
»Du könntest dich irren. Es wäre nicht das erste Mal«, sagte Shaun und streifte mir die Testeinheit über die Hand. Ich streckte die Finger so sehr, dass die Sehnen hervortraten, und bedeutete ihm mit einem Nicken, dass er das Gerät schließen sollte. Die Verschlussklappe fixierte meine gespreizte Hand wie einen Seestern.
»Ich irre mich nicht«, sagte ich. Dumpfer Schmerz bohrte sich in meine Hand, als die Nadeln – eine pro Finger und fünf, die kreisförmig in der Mitte der Handfläche angeordnet waren – hervorschossen und Blutproben entnahmen. Die Lichter auf dem Gerät fingen an zu blinken, wurden erst grün und dann gelb. Eine Weile blinkten sie gelb, bis sie eines nach dem anderen die Farbe annahmen, bei der sie blieben.
Rot. Jedes einzelne. Rot.
Tränen brannten mir unter den Lidern. Ich brauchte einen Moment, um zu begreifen, worum es sich handelte, und dann musste ich dem Drang widerstehen, sie zurückzuhalten. Kellis-Amberlee hat mich nie weinen lassen. Jetzt würde es mich verdammt noch mal nicht mehr am Weinen hindern. »Ich hab euch doch gesagt, dass ich recht hatte.« Ich versuchte, heiter zu klingen, aber stattdessen klang meine Stimme verloren.
»Jetzt tut dir das sicher leid«, antwortete Shaun. Ich hob den Kopf und schaute ihm in die schockstarren Augen.
So saßen wir eine ganze Weile da, schauten einander an und warteten auf eine Antwort, die niemand geben würde. Schließlich war es Rick, der etwas sagte und die eine Frage stellte, auf die keiner von uns antworten wollte.
»Was machen wir jetzt?«
»Machen?« Shaun schaute ihn mit gerunzelter Stirn an. Er wirkte ehrlich verblüfft. Seine Miene machte mir Angst, weil er nicht zu begreifen schien, dass ich in Kürze alles tun würde, um ihn bei lebendigem Leib aufzufressen. »Was meinst du damit, ›was machen wir jetzt‹?«
»Ich meine das, was ich gesagt habe«, erwiderte Rick. Er schüttelte den Kopf und deutete auf mich. »Wir können sie hier nicht einfach so zurücklassen. Wir müssen …«
»Nein!«
Shauns vehemente Reaktion ließ mich aufschrecken. Ich wandte mich zu ihm um. »Nein?«, wiederholte ich. »Shaun, was zum Teufel meinst du mit ›Nein‹? Es gibt keinen Spielraum für ein ›Nein‹. Es ist Schluss mit ›Nein‹.«
»Du weißt nicht, was du da sagst.«
»Ich weiß genau, was ich sage.« Rick war blass und zitterte. Schweißtropfen standen ihm auf der Stirn. Der arme Kerl. Als er sich der sogenannten »Gewinnerseite« angeschlossen hatte, war von politischen Morden nicht die Rede gewesen. Trotzdem schaute er mir, ohne zu blinzeln, in die Augen und versuchte nicht, meinem Blick auszuweichen. Er sah das Virus nicht zum ersten Mal. Das Geschehen barg keine Überraschungen für ihn. »Du bist der nächstbeste Ersatz für einen Virologen, den wir haben, Rick. Wie viel Zeit habe ich?«
»Wie viel wiegst du?«
»Höchstens zweiundsechzig Kilo.«
»Dann würde ich unter normalen Umständen sagen fünfundvierzig Minuten«, antwortete er nach kurzem Überlegen. »Aber die Umstände sind nicht normal.«
»Das Rennen«, sagte ich.
Er nickte. »Das Rennen.«
Der Ablauf einer Virenvermehrung hängt von vielen Faktoren ab. Alter, körperliche Verfassung, Gewicht – und wie schnell das Blut zu dem Zeitpunkt zirkuliert, an dem man mit dem aktiven Virus in Berührung kommt. Wenn jemand im Schlaf gebissen wird, ohne dabei aufzuwachen, dann kann es bis zum Morgen dauern, bis die Vermehrung abgeschlossen ist, weil ein ruhender Körper die Infektion nicht weiter beschleunigt. Ich hingegen hatte eine Virenladung abbekommen, die weit größer als das war, was man in einem normalen Biss fand, und zwar während ich mit pochendem Herzen um mein Leben gerannt war und das Adrenalin meinen Blutdruck hochgejagt hatte. Wahrscheinlich hatte ich nur die Hälfte der Zeit. Wenn nicht weniger.
Das Denken fiel mir bereits schwerer, das Konzentrieren, das Atmen. Vom Verstand her wusste ich, dass meine Lungen mir nicht den Dienst versagten. Es war nur das Virus, das das weiche Gewebe meines Gehirn umschloss und begann, normale neurologische Funktionen zu stören, wodurch ich mir über Körperfunktionen bewusst wurde, die normalerweise von allein abliefen. Ich hatte die Arbeiten und die Studien darüber gelesen. Ich wusste, was mich erwartete. Erst kommen die Konzentrationsschwierigkeiten, die Interesselosigkeit, die Unfähigkeit, Zusammenhänge herzustellen. Dann kommt die Hyperaktivität, wenn das Kreislaufsystem auf Hochtouren gebracht wird. Und dann, bei voller Virensättigung, folgt der Staatsstreich: Der Tod des bewussten Verstands. Mein Körper würde weiter rumlaufen, getrieben von purem Instinkt und dem Verlangen des Virus, aber Georgia Carolyn Mason würde fort sein. Für immer und ewig.
Ich war schon vor dem roten Licht tot gewesen. Ich war in dem Moment tot gewesen, in dem die Spritze meinen Arm getroffen hatte, und niemand konnte etwas dagegen machen. Aber für mich gab es noch etwas zu tun, bevor ich abtrat.
Ich drehte mich zu Shaun um und nickte. Eine lange Pause entstand – beinahe zu lange –, bevor seine Miene gelassen wurde und er mein Nicken erwiderte. Er wirkte nun sicherer, wieder mehr wie er selbst, trotz der Tränen, die ihm über die Wangen liefen.
»Rick?«, sagte er.
Rick schüttelte den Kopf. »Du kannst nichts dagegen machen. Unmöglich. Wir haben sie verloren. Das musst du dir klarmachen. Sie ist verloren, und es tut mir leid, aber wir müssen …«
»Hol mir den Erste-Hilfe-Kasten, der unterm Serverregal steht«, sagte Shaun. Unwillkürlich beneidete ich ihn um die Ruhe, die aus seiner Stimme klang. Ich hätte nicht so ruhig bleiben können, wenn er derjenige gewesen wäre, der soeben eine explosive Virenvermehrung erlitt. »Den roten.«
»Was hast du …«
»Mach schon!«
Die Worte waren kaum aus seinem Mund, da eilte Rick auch schon zum vorderen Ende des Wagens und wühlte unter dem Sitz nach dem Erste-Hilfe-Kasten. Mom hat ihn uns vor Millionen von Jahren gepackt, für absolute Notfälle. Sie hat ihn mir mit den Worten übergeben, dass wir ihn hoffentlich niemals brauchen würden. Tut mir leid, Mom. Diesmal haben wir dich wohl so richtig hängen gelassen. Aber he, immerhin wird das gute Quoten geben.
Ich stieß einen langen, zittrigen Seufzer aus, der irgendwie zu einem hysterischen Kichern wurde. Bevor das Kichern sich in ein Schluchzen verwandeln konnte, biss ich mir auf die Zunge. Dafür war keine Zeit. Es war keine Zeit für irgendwas, mit Ausnahme des roten Kastens und seines Inhalts, und vielleicht – vielleicht, wenn ich Glück hatte – eines letzten Artikels.
Rick kehrte an Shauns Seite zurück und hielt den Kasten mit ausgestrecktem Arm vor sich. Seine Miene war kalt. Er glaubte nicht, dass Shaun fähig sein würde, es zu tun. Er kannte ihn nicht so gut, wie er dachte. Mit einem Mal müde, schloss ich die Augen und lehnte den Kopf zurück.
»Du kannst jetzt gehen, Rick«, sagte ich. »Nimm mein Motorrad und das graue Laufwerk mit den Sicherungskopien. Mach dich so weit davon wie möglich, und dann such dir einen Zugang zum Netz und lade alles auf die Website hoch. In den freien Bereich. Auch für Nichtabonnenten. Zur freien Verfügung.«
»Was ist da drauf?«, fragte er, als seine Neugier einen Moment lang seine Entschlossenheit, für meinen Tod zu sorgen, überlagerte. Guter Rick. Bis zum Ende ein Journalist nach meinem Herzen.
»Alles, wofür ich gestorben bin«, sagte ich. Ich nahm meine Sonnenbrille ab und warf sie beiseite, um mir die juckenden Augen zu reiben. »Daten, Bankunterlagen, alles. Einfach alles. Und jetzt verschwinde von hier. Du hast getan, was du konntest.«
»Bist du …«
»Wir sind uns sicher«, sagte Shaun. Ich hörte, wie der Kasten sich klackend öffnete, und dann ertönte das unverkennbare Schnappen von Polyvinyl-Teflon-Handschuhen. Solche Handschuhe sind praktisch unzerreißbar und so teuer, dass selbst das Militär sie nur in ganz bestimmten Situationen verwendet. Shaun besteht darauf, dass wir immer ein Paar dabeihaben. Ein einziges. Nur für den Fall. »Nimm meine Zweitgarnitur kugelsichere Kleidung. Es besteht immer noch die Möglichkeit, dass sie da draußen auf uns schießen.«
»Meinst du, dass sie das tun?«
»Spielt es eine Rolle?«
»Nein. Tut es wohl nicht.«
Ich hörte zu, wie Rick durch den Wagen ging. Er holte Shauns Panzerung aus dem Schrank und zog sie sich über die Kleidung. Schnallen und Reißverschlüsse schlossen sich mit leisen, charakteristischen Geräuschen. Sie lenkten mich von den Lauten ab, die aus Shauns Richtung kamen, von dem Schwappen und Klicken, das ertönte, als er die Injektionspatronen vorbereitete.
»Danke, Rick«, sagte ich. »Das war ein echter Höllentrip.«
»Ich … stimmt.« Ich hörte, wie Rick näher kam. Es folgte ein metallisches Kratzen, als er das Laufwerk neben meinem Computer an sich nahm. Dann entfernte er sich wieder. Die Tür öffnete sich quietschend, und er zögerte. »Ich … Georgia?«
»Ja, Rick?«
»Es tut mir leid.«
Ich öffnete die Augen einen Spaltbreit und gewährte ihm ein kleines, freudloses Lächeln. Zum ersten Mal, seit ich zurückdenken konnte, tat mir das Licht nicht in den Augen weh. Ich verwandelte mich. Mein Körper verlor die Fähigkeit, Schmerzen zu erkennen. »Ist schon in Ordnung. Mir tut’s auch leid.«
Einen Moment lang wirkte er, als wollte er noch etwas sagen. Dann presste er die Lippen aufeinander, nickte und entriegelte die Tür. Es war die letzte Möglichkeit, rauszukommen. Sobald die Türen wieder geschlossen waren, würde der Wagen die Infektion registrieren und sich weigern, für irgendjemanden im Innern die Tür noch einmal aufzumachen.
»Shaun? Der Zug fährt ab«, sagte ich leise. »Wie wär’s, wenn du mir einen Piekser verpasst und gehst?«
»Damit du die Sache ohne mich zu Ende bringst?« Er schüttelte den Kopf. »Auf gar keinen Fall. Rick, sei vorsichtig da draußen.«
Ricks Schultern verkrampften sich, und dann trat er in die Abendluft hinaus. Die Tür schlug hinter ihm zu.
Shaun setzte sich vor mich auf den Boden, den Injektor in der Hand. Es war eine doppelläufige Pistole, die eine Ladung Beruhigungsmittel zusammen mit meinen eigenen, hyperaktivierten weißen Blutzellen enthielt. Diese Mixtur konnte die Verwandlung hinauszögern … für ein Weilchen. Nicht lange, aber, wenn wir Glück hatten, lange genug. Mit nach wie vor neutraler Miene sagte er: »Gib mir deinen rechten Arm.«
Ich streckte den Arm aus.
Shaun drückte die beiden Nadeln auf die dünne Haut in der Armbeuge, und eine kühle Welle durchströmte mich, als er abdrückte.
»Danke«, sagte ich zitternd.
»Mehr haben wir nicht.« Er öffnete einen Sondermüllbeutel, warf den benutzten Injektor hinein und versiegelte den Beutel. »Du hast höchstens eine halbe Stunde. Danach …«
»Besteht keine Garantie mehr, dass ich noch klar denken kann. Ich weiß.« Er erhob sich, ging mit steifen Beinen zum Sondermülleimer hinüber und warf den Beutel hinein. Ich wollte ihm hinterherrennen, ihn in die Arme schließen und mich ausweinen, aber das ging nicht. Ich wagte es nicht. Selbst meine Tränen würden ansteckend sein. Und die Beruhigungsmittel, die er mir in den Arm gespritzt hatte, würden keine Wunder wirken. Die Zeit war knapp.
Und meine Arbeit war noch nicht getan.
Ich wandte mich wieder meinem Monitor zu und versuchte, die Trockenheit in meiner Kehle herunterzuschlucken, während ich hörte, wie Shaun hinter mir hantierte, wie er die Ersatzrevolver aus dem Schließfach neben der Tür holte und sorgfältig lud, eine Patrone nach der anderen. Wie hieß es in den Berichten? War nicht ein trockener Mund eines der ersten Anzeichen einer Vermehrung – hervorgerufen von den kristallinen Virenansammlungen, die die Feuchtigkeit aufsaugen und jenen lieblichen ausgemergelten Zustand herbeiführen, der allen Untoten zu eigen ist? Doch, so war das in etwa. Es fiel mir immer schwerer, über derlei Dinge nachzudenken. Mit einem Mal war mir das alles ein bisschen zu nah an mir dran.
Meine Hände verharrten noch immer über der Tastatur, und mein Verstand kämpfte darum, einen Ansatzpunkt zu finden, als ich spürte, wie mir die Pistolenmündung ins Genick gedrückt wurde, kalt und irgendwie beruhigend. Shaun würde nicht zulassen, dass ich jemanden verletzte. Was auch passierte, er würde es nicht zulassen. Nicht einmal ihn. Nicht mehr, als ich es bereits getan hatte.
»Shaun …«
»Ich bin hier.«
»Ich liebe dich.«
»Ich weiß, George. Ich liebe dich auch. Wir gehören zusammen. Auf ewig.«
»Ich habe Angst.«
Seine Lippen strichen über mein Haar, als er sich vorbeugte, um mich auf den Kopf zu küssen. Ich wollte ihn anbrüllen, dass er sich von mir fernhalten sollte, aber ich tat es nicht. Der kühle, anhaltende Druck der Pistolenmündung in meinem Nacken ließ nicht nach. Wenn ich mich verwandelte, wenn ich aufhörte, ich selbst zu sein, würde er der Sache ein Ende machen. Seine Liebe war groß genug, um der Sache ein Ende zu machen. Hat es je eine Frau gegeben, die so viel Glück hatte wie ich?
»Shaun …«
»Psst, Georgia«, sagte er. »Es ist in Ordnung. Schreib einfach.« Also fing ich an. Meine letzte Gelegenheit, die Würfel zu werfen, die Wahrheit zu sagen und den Teufel Kreide fressen zu lassen. Meine letzte Gelegenheit, alles aufzuklären. Wofür wir gekämpft haben. Wofür wir gestorben sind. Was wir für nötig hielten.
Ich habe niemals darum gebeten, eine Heldin zu sein. Niemand hat mir jemals die Wahl gelassen, an keinem Punkt konnte ich mich dagegen entscheiden und sagen, dass es mir leidtäte, aber dass ich nicht die Richtige für den Job wäre. Ich wollte einfach nur die Wahrheit sagen und es den Leuten ermöglichen, ihre eigenen Schlüsse zu ziehen. Ich wollte, dass die Menschen nachdenken, dass sie Bescheid wissen und dass sie verstehen. Ich wollte einfach nur die Wahrheit sagen. In dem Wagen, der uns quer durchs Land begleitet hatte und durch die letzten Monate meines Lebens, mit meinem Bruder hinter mir, der die Hand am Abzug hatte, senkte ich die Hände auf die Tastatur und schrieb.
War es das wert?
Himmel, ich will es hoffen.
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LIVEMELDUNG
Mein Name ist Georgia Mason. Die letzten paar Jahre habe ich eine der vielen Nachrichtenportale dieser Welt betrieben, über aktuelle Ereignisse berichtet und versucht, meinen eigenen kleinen Beitrag dazu zu leisten, sie in einen Zusammenhang und ins rechte Licht zu rücken. Ich habe immer vor allem nach der Wahrheit gesucht, selbst, wenn sie auf Kosten meiner eigenen Bequemlichkeit und meines Wohlergehens ging. Jetzt sieht es danach aus, dass ich die Wahrheit sogar um den Preis meines Lebens gesucht habe, obwohl es mir damals noch nicht bewusst gewesen ist.
Mein Name ist Georgia Mason. Laut Zeitstempel auf der Feldtesteinheit (Modell XH-237, für seine Verlässlichkeit und, so mir Gott helfe, Genauigkeit bekannt) bin ich seit elf Minuten rechtlich tot. Doch jetzt, in diesem Moment, lautet mein Name noch Georgia Mason, und dies ist … ich schätze, man könnte es als meine letzte Postkarte von der Mauer bezeichnen. Ich muss euch das eine oder andere mitteilen, und wir haben nicht viel Zeit.
Während ich das hier schreibe, steht mein Bruder hinter mir und drückt mir eine Pistolenmündung ins Genick, wo ein Treffer mein Rückgrat durchtrennen und dabei so wenig Blut wie möglich verspritzen wird. In meiner Blutbahn zirkulieren große Mengen von Beruhigungsmitteln, vermischt mit einem Serum, das auf meinem eigenen Immunsystem basiert, und liefern sich ein Rennen mit dem Virus, das dabei ist, meine Zellen zu übernehmen. Meine Nase ist nicht verstopft, und ich kann noch schlucken, aber ich fühle mich teilnahmslos, und das Atmen fällt mir schwer. Ich teile euch das mit, damit ihr begreift, dass ich euch keinen Streich spiele, dass es sich hier nicht um einen reißerischen Versuch handelt, unsere Quoten oder Seitenzugriffe hochzutreiben. Dies ist die Wirklichkeit. Alles, was ich euch gleich mitteilen werde, ist die Wahrheit. Glaubt mir, begreift und handelt, bevor es zu spät ist.
Wenn ihr das hier auf der Startseite von Nach dem Jüngsten Tag lest, dann befindet sich links auf eurem Bildschirm ein Download-Link mit dem Titel »Kampagnen_Notizen.zip«. Der Besitz der Unterlagen, zu denen dieser Link führt, könnte von der Regierung der Vereinigten Staaten von Amerika als Hochverrat eingestuft werden. Bitte. Klickt ihn an. Ladet die Datei runter. Lest. Verbreitet die Daten über so viele Foren wie möglich, über alle Message-Boards, Photo-Sharing-Sites oder Blogs, auf die ihr Zugriff habt. Die Informationen in diesen Dateien sind für unsere Freiheit und für unser Überleben von ebenso essenzieller Bedeutung wie der Bericht von Dr. Matras es während des Erwachens war. Ich übertreibe die Bedeutung dieser Unterlagen nicht. Dafür fehlt mir die Zeit.
Auch fehlt mir die Zeit, um die Fakten zu wiederholen, die bereits zum Download bereitstehen. Lasst mich anstelle all der Dinge, die ich nicht sagen kann, für die mir die Zeit fehlt, die ich niemals sagen werde und die ich gerne sagen würde, nur Folgendes feststellen: Sie belügen uns. Sie lenken ganz bewusst die Forschung, die nach einer Heilung für diese Krankheit suchen sollte, in eine andere Richtung, und zwar unter den Augen unserer eigenen Regierung. Ich weiß nicht, wer »sie« sind. Ich habe nicht lange genug überlebt, um es herauszufinden. Gouverneur Tate bedient ihre Interessen, und zu meinem Bedauern muss ich sagen, dass Georgette Meissonier, die einmal Teil dieses Teams war, dasselbe getan hat.
Sie wollen, dass wir weiter in Angst leben.
Sie wollen uns im Griff behalten.
Sie wollen, dass wir krank bleiben.
Bitte, lasst nicht zu, dass sie das unserer Welt antun. Von der Mauer aus flehe ich euch an, weil es das Einzige ist, was ich noch tun kann. Lasst nicht zu, dass sie uns in Angst halten. Verstecken wir uns nicht weiter in unseren Häusern. Lasst uns das sein, was wir sein sollten: freie Menschen, dazu fähig, eigene Entscheidungen zu treffen. Lest, was ich geschrieben habe, begreift, welches Schicksal sie uns zugedacht haben, uns allen, und entschließt euch zu leben.
Es war ein Fehler von ihnen, mich zu töten, denn ob lebend oder tot, die Wahrheit gibt keine Ruhe. Meine Name ist Georgia Mason, und ich flehe euch an: Erhebt euch, solange ihr es noch könnt.
Mahir, es tut mir so leid.
Buffy, es tut mir so leid.
Rick, es tut mir so leid.
Shaun, es tut mir leid es tut mir leid es tut mir leid ich wollte das nicht ich würde alles zurücknehmen wenn ich könnte aber ich kann nicht ich kann nicht ich ich ich ich ich ich verblasst alles Worte weg kann nicht kann nicht Shaun bitte Shaun bitte ich liebe dich ich liebe dich ich immer du weißt ich Shaun bitte kann nicht festhalten jfdh mmm mus meinen Namen mein Name ist Shaun ich liebe dich Shaun bitte gngn bitte ERSCHIESS MICH SHAUN ERSCHIESS MICH N
LLIVEÜBERTRAGUNG UNTERBROCHEN
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