18
Ich schieße seit jeher nicht so gut wie Shaun, aber auf die kurze Entfernung spielte das keine Rolle. Kopfschüsse sind nicht weiter schwierig, wenn es praktisch keinen nennenswerten Abstand zwischen einem selbst und dem Ziel gibt. Trotzdem stand ich mehrere Minuten lang mit erhobener Pistole da. Ich wartete auf eine Bewegung oder auch auf irgendein Gefühl in mir. Sie hatte zu meinem Team gehört, zu unserem inneren Kreis, und nun war sie fort. Hätte ich nicht irgendetwas spüren sollen? Aber da war nichts außer einem vagen Verlustgefühl und einem sehr viel stärkeren Gefühl des Entsetzens, das mich überkam.
Ricks Würgen riss mich zurück in die Wirklichkeit. Ich hielt mich an Shauns Arm fest, setzte meine Sonnenbrille wieder auf und spürte ihr vertrautes Gewicht auf meiner Nase. Dann senkte ich die Waffe und wandte mich den überlebenden Mitgliedern unseres Teams zu. »Rick, wie sieht es aus?« Er gab mehr würgende Geräusche von sich. Ich nickte. »Wie ich vermutet habe. Shaun, hol drei weitere Feldeinheiten aus dem Wagen.«
»Und was genau machst du, während ich dich hier mitten im Nirgendwo mit den Toten und Captain Kotze zurücklasse?«
Ich öffnete den Reißverschluss meiner Jackentasche, holte meinen Organizer heraus und hielt ihn hoch. »Ich werde hier rumstehen, Captain Kotze im Auge behalten und Hilfe rufen. Wir werden saubere Testergebnisse brauchen, bevor sie mit irgendetwas anderem als Kugeln in unsere Nähe kommen. Ein komplettes Seuchenschutzteam muss her. Wir haben zwei Leichen, einen kontaminierten Truck, Buffys Blut auf dem Boden …«
Shaun erstarrte und wurde weiß im Gesicht, als er von den Glassplittern in den Knien meiner Jeans zu meinen Händen schaute, die dort, wo ich mir am Türgriff die Haut aufgescheuert hatte, rot und wund waren. »Und wir brauchen saubere Testergebnisse«, sagte er mit fast schon benommener Stimme.
»Ganz genau«, sagte ich. Shaun sah verängstigt aus. Ich wünschte mir ein wenig, selbst Angst empfinden zu können, aber es gelang mir nicht. Ich kam einfach nicht über diese verdammte Taubheit hinweg. »Los.«
»Bin auf dem Weg«, sagte er, wirbelte herum und rannte Richtung Sendewagen.
Rick kniete immer noch am Boden und gab würgende Laute von sich, kotzte aber nicht mehr richtig. Ich stellte mich neben ihn und versuchte, ihn durch meine Gegenwart zu beruhigen, während ich mit meinem Organizer einen Notruf absetzte. In der Nähe eines Highways auf breiter Notfrequenz gesendet, würde meine Nachricht jeden Polizeiempfänger erreichen, jede Notaufnahme und jede Bundesbehörde in Reichweite. Wenn es hier irgendwo Hilfe gab, würden wir Hilfe kriegen.
»Hier spricht Georgia Carolyn Mason, Lizenznummer ABF Strich eins sieben fünf acht neun drei, derzeitiger Aufenthaltsort zwischen Meilenstein 77 und 78 auf der Interstate 55 Richtung Süden, mit einem Gefahrenzonen-Update für die Umgebung und einem Notruf der Priorität A. Unser Zustand ist stabil, wir erwarten die Testergebnisse der überlebenden Gruppenmitglieder. Bitte um Bestätigung.«
Die Antwort kam sofort. »Hier spricht die Seuchenschutzbehörde von Memphis. Wir schicken Ihnen ein Quarantäneteam. Bitte erklären Sie Ihre Anwesenheit in der Gefahrenzone.«
Genau genommen ist es nicht verboten, auf den Bundes-Highways zu fahren – man muss schließlich nach wie vor von einem Ort zum anderen gelangen –, aber es ist unüblich, wenn man nicht gerade Trucker ist, und selbst die müssen Routen angeben, in denen genau ausgewiesen ist, wann sie an welcher Wegstation eintreffen. Wohnwagen unterliegen ähnlichen Bestimmungen. Nach dem Inkrafttreten der entsprechenden Gesetze haben sich einige Leute darüber beklagt, dass die Regierung die Freiheit des Einzelnen einschränken würde – allerdings wurden sie rasch mit dem harschen Hinweis zum Schweigen gebracht, dass es bei der Maßnahme nicht um die Überwachung von Einzelpersonen ging, sondern darum, die Verbreitung potenzieller Ausbrüche einzuschätzen. Die meisten Leute halten den Mund, sobald man ihnen sagt, dass man lediglich in Erfahrung bringen will, wo die Zombies als Nächstes auftauchen.
»Routenregistrierung 47 Strich A, Ryman/Tate-Ausrüstungstransport, anwesende registrierte Fahrer sind Georgia Carolyn Mason, Lizenz der Klasse M; Shaun Phillip Mason, Lizenz der Klasse A; Richard Cousins, Lizenz der Klasse C; Charles Li Wong, Lizenz der Klasse A. Registrierte Beifahrer sind Georgette Marie Meissonier, Lizenz der Klasse C. Registrierter Grund der Reise ist der Transport schwerer Geräte von Parrish, Wisconsin, nach Houston, Texas. Registrierte Reisedauer vier Tage, einschließlich Pausen und Schlafzeiten für die zur Verfügung stehenden Fahrer. Zwei unserer Trucks sind noch unterwegs, ich bin mir nicht sicher, wie ihr Status ist. Wenn Sie mir ihren Netzwerkschlüssel geben, kann ich unsere genaue Route übermitteln.«
Bei der Antwort klang die Stimme des Mannes nun freundlicher. Meine Informationen waren in seinen Computer eingegeben worden und hatten sich als sauber erwiesen. »Das wird nicht nötig sein, Ms Mason. Warum fordern Sie ein Notfallteam an?«
»Jemand hat drei von unseren Fahrzeugen in die Reifen geschossen. Eins unserer Autos ist zerstört, und der Fahrer ist möglicherweise verletzt. Der hintere Truck ist umgekippt. Der Fahrer, Charles Wong, wurde beim Aufprall getötet und reanimiert, bevor wir das Fahrzeug erreicht haben. Er hat seine Beifahrerin Georgette Meissonier infiziert. Ihre Testergebnisse sind in einer Standardfeldeinheit von Sony festgehalten, Modell Nummer V Strich fünfzehn Strich elf Strich A. Zum Zeitpunkt der Verifizierung waren wir über mobilen Upload mit dem Mainframe der Seuchenschutzbehörde verbunden. Aufgrund der Möglichkeit eines unzutreffenden Positivergebnisses bei diesem Modell haben wir nicht sofort gehandelt, sondern einen Sicherheitsabstand eingehalten, bis bei Ms Meissonier Pupillenweitung und Erinnerungsverlust zu beobachten waren. Sobald die Infektion verifiziert war, haben wir ihr einen ehrenhaften Tod gegeben.« Jetzt kamen endlich Kummer und Wut und begannen, an den Rändern meiner Teilnahmslosigkeit zu nagen. »In der Fahrerkabine und vor dem Truck befinden sich verseuchtes Blut sowie zwei verseuchte Leichen, die entfernt und entsorgt werden müssen.«
»Das Team wird sich nicht nähern, solange keine vorläufigen Testergebnisse für die überlebenden Angehörigen Ihrer Reisegruppe hochgeladen worden sind, und es wird keine unmittelbare Hilfe leisten, bis sie erneut mit den von ihm zur Verfügung gestellten Feldgeräten der Seuchenschutzbehörde getestet worden sind«, warnte der Mann, wobei sein Tonfall wieder etwas kühler wurde. Zwei Leichen und eine ganze Menge verseuchten Blutes auf der Straße vor Memphis konnten einen Ausbruch bedeuten, der weit über unser kleines Team hinausreichte. Das wussten wir beide. Jetzt mussten wir die Sache unter Kontrolle bringen.
»Verstanden.« Mit einem Piepen signalisierte mein Organizer einen eingehenden Anruf. »Sir, darf ich nach Ihrem Namen fragen?«
»Joseph Wynne, Ms Mason. Halten Sie durch. Unser Team ist bald da.«
»Danke, Joe«, sagte ich.
»Gott steh Ihnen bei«, sagte er. Dann wurde die Verbindung mit einem Klicken unterbrochen.
Ich nahm meinen Organizer in die andere Hand und drückte auf »Annehmen«. »Georgia.« Shaun rannte auf mich zu, die Feldeinheiten an die Brust gedrückt. Ich hob die freie Hand, und er warf mir eine zu. Das war kein einfaches Wurfspiel: Es gibt hundert kleine Tests auf Infektionen, die nicht auf wissenschaftlichen Methoden beruhen. Wenn er werfen konnte und ich fangen, dann standen die Chancen, dass wir beide sauber waren, schon besser. Ich sah, wie er sich entspannte, als ich die Einheit fing, obwohl er nicht langsamer wurde.
Senator Rymans besorgte und angespannte Stimme kam aus dem Organizer. »Georgia, was höre ich da per Funk über einen Unfall? Ist da draußen bei Ihnen alles in Ordnung?«
»Senator.« Ich nickte Shaun zu. Er stellte Ricks Testeinheit neben ihm ab, und wir beide öffneten die Behälter mit Bewegungen von beruhigender Gleichzeitigkeit. Kaum etwas gibt einem ein solches Gefühl der Sicherheit wie Routine. »Ich fürchte, das muss ich mit Nein beantworten, Sir, aber der Seuchenschutz schickt soeben ein Quarantäneteam an unseren Standort. Sobald die uns freigeben, brauchen wir einen neuen Truck und Geleit, um die Ausrüstung zu transportieren.« Nach kurzem Zögern fügte ich hinzu: »Außerdem brauchen wir einen neuen Fahrer. Rick hat noch keine Genehmigung der Klasse A, und ich will mein Motorrad nicht zurücklassen.«
Eine lange Pause entstand, während der ich mir den Organizer zwischen Schulter und Ohr klemmte, wodurch ich die Hand frei hatte, und mit den Lippen ein stummes »eins, zwei« in Shauns Richtung sandte. Auf zwei steckten wir die Zeigefinger in die Einheit, die der jeweils andere hielt. Der Nadelstich in den Finger ließ mich zusammenzucken, sodass ich fast den Organizer fallen ließ.
Schließlich, während die Lichter abwechselnd grün und rot blinkten, sagte der Senator: »Georgia … ist Chuck …?«
Ich schloss die Augen, um die grausamen Blinklichter auszusperren, und sagte: »Es tut mir leid, Senator.«
Er hielt erneut inne. »Georgia …«
»Ja, Senator?«
»Buffy. War sie nicht …?«
»Wir konnten leider keinen der Insassen retten, nachdem der Truck sich überschlagen hat.«
»Himmel, Georgia, es tut mir leid.«
»Mir auch, Sir. Mir auch. Können Sie einen neuen Truck mitsamt Fahrer organisieren und zu uns schicken und dem restlichen Konvoi mitteilen, dass es eine unvermeidliche Verzögerung gibt? Wir sind kurz vor Memphis. Sie müssten uns über GPS finden können.«
»Innerhalb der nächsten zehn Minuten wird jemand auf dem Weg sein.« Die dritte Pause war länger als die beiden vorangegangenen, und als er wieder sprach, klang er erschöpfter als je zuvor, sogar noch erschöpfter als nach der Nachricht von Rebeccas Tod. »Georgia, sind die anderen … haben Sie …«
»Wir führen gerade Tests durch. Falls sich die Lage irgendwie ändert, melden wir uns.«
»Danke. Dann sollte ich Sie wohl nicht länger aufhalten.«
»Das wäre am besten.«
»Gott schütze Sie, Georgia Mason«, sagte er und legte auf, ehe ich mich verabschieden konnte.
Ich nahm den Organizer herunter, öffnete die Augen und schaute Shaun ins Gesicht, wobei ich es vermied, die Lichter anzusehen. »Er schickt Hilfe.«
»Gut«, antwortete er. »Wir sind nicht infiziert.«
Ich gestattete mir einen Blick auf die Feldeinheiten, deren Lichter nun stetig grün leuchteten. Ich nahm einen flachen Atemzug und dann einen tieferen. »Besser.« Ich drehte mich um und schaute zu Rick. »Rick, wir brauchen einen Bluttest.«
»Was?« Er hob mit aufgerissenen, ausdruckslosen Augen den Kopf.
»Einen Bluttest. Die Feldeinheit liegt neben dir. Das Quarantäneteam wird sich uns nicht nähern, solange wir nicht entweder als sauber eingestuft oder tot sind.« Ich zog meinen Finger aus der Öffnung und spürte das Kribbeln des Desinfektionsmittels an der Einstichwunde. Ich schüttelte kurz die Hand und drückte dann auf den Sendeknopf unten am Gerät. Dadurch wurden die Ergebnisse direkt per Mobilfunk ins Mainframe der Seuchenschutzbehörde hochgeladen. Ein manueller Upload ist nur im Falle eines Negativergebnisses nötig. Normalerweise ist es der Seuchenschutzbehörde egal, wenn jemand nicht dabei ist, zum Zombie zu werden. Buffys Ergebnisse hatten sich selbsttätig hochgeladen, sobald das Licht bei rot stehen geblieben war. Wenn einmal ein positives Testergebnis vorliegt, erfährt die Seuchenschutzbehörde davon. Die Upload-Funktion einer Testeinheit zu beschädigen, ist ein Kapitalverbrechen.
Shaun streckte die Hand aus, und ich reichte ihm seine Testeinheit, worauf er sie in einen der Plastikbeutel steckte, die er aus der Gürteltasche gezogen hatte. Meine Testeinheit kam in einen separaten Beutel. Erneut fast gleichzeitig versiegelten wir die Beutel und hinterließen unsere Daumenabdrücke an den Ecken. Wenn man sie in irgendeiner Weise manipulierte, dann würden die Verschlüsse sich scharlachrot färben, und die Einheiten in den Beuteln würden nicht nur unbrauchbar werden, ihre Ergebnisse würden auch als unzuverlässig betrachtet werden.
»Ich … ich weiß nicht, ob ich das kann«, sagte Rick und schluckte. »Buffy …«
»Buffy ist tot und Chuck auch. Wir müssen rausfinden, ob du sauber bist.« Ich reichte Shaun den Beutel, hockte mich neben Rick, nahm seine Testeinheit und öffnete den Plastikverschluss, sodass man das Druckkissen mit der Nadel darin sehen konnte. »Komm schon. Du weißt, wie es läuft. Es ist nur ein kleiner Piekser.«
»Was, wenn das Licht rot wird?«
»Dann bleiben wir bei dir, bis der Seuchenschutz kommt. Die haben bessere Geräte als wir, und sie sind auf dem Weg.« Ich versuchte, so vernünftig wie möglich zu klingen. Mir war zum Heulen zumute, doch ich riss mich zusammen. Rick sah aus, als ob er selbst nur mit Mühe an sich hielt. Wenn ich zu heulen anfing, würde seine Selbstbeherrschung vielleicht endgültig in Stücke gehen. »Solange du dich nicht tatsächlich zu verwandeln anfängst, machen wir nichts.«
»Wenn das Licht rot bleibt, dann werdet ihr sofort etwas machen.« Sein Tonfall war mit einem Mal kalt, und er sprach ohne jedes Zögern. »Ich will die Kugel im Kopf haben, bevor ich weiß, was los ist.«
»Rick …«
Er beugte sich vor und drückte den Daumen auf die Nadelspitze. »Ich bin nicht sauer, weil du sie erschossen hast, Georgia. Ich bin sauer, dass sie so lange weitermachen musste, bis du dazu fähig warst.« Er schaute erst zu Shaun und dann zu mir auf. »Mein Sohn hat sich verwandelt, bevor er gestorben ist. Bitte tut mir einen großen Gefallen und gebt mir die Kugel, solange ich mich noch an seinen Namen erinnern kann.«
»Natürlich«, sagte ich, richtete mich auf und trat an meinen Platz neben meinen Bruder zurück. Shaun legte mir die eine Hand auf den Rücken, während er die andere locker über dem Pistolenhalfter platzierte. Wenn wir heute ein weiteres Teammitglied verloren, dann würde die Kugel nicht aus meiner Waffe kommen. Manchmal muss man die Schuld gerecht verteilen.
»Ich wusste nicht, dass du ein Kind hattest, Ricky«, sagte Shaun beinahe leutselig. »Was hast du uns alles noch nicht erzählt?«
»Ich trage Frauenunterwäsche«, sagte Rick. Und dann lächelte er ganz leicht. »Ich zeige euch irgendwann mal ein Bild von ihm. Er ist … wegen ihm habe ich bei den Printmedien aufgehört. Dort gab es zu viele Leute, die sich an ihn erinnerten, und zu viele haben seine Mutter gekannt. Zu viele haben mich mit anderen Augen gesehen, nachdem ich sie verloren hatte. Ich bin immer noch mit Leib und Seele Journalist. Also habe ich mir einen anderen Weg gesucht, Nachrichten zu verbreiten.
Die Lichter blinkten rot und grün und wieder rot.
»Wie hieß dein Sohn, Rick?«, fragte ich.
»Ethan«, sagte Rick, und sein Lächeln wurde ernster und nahm einen kummervollen Ausdruck an. »Ethan Patrick Cousins, nach meinem Vater und seinem Großvater mütterlicherseits. Ihr Name war Lisa. Der seiner Mutter, meine ich. Lisa Cousins. Sie war wunderschön.« Er schloss die Augen. »Er hatte ihr Lächeln.«
Das Licht hörte auf zu blinken.
»Wir werden uns für dich an ihre Namen erinnern, wenn es so weit kommt«, sagte ich, »aber nicht heute. Du bist sauber, Rick.«
»Sauber?« Er öffnete die Augen und schaute die Testeinheit an, als handelte es sich um ein fremdartiges Ding, wie er es noch nie zuvor gesehen hatte. Dann nahm er langsam seinen Finger von der Nadel und drückte den Sendeknopf. »Sauber.«
»Was verdammt gut so ist, denn ich hätte mich auf gar keinen Fall um deine verlotterte Katze gekümmert«, sagte Shaun.
»Er hat recht«, sagte ich und streckte Rick die Hand entgegen, um ihm aufzuhelfen. »Shaun hätte sie beim erstbesten Truckstop, an dem wir vorbeigekommen wären, aus dem Fenster geworfen.«
»Jetzt red keinen Blödsinn, George«, schalt mich Shaun. »Ich hätte auf einen gewartet, bei dem ein Vorsicht-vor-dem-Hund-Schild steht. Lois soll ja nicht ohne Freunde leben müssen.«
Rick und ich wechselten schockierte Blicke und brachen dann in Gelächter aus. Gleichzeitig begann ich zu weinen, zog Rick hoch, schlang ihm die Arme um die Schultern und hielt mich an ihm fest. Shaun kam herbei und legte die Arme um uns beide, lachte mit und drückte das Gesicht in mein Haar, um seine eigenen Tränen zu verbergen. Ich wusste, dass er welche vergoss, aber Rick musste es nicht erfahren. Manche Geheimnisse muss man nicht teilen.
Wir blieben so stehen, bis Motorengeräusch uns verriet, dass das Quarantäneteam kam. Hastig lösten wir uns voneinander und versuchten, wenigstens einen Anschein von Haltung anzunehmen. Rick wischte sich mit einer Hand durchs Gesicht, während Shaun die Tränen auf seinen Wangen abtupfte und ich mir mit den Fingern durchs Haar fuhr und mir die Sonnenbrille hochschob. Dann schaute ich zu Shaun, nickte und ging dem Geräusch der herannahenden Autos entgegen, wobei ich meinen eingetüteten Bluttest in der Hand hielt und mit der anderen meine Lizenz herauskramte.
Der Konvoi hielt etwa zwanzig Meter entfernt vom äußersten Fahrzeug, meinem armen, verlassenen Motorrad. Die Seuchenschutzbehörde von Memphis machte keine halben Sachen. Sie hatten eine komplette Einheit geschickt: zwei standardmäßige Truppentransporter-Jeeps mit stahlverstärkter transparenter Kunststoffpanzerung, einen weißen Krankenwagen, der beinahe doppelt so groß war wie unser Sendewagen, und, was ganz besonders Unheil verkündend war, zwei der massigen, gepanzerten Trucks, die in der Presse von ihren Kritikern gerne als »Feuerwehrautos« bezeichnet wurden. Die riesigen Fahrzeuge waren leuchtend orange und auf allen Seiten mit roten Biohazard-Zeichen versehen, und aus ihren Schläuchen kam kein Wasser. Stattdessen versprühten sie eine bösartige, hochentzündliche Napalm-Variante, vermischt mit einem konzentrierten Insektenvertilgungsmittel. Wenn so ein Feuerwehrauto etwas abgespritzt hat, ist es steril. Der Boden ist danach jahrzehntelang tot, und alles, was sich zufällig in Reichweite befindet und bei Eintreffen der Trucks noch am Leben war, würde hinterher nicht mehr atmen, aber das entsprechende Gebiet würde sauber sein.
Einer der Männer im vordersten Truppentransporter hob ein Mikrofon, als wir uns näherten, und aus dem Lautsprecher vorne am Auto plärrte es: »Legen Sie Ihre Testeinheiten hin und treten Sie zurück. Wir werden im Austausch saubere Einheiten für sie hinterlassen. Nähern Sie sich nicht unserem Personal. Wenn Sie sich nicht an unsere Anweisungen halten, werden Sie terminiert.«
Die Scheinwerfer des Konvois waren selbst durch meine Sonnenbrille noch blendend hell. Ich hob die Hand mit meiner Lizenz, um mir die Augen abzuschirmen, und schaute blinzelnd zum Truppentransporter.
»Joe? Sind Sie das?«
»Sie haben’s erfasst, meine Liebe«, antwortete die Stimme nun weniger förmlich. »Wären Sie dann einfach so freundlich, die Einheiten hinzulegen?«
»Ich lege meine Lizenzmarke zur Testeinheit«, rief ich. »Sie enthält wichtige medizinische Daten.« Wenn diese Leute mich zwangen, meine Brille abzusetzen, würde das Licht ihrer Scheinwerfer mich wahrscheinlich erblinden lassen.
Eine weitere Stimme, diesmal weiblich und deutlich klinischer, kam durch den Lautsprecher. »Wir wissen von Ihrem Netzhautleiden, Ms Mason. Bitte befolgen Sie die Anweisungen.«
»Wir befolgen sie ja, liebe Güte!«, rief Shaun, ließ seine Testeinheit fallen und legte seine Lizenzmarke obenauf. Ich bückte mich, um meine eigene Marke etwas behutsamer abzulegen, und Rick tat es mir nach. Dann gingen wir langsam rückwärts.
Wir kamen etwa fünf Meter weit, bevor Joes Stimme erneut aus dem Lautsprecher drang. »Das ist weit genug, meine Liebe. Jetzt bitte alle drei stillhalten.« Die Tür des Krankenwagens öffnete sich, und drei Techniker in Schutzanzügen kamen zum Vorschein. Ich konnte das Geräusch der Überdruckpumpe hören, die ihre sterile Zone vor den Partikeln der Außenwelt schützte.
Mit einer Eleganz, die verriet, dass sie schon Hunderte, wenn nicht Tausende von Stunden in den klobigen Anzügen verbracht hatten, kamen die Techniker heran, um unsere Testeinheiten und Marken einzusammeln und stattdessen drei versiegelte Einheiten hinzulegen. Anschließend zogen sie sich zurück, und Joes Stimme erklang erneut. »Bitte treten Sie näher, öffnen Sie die Testeinheiten und bleiben Sie an Ort und Stelle, bis wir saubere Testergebnisse haben.«
»Ist ja wie dieses Spiel, ›Simon sagt‹«, brummte Shaun, während wir langsam vortraten.
»Wo ich aufgewachsen bin, hat Simon keinen Truck voll Napalm auf einen gerichtet«, sagte Rick.
»Weichei«, sagte Shaun.
Die von den Technikern hinterlassenen Testeinheiten waren Apple XH-229-Modelle, nahe an den besten Geräten, die es überhaupt gab. Shaun stieß einen leisen Pfiff aus.
»Wow. Wir sind wohl echt bedrohlich.«
»So in der Art.« Ich verzog das Gesicht, krempelte meinen Ärmel hoch und steckte die Hand in eine der Einheiten.
Der antiseptische Dunst fühlte sich auf meiner aufgescheuerten Hand trügerisch kühl an, ein Gefühl, das nur eine Sekunde anhielt, bevor sich die Nadeln in mein ohnehin schon beschädigtes Fleisch bohrten und mein Blut nach aktiven Viren absuchten. Das Licht fing an zu blinken, wurde erst rot, dann gelb und dann grün, als die komplizierten Analyseprozesse in Gang kamen.
Ich konzentrierte mich so sehr auf die Lichter und darauf, was sie für meine Zukunft bedeuten mochten, dass ich die Schritte hinter mir und das Brummen der Überdruckgeräte nicht hörte. Auch die Hypospritze spürte ich erst, als man sie mir in den Nacken drückte. Eine Welle der Kälte schwappte über mich hinweg, und ich stürzte.
Das Letzte, was ich erblickte, war eine Reihe von Lichtpunkten, die stetig grün leuchteten. Dann schloss ich die Augen und sah gar nichts mehr.
Die Frage, die man mir seit meinem Wechsel von den traditionellen Nachrichtenmedien in die Online-Welt am häufigsten gestellt hat, lautet: »Warum?«. Warum sollte man eine Laufbahn aufgeben, in der man sich etabliert hat, um sich auf ein neues Gebiet zu wagen, wo die Erfahrungen, die man bisher gemacht hat, nicht nur lachhaft sind, sondern geradezu hinderlich? Warum sollte ein vernünftiger Mensch – und die meisten Leute betrachten mich als einen vernünftigen Menschen – etwas Derartiges tun?
Meistens habe ich mit den hübschen Lügen geantwortet, die man von mir erwartet hat: Ich wollte eine Herausforderung, ich wollte mich selbst auf die Probe stellen, und ich glaube daran, dass Journalisten die Wahrheit verbreiten sollten. Nur der letzte Teil ist wahr, denn ich glaube tatsächlich, dass es wichtig ist, die Wahrheit zu sagen. Und das mache ich heute.
Ich habe jung geheiratet. Ihr Name war Lisa. Sie war klug, sie war schön, und vor allem war sie genauso verrückt nach mir wie ich nach ihr. Als wir heirateten, gingen wir noch aufs College. Ich wollte Journalist werden und sie Lehrerin – eine Laufbahn, die drei Tage nach ihrem Abschluss aufgeschoben wurde, als ihr Schwangerschaftstest positiv ausfiel. Diesen Test haben wir bestanden, und zwar zu unserer Zufriedenheit. Es war der einzige, den wir bestanden.
Unser Sohn, Ethan Patrick Cousins, wurde am 5. April 2028 geboren. Er wog drei Kilo und siebenhundertachzig Gramm. Eine Routineuntersuchung seiner Körperflüssigkeiten und Körperfunktionen ergab, dass sein Kreislauf von Kellis-Amberlee-Viren wimmelte. Seine Mutter hatte ihn zum Untergang verurteilt, ohne es zu wissen. Weitere Untersuchungen zeigten, dass sich das Virus in ihren Eierstöcken eingenistet hatte und sich dort vermehrte, ohne sie zu infizieren oder ihr Leben in irgendeiner Weise zu beeinträchtigen. Unser Sohn hatte weniger Glück.
Im Prinzip kann ich nicht klagen. Ich durfte neun gute Jahre mit meinem Sohn verbringen, trotz der Vorsichts- und Quarantänemaßnahmen, die sein Leiden mit sich brachte. Er liebte Baseball. An seinem letzten Weihnachtsfest schrieb er an den Weihnachtsmann und bat ihn um ein Heilmittel, »damit Mommy und Daddy nicht mehr traurig sind«. Zwei Monate und sechs Tage nach seinem neunten Geburtstag erlitt er eine spontane Virenvermehrung. Die Untersuchung seines Leichnams ergab ein Körpergewicht von achtundzwanzig Kilo und einhundertachtundsiebzig Gramm. Lisa nahm sich das Leben. Und ich? Ich suchte mir einen neuen Beruf.
Einen, in dem ich nach wie vor die Wahrheit sagen darf.
Aus Und noch ein Stückchen Wahrheit, dem Blog von Richard Cousins, 21. April 2040