51
Oliver stolperte zu Antje. Er erkannte nicht, ob sie bewusstlos war oder mitbekam, was um sie vorging.
Burgmester kam auf Oliver zu und reichte ihm ein großes Messer. »Die Leinwand an. Show unterbrechen!«, befahl er.
Nebenan wurde es still. Die Musik schwieg.
Oliver ging zu Antje, die unversehens den Kopf hob und ihn aus großen Augen anstarrte. Sie quiekte leise, wirkte so hilflos, hilfloser als die Ratte, als die Katze, als der Penner. Wirkte so, wie ein Kind, das sich nach den Eltern sehnte, wie auch Oliver sich nach seinen Eltern sehnte.
Sie waren sich so unglaublich ähnlich.
Einsam und alleine in der Hölle.
Burgmester trat zwei Schritte zur Seite, blieb aber in Olivers Nähe. Er nickte auffordernd.
Antje begriff, was geschehen würde, und begann zu kreischen. Ihre Laute ähnelten denen der Katze, die Oliver auf das Brett genagelt hatte. Grell und durchdringend. So klein das Mädchen war, empfand es tiefste Todesfurcht. Sein Verstand würde sowieso für alle Zeiten geschädigt sein, vermutete Oliver und sprach sich auf diese Weise Mut zu. Es war besser, sie starb, denn ihr Verstand stand sowie kurz vor dem Exitus.
Er hob das Messer.
Es blitzte im hellen weißen Licht.
Der Hüne hinter ihm schnaufte.
Die Beiköche wirkten wie gelähmt.
Die Kellner standen an der Tür.
»Meine Damen und Herren«, begann Burgmester und wandte sich zu einer Kamera. »Es ist mir eine große Freude, Sie begrüßen zu dürfen. Die bisherigen Geschehnisse waren für Sie, so hoffe ich, erfreulich. Auch in diesem Jahr bemühen wir uns, Ihnen eine unvergessliche Nacht zu bieten. Bevor ich Ihnen voller Stolz die einzelnen Punkte des heutigen Sechs-Gang-Menüs offenbare, kommen wir zur Schlachtung. In diesem Jahr wird diese nicht von unserem alten Freund Huber«, er nickte dem Hünen zu. »sondern von einem zwölfjährigen Jungen durchgeführt. Dieser Junge empfindet keine Gefühle. Es handelt sich um eine außergewöhnliche seltene Gehirnschädigung. Nur Sie werden heute Zeuge dieser Schädigung, wodurch unser Oliver zu etwas ganz Besonderem wird. Ab sofort werden wir ihn Slaughter nennen. Vermutlich haben wir mit der gezeigten Enthauptung Ihre Sinne so sensibilisiert, dass Sie nun voller Freude zuschauen. Das ganze Team wünscht Ihnen viel Freude mit ... Slaughter!«
Danach die ganze Rede noch einmal auf Englisch.
Antje zuckte und wand sich wie ein Regenwurm. Erstaunlich, wie viel Kraft in ihr steckte.
Slaughter!
Schlächter!
Oliver traute seinen Ohren nicht. Sie feierten ihn wie einen Helden. Endlich war er jemand. Er wurde im Internet gezeigt und nebenan auf einer Leinwand. Er war ein Star. Er wurde ernst genommen. Diese Menschen schämten sich nicht, seine Schädigung anzunehmen und ihn als den zu präsentieren, der er war.
Ein Freak!
Ich bin ein gottverschissener Freak!
Oliver trat zu Antje. Das Mädchen kreischte wie am Spieß.
Er setzte das Messer an.
Weiße panische Augen, die ihn aufzufressen drohten.
Speichel und Tränen, die in die Wanne tropften.
Urin, der von dem kleinen nackten Körper tropfte.
Und Olivers unbedingter Wille, die Sache hier und jetzt zu beenden.
Oliver drehte ab und rannte in Vincent Burgmester hinein. Er stieß dem Koch das Messer bis zum Heft im Körper. Er zog es sofort wieder heraus. Es flutschte zurück und bevor jemand reagieren konnte, rammte er es dem Fernsehkoch in den Hals. Burgmester riss die Hände hoch, taumelte zurück, während neben seinem Kehlkopf das Messer auf und ab wippte.
Nebenan wurde es lauter.
Zuerst Stimmen, die durcheinander riefen. Die Gäste hatten alles auf der Leinwand verfolgt und schienen zu ahnen, dass die Dinge aus dem Ruder liefen.
Oliver konzentrierte sich auf Burgmester, der gegen einen Ofen taumelte, die Hände an der Kehle mit dem Messer, auf dem sich das helle Deckenlicht brach.
Hinter Oliver ein Geräusch. Die Motorsäge wurde angelassen.
Ihr blechern grelles Schreien übertönte die verzweifelten Laute von Antje, die jetzt wie versessen an ihrem Strick zappelte.
Der Hüne, Burgmester hatte ihn Huber genannt, kam auf Oliver zu wie ein Monster aus einem Videospiel.
Oliver war jung, geschmeidig und schnell. Er machte zwei Sprünge und war bei der großen Pfanne, in der Burgmester Speck erhitzt hatte. Er nahm sie wie einen Tennisschläger und schleuderte Huber das siedende Fett mitten ins Gesicht. Der Hüne ließ die Motorsäge fallen, sie tanzte auf und ab, ging aber nicht aus. Huber stolperte grell kreischend über die Maschine und stürzte. Er tastete blind um sich und die Kette fraß sich in seinen Arm. Mit einem Sprung war Oliver bei ihm und hievte die Maschine hoch. Sie war schwer. Fast zu schwer für ihn. Ein röhrendes Monster, bebend, stinkend, erschreckend, die ihm fast die Arme aus den Schultern hebelte.
Ihr Summen und Raunen erfüllte seinen ganzen Körper, während er sich bückte und die Kette in Hubers Schädel versenkte, wo sie sich festfraß, stotterte und ausging.
Huber zuckte wie unter Strom, dann lag er still.
Oliver ließ die Säge, wo sie war, stolperte zurück und wirbelte herum.
Burgmester lehnte noch immer hinterrücks an seinem Ofen. Er musste die Kraft eines Ochsen haben. Er starb nicht so schnell wie die Schüler, die Oliver getötet hatte. Sein massiger Körper wehrte sich.
Oliver ignorierte den Fernsehkoch, denn nun stürzten sich die Beiköche auf ihn.
Nebenan wurde es immer lauter.
Schreie! Kreischen!
Männer und Frauen in eleganter Kleidung stürmten in die Küche. Die Kellner schlossen sich ihnen an. Sie rannten zur Feuerschutztür, durch die Oliver und Franco gekommen waren, und rüttelten daran. Niemand konnte sie öffnen.
Jemand hatte sie hinter ihnen abgeschlossen.
Oliver huschte zur Seite, als einer der Köche ihn angriff. Er warf mit einem großen Topf nach seinem Angreifer, dann fand er Halt an einem Feuerlöscher, den er von der Wand riss. Er wusste nicht, wie er ihn in Gang setzte, und warf ihn weg. Der andere Koch zerrte die Kettensäge aus Hubers Schädel und brachte sie wieder auf Touren.
Die Kette rotierte und brummte wie ein bösartiger, alles zerfleischender Dämon.
»Nein!«, brüllte Oliver, der begriff, was der Beikoch vorhatte. Vermutlich um die Panik der Gäste zu beenden.
Einer der Köche drehte sich mit der Maschine zu Antje und hob sie über seinen Kopf. Wenn er sie senkte, würde er das Kind in der Mitte durchtrennen.
Die Gäste bekamen das Schauspiel mit. Sie wurden ganz still, einige von ihnen drückten sich mit den Rücken an die Wand, andere schienen neugierig zu sein, eine Frau konnte nicht aufhören zu jammern.
Es roch nach Fett, nach Blut und Schweiß und süßem Parfüm. Zehn panische Gäste, die die große Küche füllten, zwei Beiköche, zwei Kellner, Antje, Burgmester, der sich nicht regte, und Oliver, der sich fühlte wie eine Ameise unter einem Schuh. In der Küche war die Hölle los.
»Bleibt hier, stay here!«, brüllte der Koch, der die Kreissäge über das Mädchen hielt. »Don’t go! Wir werden kochen! So, wie es vereinbart war!«
»Neeeein!«, kreischte Oliver. »Sie hat keinem was getan!«
Der Koch mit der Kreissäge fletschte die Zähne. Er ignorierte Oliver und drehte den Kopf zu den Gästen, die nun wirkten wie eine Meute aufgeregter Kaninchen in ihrem Bau, im Angesicht der Schlange, die den Weg hinein gefunden hatte. »Wir werden kochen. Bleiben Sie hier. Gehen Sie wieder nach nebenan. Amüsieren Sie sich. Die Veranstaltung wird stattfinden.«
»Hören Sie auf!«, brüllte einer der Männer auf Deutsch über das ohrenbetäubende Schnarren der Kettensäge hinweg. »Es ist vorbei. Uns ist der Appetit vergangen!«
»Schluss, verdammt!«, brüllte ein anderer Mann.
»Aufhören!«, donnerte ein anderer mit französischem Akzent.
Schweiß lief über Olivers ganzen Körper. Antje zuckte und sabberte. Über ihr bebte die Kettensäge.
Oliver traute seinen Augen nicht. Der Mann mit dem französischen Akzent griff in sein Jackett und zog eine Pistole. Ohrenbetäubend donnerten Schüsse durch die Küche, Querschläger pfiffen von Töpfen und Pfannen. Er war augenscheinlich ein ungeübter Schütze. Wen wollte er treffen? Ihn, Oliver? Er duckte sich hinter den glänzenden Edelstahl einer Ablage.
Dann traf eine Kugel den Koch mit der Kreissäge und riss ihm den Schädel in Stücke, zumindest einen Teil davon. Kiefersplitter regneten. Blut spritzte. Oliver zögerte nicht, sondern sprang mit jugendlicher Beweglichkeit, ungeachtet der Schüsse, nach vorne und rammte sein ganzes Gewicht in den Körper des Koches, damit dieser, während er stürzte, mit der Säge das Kind nicht verletzte.
Der Koch mit dem beschädigten Schädel warf die Hände in die Höhe und drehte sich einmal um die Achse, bevor er zu Boden ging. Die Kreissäge fiel knapp an Oliver vorbei und tanzte wie verrückt über die Fliesen. Dann erstarb ihr tödliches Grollen. Das hatte nur eine Sekunde gedauert.
Der zweite Koch rannte nach nebenan in den Speiseraum.
»Where’s the key?«, rief eine Frau.
Sie suchten den Schlüssel für den Ausgang.
Der andere Kellner, schweißgebadet und aufgelöst, zerrte die Frau am Ärmel. »Hinterausgang. Wir müssen zurück durch den Speisesaal. Da gibt es einen zweiten Ausgang. Hier vorne ist alles zu. Wir müssen hinten raus.«
»Rear Exit, my friends!«
»Sortie de derrière!«
»Alles klar. Hinter ihm her!«
Wie eine wilde Meute Tiere hetzten sie hinaus und Oliver war in der Küche alleine. Er sah sich um.
Alles war blitzschnell geschehen. Und dann war nur noch Stille.
Vincent Burgmester schwankte, aber er stand noch. Antje hing ganz ruhig, vermutlich war sie ohnmächtig.
Wie es schien, hatten die Gäste und die Kellner den Hinterausgang gefunden, denn es war völlig still.
Oliver ging auf Burgmester zu. Er blickte dem Mann mitten ins Gesicht, versuchte es zu lesen. »Ich habe Sie so bewundert.«
Burgmester grunzte, tastete nach dem Messer, als wolle er es aus seinem Hals ziehen, während ein schmaler Blutstreifen aus seinem Mund sickerte. Seine schwarzen Haare waren noch immer exakt in der Mitte gescheitelt. Sein weißer Schnauzbart wirkte makellos. Lediglich auf der weißen Kochschürze breitete sich ein Blutfleck aus.
»Was ... hast ... du ... getan?«, spuckte er aus.
»Ich bin kein Mörder. Ich töte kein unschuldiges Kind.«
Burgmester sah aus, als wolle er sich vor Lachen ausschütten, doch nur sein Oberkörper wackelte. »Was ... bist ... du ... dann?«
»Ich bin ein kranker Junge. Und dieses Mädchen hat mir nichts getan. Ich glaube, ich habe heute gelernt, dass es noch viel Schlimmeres gibt als mich. Wie krank muss man sein, um einen Kochkurs wie diesen zu machen? Wie dämonisch können Menschen sein?«
»Du bist ... nicht ... besser.« Burgmester grunzte und umklammerte das Messer. Der Blutfleck auf seiner Kleidung wurde immer größer. »Auch du bist ein Dämon, mein Junge.«
»Mag sein. Vielleicht haben Sie recht, obwohl Sie das gar nicht wissen können. Sie wissen nur, was Franco Ihnen sagte.«
»Du bist ein Mörder!«
»Diese Menschen hier sind Dämonen, weil sie sich langweilen. Ich bin ein Dämon, weil ich so geschaffen wurde. Diese Menschen hier sind wahrhaftige Mörder, auch diejenigen, die nur zuschauen. Sie klatschten voller Freude, während meinem Freund der Kopf abgeschnitten wurde. Das ist bestialisch. Man sollte euch alle töten.«
Burgmester fehlten die Worte, aber vielleicht war er auch nicht mehr in der Lage, etwas zu sagen.
Oliver nahm ein kleines Messer aus einer Halterung und ging zu Antje. Vorsichtig schnitt er das Mädchen los und ließ es in seine Arme fallen. Er öffnete auch die Bein- und Armfesseln. Mit geschlossenen Augen lag das Kind in seinem Arm.
Oliver wog die Kleine und blickte sie aufmerksam an. Er drehte Burgmester den Rücken zu. Er wollte nicht sehen, wie der grausame Mann starb.
Was haben sie dir angetan? Wirst du nun so wie ich? Armes Kind!
Bevor er sich auf die Suche nach einem Handy machte, um die Polizei zu rufen, würde er sie noch eine Weile wiegen, ihr Trost spenden.
Armes Kind!
Hinter ihm rutschte Burgmester zu Boden. Er spuckte Blut und seufzte so laut, dass es die ganze Küche erfüllte. Oliver kümmerte sich nicht darum. Er fühlte nur den kleinen weichen Körper in seinem Arm.
So hilflos!
Wie ein Küken!
So unsagbar hilflos!
Eine Hand legte sich auf seine Schulter. Eine Hand, in der ein Messer lag. Burgmester war zu Oliver gerutscht und hatte sich das Messer aus dem Hals gezogen. Mit schier übermenschlicher Kraft legte er es Oliver von hinten an die Kehle. Der Junge erstarrte, Antje hatte noch immer die Augen geschlossen und sah in seinem Arm aus wie ein nacktes Neugeborenes.
Nun sterbe ich!
Oliver hatte diesen Gedanken ganz sachlich formuliert. Und es war ihm egal. Vielleicht musste es so sein. Papa hatte mal gesagt, dass jeder Mensch einen Weg zu gehen habe. Man träfe auf manche Abzweigungen und musste sich entscheiden, welche man nahm. Er war seinen Weg gegangen, und der führte in die Dunkelheit. Obwohl er selbst getötet hatte, war die Begrifflichkeit von Leben und Tod für einen Jungen seines Alters zu abstrakt. Es geschah, wie es geschah! Es gab kein Entkommen.
»Ich werde dich braten!«, stieß Burgmester hinter Oliver aus. Sein schwerer Körper drückte sich gegen Olivers Rücken.
Um sich zu wehren, würde er Antje loslassen müssen. Schon der Kontakt mit den Küchenfliesen würde sie beschmutzen, würde den Kontakt von Hölle zu Seele herstellen. Das wollte Oliver nicht. Konnte er nicht. Eine reine Seele sollte diesen Unrat nicht spüren müssen.
Die Klinge tastete über seine Haut.
Burgmester hinter ihm schnaufte, bebte und grunzte voller Vorfreude auf die vielleicht letzte Tat seines Lebens.
»Du hast alles zerstört, du kleines Ungeheuer.«
Oliver widerstand dem Instinkt, sich umzudrehen. Damit würde er Antje dem Zugriff des Mannes aussetzen. Also schloss er die Augen und wartete auf das Unvermeidliche. Er hoffte, dass nicht zu viel Blut auf das kleine Mädchen spritzte. Er wollte nicht, dass diese reine Haut damit besudelt würde.
Er wartete.
Der Stahl an seiner Kehle.
»Tun Sie es endlich«“, stöhnte Oliver.
Stille, nur das schwere Atmen des Fernsehkochs. Der Mann stank nach nahendem Tod und nach Schweiß. Und noch etwas war dabei, so unwirklich, dass Oliver fast gelacht hätte. Haarspray. Derselbe Duft, den Papa morgens immer am Kopf hatte, wenn er zum Frühstückstisch kam.
Die Klinge an seinem Hals zitterte.
Ganz langsam schob Oliver eine Hand nach oben. Vielleicht bekam er das Messer zu greifen. Er war es sich und seinen Eltern schuldig, vielleicht sogar Franco, diese winzige Chance zu nutzen. Worauf wartete Burgmester?
Abrupt lösten sich die Finger, das Messer rutschte über Olivers Brust, das Gewicht auf seinem Rücken wurde geringer, der dampfende Körper fiel zur Seite und Burgmesters Kopf krachte neben Olivers Knie auf die Fliesen. Er sah den Jungen aus großen kalten Augen an.
Er war tot! War von seinem Tötungsinstinkt geleitet worden, ohne die Tat umsetzen zu können.
Oliver schloss die Augen. Ohne es zu spüren, schüttelte er den Kopf, während sein Körper vor und zurück wippte, das Kind im Arm, hin und her, hin und her.
Er musste ein Handy finden und die Polizei holen.
Noch ein paar Minuten.
Nur noch ein paar Minuten.
Er drehte sich mit Antje etwas weg, damit er nicht mehr dem Blick des Toten ausgesetzt war.
Er strich dem Mädchen die Haare aus der schweißnassen Stirn. Er beugte sich vor und schnupperte an ihr. Wippte, wippte, vor und zurück. Sie roch nach Schweiß, Unschuld und Milch.
So unschuldig!
Und Oliver weinte.