29
Das Prozedere einer Quarantäne wirkt sich auf die verschiedenen sozioökonomischen Bevölkerungsgruppen unterschiedlich aus, genau wie ein Ausbruch. Wenn Kellis-Amberlee in einer Stadt ausbricht, dann trifft es das Zentrum und die Einkaufsviertel am härtesten. Dort herrscht am meisten Kommen und Gehen, und es kommt am häufigsten zu zufälligen Kontakten – soweit die heutzutage überhaupt noch stattfinden. Interessanterweise gibt es in den Geschäftsvierteln mehr Todesfälle. In den Slums gibt es vielleicht weniger Sicherheitsvorkehrungen und Waffen, aber dafür kümmern sich die Leute dort selbst darum, die Ordnung aufrechtzuerhalten, und weniger Menschen versuchen, Verletzungen zu verbergen, wenn sie wissen, dass eine Vermehrung nicht etwa ihre Kollegen das Leben kosten wird, sondern ihre Familien. Sobald eine Quarantäne verhängt wird, werden Innenstadt und Einkaufsviertel zur Geisterstadt. Wenn man durch sie hindurchfährt, spürt man, wie die Bewohner einen beobachten und auf eine falsche Bewegung warten.
Die Wohngebiete der Mittelklasse neigen ebenfalls dazu, sich vollständig abzuschotten, wirken dabei allerdings nicht so offen abweisend: Manchmal werden Fenster offen gelassen, die zu klein oder zu hoch sind, als dass jemand hindurchkönnte, und nicht jede Glastür hat einen Stahlschutz davor. Man hat nach wie vor das Gefühl, dass dort Menschen leben, auch wenn sie einen nicht gerade wärmstens willkommen heißen. Diese Leute bringen einen genauso schnell um wie jeder andere auch, wenn man sich ihnen zu nähern versucht. Aber solange man das bleiben lässt, hat man nichts zu befürchten.
Der Saal, in dem der Senator seine Rede gehalten hatte, war so weit weg vom Kongresszentrum, dass er sich offiziell außerhalb der Quarantänezone befand. Es herrschte praktisch kein Verkehr auf der Straße, aber andererseits waren die Fenster nicht mit ausfahrbaren Gitterstäben gesichert und die Türen nicht mit Stahlplatten geschützt. Die Geschäfte waren geöffnet, obwohl es keine Kunden gab. Während Steve an den ersten Checkpoint heranfuhr, schaute ich mich um. Ich hasste diese Leute dafür, dass sie einfach ignorieren konnten, was außerhalb ihres Stadtteils geschah. George war tot. Rick und Mahir behaupteten, dass die ganze Welt mit mir trauerte, aber das spielte keine Rolle, solange ihr Mörder – der Mann, den ich zur Rechenschaft ziehen würde – unbehelligt blieb.
Wenn es dem Wachtposten seltsam vorkam, dass wir über eine Stunde nach der Abriegelung des Kongresszentrums in einem staubigen, verbeulten Geländewagen hier ankamen, dann behielt er es für sich. Unsere Blutproben waren sauber. Das war alles, was ihn in seinem Job zu interessieren hatte, und so winkte er uns durch. Ich biss die Kiefer so fest zusammen, dass ich beinahe Blut schmeckte.
Beruhig dich, riet mir George. Es ist nicht seine Schuld. Er hat die Nachrichten nicht verfasst.
»Dann wehe den Schreiberlingen«, brummte ich.
Steve warf mir einen Blick zu. »Was hast du gesagt?«
»Nichts.«
Wir hielten neben einem Pressebus, der zweifellos voller Reporter gewesen war, die jetzt dem Himmel dafür dankten, dass sie zum Zeitpunkt des Ausbruchs einem Haufen wichtiger Politiker zugeteilt gewesen waren und deshalb keine Zeit hatten, rauszugehen und über die Quarantäne zu berichten. Irwins aus der Gegend würden am Zonenrand zusammenströmen und die Leute vom Seuchenschutz dabei filmen, wie sie den Bereich abriegelten und sicherten. Vor nicht allzu langer Zeit wäre ich ebenfalls dabei gewesen, glücklich und zufrieden. Jetzt … jetzt wäre ich glücklich, wenn ich nie wieder einen Ausbruch zu sehen kriegen würde. Irgendwo zwischen Eakly und George ist mir die Leidenschaft dafür abhandengekommen.
Steve und ich betraten gemeinsam den Fahrstuhl. Ich warf ihm einen Blick zu, als er auf den Stockwerksknopf drückte. »Du hast keinen Presseausweis.«
»Brauche ich auch nicht«, antwortete er. »Das Zentrum ist unter Quarantäne. Genau genommen bin ich sogar vertraglich dazu verpflichtet, alle Sicherheitssperren zwischen mir und dem Senator zu umgehen.«
»Schlau«, sagte ich anerkennend.
»Genau.«
Der Fahrstuhl öffnete sich und gab den Blick auf eine widerwärtig normal wirkende Gesellschaft frei. Kellner in gestärkten Uniformen liefen mit Tabletts voller Drinks und Häppchen umher. Politiker, ihre Gattinnen und Gatten, Reporter und Angehörige der kalifornischen Elite schlenderten durch den Saal und plauderten über irgendwelchen Scheiß, der völlig unwichtig war, verglichen mit Georges Blut, das an der Wand trocknete. Der einzige wirkliche Unterschied war in ihren Augen zu sehen. Sie wussten von der Quarantäne – die Hälfte dieser Leute wohnten oder arbeiteten im Kongresszentrum oder waren von seinem fortgesetzten wirtschaftlichen Erfolg abhängig –, und sie hatten schreckliche Angst. Aber man muss den Schein wahren, insbesondere, wenn die Stadt wegen eines Ausbruchs finanziellen Einbußen in Millionenhöhe entgegensieht. Also ging die Party weiter.
»Poe hatte recht«, murmelte ich. Der Mann mit den Bluttestgeräten wartete darauf, dass wir uns bei ihm anmeldeten. Ich steckte meine zunehmend wunde Hand in die Einheit, die er mir hinhielt, und beobachtete, wie die Lichter von Rot auf Gelb und schließlich auf Grün sprangen. Nachdem es mich nicht erwischt hatte, als ich mit Georges Leiche im Wagen eingeschlossen gewesen war, wäre eine Infektion auch ein zu einfacher Ausweg gewesen.
Ich riss meine Hand heraus, sobald das Licht grün wurde, hielt meinen Presseausweis hoch und stürzte mich ins Getümmel. Steve folgte mir auf den Fuß. Ich wich Personal und Gästen aus und hielt direkt auf das Zimmer zu, in dem ich Senator Ryman zuletzt gesehen hatte. Sie hatten ihn sicher nicht gehen lassen, nachdem das Kongresszentrum abgeriegelt worden war, und wenn er nicht wegkonnte, dann hatte er wahrscheinlich auch nicht den Raum verlassen, in dem seine überlebenden Mitarbeiter und Anhänger versammelt waren. Das war nur logisch.
Die Leute wichen mit aufgerissenen Augen vor mir zurück, und unterdrückte Angst trat auf ihre Gesichter. Ich hielt inne und schaute an mir hinunter. Schlamm, Schmauchspuren, sichtbare Bewaffnung – alles, nur kein Blut. Irgendwie war es mir gelungen, nichts von Georges Blut abzukriegen. Das war gut, da sie infiziert gestorben war und ihr Blut mich zu einer wandelnden Gefahrenzone gemacht hätte, aber trotzdem war es fast schon ein Jammer. Dann wäre sie irgendwie dabei gewesen, wenn die Sache ihr Ende fand.
»Shaun?«
Senator Ryman klang erstaunt. Ich drehte mich dorthin um, wo seine Stimme hergekommen war; er war gerade im Begriff aufzustehen. Emily saß mit aufgerissenen Augen und über dem Mund zusammengeschlagenen Händen neben ihm, und Tate auf der anderen Seite. Im Gegensatz zu den Rymans wirkte er alles andere als erleichtert, mich zu sehen. Ich sah den Hass in seinen Augen.
»Senator Ryman«, sagte ich und ging zu dem Tisch, an dem offenbar alle Überlebenden der Ryman-Wahlkampagne versammelt waren. Weniger als ein Dutzend von uns waren zu dieser bescheuerten Rede gegangen. Weniger als ein Dutzend von einem Konvoi, der auf mehr als sechzig Menschen angeschwollen war. Wie hoch war wohl die Überlebensquote unter den Übrigen? Fünfzig Prozent? Weniger? Mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit weniger. Es liegt in der Natur eines Ausbruchs, dass er alles tötet, was er sich nicht einverleiben kann. »Mrs Ryman.« Ich lächelte dünn. Es handelte sich um die Art von Gesichtsausdruck, die immer eher in Georgias Ressort gefallen war als in meines. »Gouverneur.«
»Oh Gott, Shaun.« Emily Ryman stand so hastig auf, dass sie ihren Stuhl dabei umwarf, und schloss mich in die Arme. »Wir haben die Nachrichten gehört. Es tut mir so leid.«
»Ich habe sie erschossen«, sagte ich im Plauderton und schaute über Emilys Schulter zu Senator Ryman und Gouverneur Tate. »Ich habe abgedrückt, als die Vermehrung eingesetzt hat. Bis dahin war sie bei Sinnen. Man kann den Zeitraum, in dem jemand nach einer Infektion noch klar im Kopf ist, mit Beruhigungsmitteln und weißen Blutkörperchen verlängern, und in Erste-Hilfe-Kursen lernt man, wie man das im Feld anstellt. Damit die Sterbenden einem noch Nachrichten für ihre Familie oder ihre anderen Lieben mit auf den Weg geben können.«
»Shaun?« Emily ging etwas mehr auf Abstand und sah mich verunsichert an. Sie warf einen Blick über die Schulter zu Gouverneur Tate und schaute dann wieder zu mir. »Was geht hier vor?«
»Wie sind Sie aus der Quarantänezone rausgekommen?«, fragte Tate. Seine Stimme war ausdruckslos, ohne jedes Gefühl. Er wusste, was lief. Er hatte es schon in dem Moment gewusst, in dem ich zur Tür hereingekommen war. Der Dreckskerl.
»Ein bisschen Glück, ein bisschen Geschick, ein bisschen angewandter Journalismus.« Emily Ryman ließ mich ganz los und wich einen Schritt in Richtung ihres Manns zurück. Ich hielt den Blick auf Tate gerichtet. »Wie sich herausgestellt hat, mochten die meisten der Leute vom Sicherheitsdienst meine Schwester lieber als Sie. Liegt wahrscheinlich daran, dass George ihnen zu helfen versucht hat, anstatt sie für ihre politischen Ziele einzuspannen. Sobald sie erfahren haben, was geschehen ist, haben die wiederum nur zu gerne mir geholfen.«
»Shaun, wovon reden Sie?«
Die Verwirrung in Senator Rymans Tonfall genügte, um mich von Tate abzulenken. Ich wandte mich blinzelnd dem Mann zu, der für unsere Anwesenheit hier verantwortlich war, und fragte: »Haben Sie Georgias letzte Meldung gesehen?«
»Nein, mein Junge, das habe ich nicht.« Sein Miene war sorgenvoll angespannt. »Hier ging es etwas hektisch zu. Ich habe keine Nachrichtenseite gelesen, seit die Alarmglocken geklingelt haben.«
»Woher wussten Sie dann …«
»Wenn der Seuchenschutz eine Presseerklärung abgibt, dann spricht sich das ziemlich schnell rum.« Senator Ryman schloss mit schmerzvollem Gesicht die Augen. »Sie war so verdammt jung.«
»Georgia wurde ermordet, Senator. Mit einem Plastikpfeil voller aktiver KA-Viren, direkt in den Arm. Sie hatte nicht die geringste Chance. Alles bloß, weil wir herausgefunden haben, was wirklich lief.« Ich wandte meine Aufmerksamkeit wieder Tate zu und fragte, jetzt leiser: »Warum das in Eakly, Gouverneur? Warum das mit der Ranch? Und warum, Sie Scheißkerl, warum Buffy? Ich verstehe ja sogar, dass Sie mich und meine Schwester töten wollen, nach all dem, aber warum?«
»Dave?«, sagte Senator Ryman.
»Dieses Land brauchte jemanden, der zur Abwechslung mal wirklich handelt. Jemanden, der bereit ist zu tun, was getan werden muss. Nicht wieder irgendeinen Politiker, der den Wandel predigt und den Status Quo aufrechterhält.« Tate schaute mir unverwandt in die Augen. Er wirkte beinahe gelassen. »Wir haben nach dem Erwachen ein paar richtige Schritte hin zu Gott und zu mehr Sicherheit getan, aber in den letzten Jahren haben wir nachgelassen. Die Menschen haben Angst davor, das Richtige zu tun. Das ist der Schlüssel. Echte Angst motiviert sie, die unwichtigen Ängste zu überwinden, die eigentlich keine Rolle spielen. Daran musste man sie erinnern. Sie mussten sich wieder erinnern, wofür Amerika steht.«
»Ich bin mir nicht sicher, ob ich den terroristischen Einsatz von Kellis-Amberlee eine Erinnerung nennen würde. Ich persönlich würde das als, Sie wissen schon, Terrorismus bezeichnen. Oder als Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Vielleicht auch als beides. Ich schätze, das muss vor Gericht entschieden werden.« Ich zog Georgias 40er und legte auf Tate an. Stille senkte sich über die Menge, deren gründlich geschulter politischer Instinkt auf etwas reagierte, das wie ein laufendes Attentat wirken musste. »Sichere Frequenz, Stimmaktivierung, Shaun Phillip Mason, ABF-17894, Passwort ›verflixt‹. Mahir, hörst du mich?«
Mein Ohrstecker piepte einmal. »Bin da, Shaun«, sagte Mahirs Stimme, verzerrt von den Verschlüsselungsalgorithmen, welche die Übertragung schützten. Sichere Frequenzen sind nur für einmal gut, aber Junge, gut sind sie. »Wie ist die Lage?«
»Bin an Tate dran. Lade alles hoch, was ich dir sende, und schick Georgias letzte Meldung direkt an Senator Ryman. Er muss da mal einen Blick drauf werfen.« Gouverneur Tate starrte mich finster an. Ich ließ ein Lächeln aufblitzen. »Ich habe die ganze Zeit aufgenommen. Aber das wussten Sie, oder? So ein schlauer Kerl wie Sie. Schlau genug, um unsere Sicherheitsvorkehrungen zu umgehen. Um unsere Freunde zu kompromittieren.«
»Ms Meissonier war eine realistisch denkende Patriotin, die verstanden hat, welchen Prüfungen sich dieses Land gegenübersieht«, sagte Tate steif und angespannt. »Sie war stolz darauf, helfen zu können.«
»Ms Meissonier war eine vierundzwanzigjährige Journalistin, die ihren Lebensunterhalt mit dem Schreiben von Lyrik verdient hat«, blaffte ich. »Ms Meissonier war unsere Kollegin, und Sie haben sie umbringen lassen, weil sie Ihnen nicht mehr von Nutzen war.«
»David, ist das wahr?«, fragte Emily. Ihre Stimme war ausdruckslos vor Entsetzen. Senator Ryman hatte seinen Organizer hervorgeholt und schien mit jeder Sekunde zu altern, während er auf den Bildschirm starrte. »Haben Sie … Eakly? Die Ranch?« Zorn verzerrte ihre Züge, und bevor ich oder ihr Mann reagieren konnte, war sie von ihrem Stuhl aufgesprungen und stürzte sich auf Gouverneur Tate. »Meine Tochter! Das war meine Tochter, du Mistkerl! Das waren meine Eltern! Du sollst in der Hölle schmoren, du …«
Tate packte sie bei den Handgelenken, drehte sie herum und legte ihr den Arm um den Hals. Seine linke Hand, die er seit meinem Eintreffen unterm Tisch gehalten hatte, kam zum Vorschein. Er hielt eine von diesen Plastikspritzen darin. Ohne sie zu sehen, wehrte Emily Ryman sich weiter.
Der Senator wurde bleich. »Nein, David, lassen Sie uns nichts überstürzen …«
»Ich habe versucht, sie nach Hause zu schicken, Peter«, sagte Tate. »Ich habe versucht, sie von der Kampagne fernzuhalten, sie aus der Schusslinie zu bringen, mir vom Hals zu schaffen. Und jetzt schau dir an, wozu sie uns getrieben haben. Ich halte deine hübsche kleine Frau fest, und wir sind nur noch einen Ausbruch von einem glücklichen Ende entfernt. Ich hätte dir das Amt überlassen. Ich hätte dich zum größten amerikanischen Präsidenten der letzten hundert Jahre gemacht. Zusammen hätten wir diese Nation von Grund auf erneuert.«
»Kein Amt ist das hier wert«, sagte Ryman. »Emily, halt jetzt still, Schatz.« Emily, die verwirrt und verloren aussah, hörte auf, sich zu wehren. Ryman hob die Hände mit den Handflächen nach oben. »Was muss ich tun, damit Sie sie gehen lassen? Meine Frau hat nichts mit der Sache zu tun.«
»Ich fürchte, ihr steckt da jetzt alle mit drin«, sagte Tate mit einem kleinen Kopfschütteln. »Niemand verschwindet hier einfach. Dafür ist die Sache schon zu weit gegangen. Wenn du diese Journalisten abserviert hättest« – er spie das Wort beinahe aus – »dann hätte es vielleicht anders laufen können. Aber über vergossene Milch soll man nicht weinen, hab ich recht?«
»Legen Sie sofort die Spritze weg, Gouverneur«, sagte ich, während ich weiterhin die Waffe auf ihn gerichtet hielt. »Lassen Sie los.«
»Shaun, der Seuchenschutz hat sich in unsere Übertragung eingeklinkt«, sagte Mahir. »Sie stören die Signale nicht, aber sie hören definitiv mit. Dave und Alaric halten die Übertragung stabil, aber ich weiß nicht, ob wir etwas dagegen machen können, wenn sie unsere Verbindung kappen.«
»Oh, die kappen uns nicht die Verbindung, nicht wahr, Dr. Wynne?«, fragte ich. Langsam fühlte ich mich ein bisschen benommen. Das ging alles so verdammt schnell.
Reiß dich zusammen, Dummerchen, fauchte George. Glaubst du, ich will als Einzelkind enden?
»Ich hab alles im Griff, George«, brummte ich.
»Was hast du gesagt?«, fragte Mahir.
»Nichts. Dr. Wynne? Sind Sie da?« Wenn er das war, dann war der Seuchenschutz auf unserer Seite. Andernfalls …
Es knackte, als die Behörde sich in unsere Frequenz einklinkte. »Bin da, Shaun«, sagte Dr. Joseph Wynne mit seinem vertrauten Südstaatenakzent. Im Hintergrund fluchte Mahir. »Sind Sie in Gefahr?«
»Tja, Gouverneur Tate bedroht die Frau von Senator Ryman mit einer Spritze, und da die letzten beiden Spritzen, mit denen wir es zu tun hatten, bis oben hin voll mit Kellis-Amberlee gewesen sind, möchte ich nicht drauf wetten, dass es sich diesmal anders verhält«, sagte ich. »Ich habe eine Pistole auf ihn gerichtet, aber ich glaube nicht, dass ich ihn erschießen kann, bevor er sie damit sticht.«
»Wir sind auf dem Weg. Können Sie ihn hinhalten?«
»Ich tue mein Bestes.« Ich zwang mich, meine Aufmerksamkeit wieder Gouverneur Tate zuzuwenden, der mich mit ausdrucksloser Miene beobachtete. »Kommen Sie schon, Gouverneur. Sie wissen, dass die Sache gelaufen ist. Warum legen Sie das Ding nicht weg und treten wie ein Mann ab statt wie ein Mörder? Oder zumindest nicht wie ein noch größerer Mörder.«
»Das war eben nicht besonders diplomatisch, Shaun«, sagte Dr. Wynne mir ins Ohr.
»Ich tue mein Bestes«, sagte ich.
»Shaun, mit wem reden Sie da?«, fragte Senator Ryman. Er wirkte nervös. Wahrscheinlich hatte das damit zu tun, dass soeben ein Spinner seiner Frau eine Spritze mit aktiven Viren an den Hals hielt.
»Mit Dr. Joseph Wynne vom Seuchenschutz«, antwortete ich. »Sie sind auf dem Weg.«
»Gott sei Dank«, hauchte der Senator.
»Wollen Sie die Spritze jetzt vielleicht weglegen, Gouverneur?«, fragte ich. »Sie wissen, dass es vorbei ist.«
Gouverneur Tate zögerte. Er schaute von mir zum Senator und schließlich zur entsetzt zurückweichenden Menge. Mit einem Mal ermattet schüttelte er den Kopf. »Ihr seid allesamt Narren. Ihr hättet dieses Land retten können. Ihr hättet Amerika das moralische Rückgrat wiedergeben können.« Sein Griff um Emily erlahmte. Sie riss sich los und stürzte sich in die Arme ihres Mannes. Senator Ryman erhob sich mit ihr zusammen und wich zurück. Gouverneur Tate beachtete die beiden nicht. »Deine Schwester war ein kleiner Schmierfink, eine Schlampe, die Kellis persönlich gefickt hätte, wenn sie geglaubt hätte, dass ihr das eine Schlagzeile einbringt. In einer Woche wird man sie vergessen haben, wenn eure flatterhafte kleine Leserschaft weiterzieht und der Pöbel sich auf die nächste Schlagzeile stürzt. Aber an mich wird man sich erinnern, Mason. Märtyrer werden nie vergessen.«
»Abwarten«, sagte ich.
»Nein«, erwiderte er, »das werden wir nicht.« Mit einer einzigen, fließenden Bewegung rammte er sich die Spritze in den Oberschenkel und entleerte sie.
Emily Ryman schrie auf. Senator Ryman brüllte aus vollem Hals, dass die Leute verschwinden sollten, in die Fahrstühle, hinter Sicherheitstüren, Hauptsache weg von dem Mann, der soeben zu einem lebenden Seuchenherd geworden war. Gouverneur Tate, der mich immer noch anschaute, fing an zu lachen.
»Hey George«, sagte ich und nahm mir ein paar Sekunden Zeit zum Zielen. Hier drinnen gab es keinen Wind, den ich hätte ausgleichen müssen. Das war zur Abwechslung ganz nett. »Jetzt schau mal her.«
Der Knall, als ich ihre 40er abfeuerte, wurde beinahe vom Geschrei der Menge übertönt. Gouverneur Tate hörte auf zu lachen und sah einen Moment lang so überrascht aus, dass es beinahe komisch wirkte. Dann sackte er über dem Tisch zusammen, und der blutige Matsch, der von seinem Hinterkopf geblieben war, wurde sichtbar. Ich hielt die Pistole auf ihn gerichtet und wartete auf ein Anzeichen von Bewegung. Nachdem einige Augenblicke vergangen waren, ohne dass er sich geregt hatte, gab ich sicherheitshalber noch drei Schüsse auf ihn ab. Es kann nie schaden, auf Nummer sicher zu gehen.
Die Leute kreischten noch immer und drängten zu den Ausgängen. Mahir und Dr. Wynne versuchten, einander auf unserer Funkfrequenz zu übertönen. Beide wollten einen Lagebericht, und außerdem wollten sie wissen, ob es mir gut ging und ob der Ausbruch unter Kontrolle war. Es bereitete mir Kopfschmerzen, also nahm ich meinen Ohrstecker raus und legte ihn auf den Tisch. Sollten sie rumbrüllen. Ich hatte lange genug zugehört. Jetzt musste ich auf niemanden mehr hören.
»Siehst du, George?«, flüsterte ich. Wann hatte ich zu weinen angefangen? Es spielte keine Rolle. Tates Blut sah genau wie das von George aus. Jetzt war es noch leuchtend rot, aber bald würde es trocknen und braun werden, alt werden, zu etwas werden, das die Welt einfach vergessen konnte. »Ich hab ihn erwischt. Ich hab ihn für dich erwischt.«
Gut, sagte sie.
Senator Ryman brüllte meinen Namen, aber er war so weit weg, dass mich das nicht kümmern musste. Steve und Emily würden niemals zulassen, dass er näher an die verseuchte Leiche ranging. Bis der Seuchenschutz kam, hatte ich meine Ruhe. Der Gedanke gefiel mir. Ich, alleine.
Ich trat zwei Schritte zurück, griff nach einem Stuhl und setzte mich an einen Tisch, von dem aus ich Tate im Auge behalten konnte. Nur für den Fall. In der Mitte des Tischs stand einsam ein Körbchen mit Knabberstangen, von den wankelmütigen Gästen verschmäht. Mit der freien Hand nahm ich mir eine und kaute gemächlich vor mich hin und hielt weiterhin Georges Waffe auf Tate gerichtet. Er regte sich nicht. Ich mich auch nicht. Als fünfzehn Minuten später der Seuchenschutz eintraf und das Kommando übernahm, warteten wir noch immer, Tate in seiner Pfütze aus langsam trocknendem Blut, ich mit meinem Körbchen voller Knabberstangen. Sie riegelten den Raum ab und trieben uns zusammen, um uns in Quarantäne zu verfrachten und zu testen. Ich behielt Tate so lange wie möglich im Auge und suchte nach einem Anzeichen, dass es noch nicht vorbei war, dass die Geschichte noch nicht zu Ende war. Er regte sich nicht ein einziges Mal, und George sagte kein Wort, sodass ich mit der dunklen, hallenden Leere in meinem Kopf allein blieb.
War es das wert, George? Tja, war es das? Sag es mir, wenn du es weißt, denn bei Gott, ich weiß es wirklich nicht.
Ich weiß überhaupt nichts mehr.