12

 

Sportunterricht war nie ein Zuckerschlecken gewesen, weder für Oliver noch für frühere Generationen. Er hatte genug Bücher gelesen, um das zu wissen. Und er war erstaunt, dass man auch ihn und seine Klassenkameraden bestimmten Manövern unterzog, die ihm komplett sinnlos erschienen. Altmodischer Kram. Manöver, bei denen er sich blamierte, denn er war nicht sportlich. Nicht so wie seine Mitschüler, die den Mädchen imponieren wollten.

Über den Bock!

Über die Latte!

Hochspringen und abschnellen!

Das alles war völliger Blödsinn und brachte einen nicht weiter. Doch am schlimmsten waren die Jungen und Mädchen aus seiner Klasse, die so taten, als hätten sie Spaß daran. Am allerschlimmsten war Lars Friedrich.

Lars war jener Junge, den es in jeder Schulklasse gab. Der Mädchentyp. Der, der alle haben konnte und doch nichts wollte, weil er oberflächlich war, ungebildet und blöde. Er war ein Typ, den die Mädchen anhimmelten, obwohl er noch keine Haare am Sack hatte. Lars war eine nackte Schnecke, die sich reckte, um die Sonne zu erreichen, welche ihm von hübschen Mädchen gereicht wurde wie in einem Kelch voller Licht.

Oliver verspürte tiefe Abscheu gegenüber Lars, denn der Schönling frotzelte, schimpfte und tat alles, damit Oliver als hagerer unsportlicher Kerl auffiel, einer, der es nicht packte. Einer, den man als letzten in die Mannschaft wählte. Zwar hochgewachsen und schlank, aber irgendwie nicht geheuer, zu still, zu zurückgezogen.

Und Oliver beschloss, Lars zu töten.

Sein Wunsch kam ihm absolut schlüssig vor.

Er wurde von Lars erniedrigt, er wollte sich wehren, also tat er das, was in seinem Naturell verankert war. Er fragte sich, wie er Lars vernichten sollte. Und Vernichtung bedeutete nicht, ihm mittels Intrigen zu schaden, sich ihm im Gespräch zu stellen – auch wenn David das befürwortet hätte -sondern ihn zu beseitigen. Eine Kreatur wie dieser Junge sollte nicht das glühende Licht der Liebe erleben und sich erheben. Eine Kreatur wie Lars war dazu bestimmt, zu sterben.

Alleine die Idee versetzte Oliver in Hochstimmung.

Er begriff, dass ein Mensch nur dann mit sich uneins war, solange er mit einer Entscheidung haderte. Hatte er sie getroffen, gab es nichts Schöneres, als durchzuatmen, diesen Wind zu spüren, der nur über ein Meer wehte, welches rein und klar war.

Da Oliver sich stets in Frage stellte, begriff er, dass seine Entscheidung eine philosophische Ansage war. Ich töte, um zu leben! Ich bestrafe, um der Welt Gerechtigkeit zu bieten! Ich bin kein Mörder, sondern ein Befreier! Ich befreie die Menschheit vom Übel. Was bleibt, ist die Reinheit des Geistes und das, was Papa und Mama als Liebe bezeichnen.

Lars war kein Junge, den ein Mädchen lieben sollte. Denn er würde die Mädchen beleidigen und betrügen. Er würde ihnen auflauern wie ein zorniger Stier und seine Hörner an Busen und Schenkeln reiben.

Ihn schauderte es bei dieser Vorstellung.

Oliver fragte sich, ob er Papa davon berichten sollte, ob er seinen Vater fordern sollte, damit dieser seine Liebe bewies. Würde Papa gemeinsam mit ihm töten? War seine Liebe groß genug?

Oliver war unschlüssig.

Vielleicht beim nächsten Mal.

Für jetzt beschloss er, es alleine zu tun. Papa würde es verstehen. Mama würde weinen. Sie beide liebten ihn und er liebte sie. Ja, das tat er. Er liebte sie. Auf seine Art.

Er war Mamas und Papas Tier und kroch zum Futternapf, weshalb er glaubte, sie zu lieben, doch es war keine Liebe, es war Futterdrang! Sie gaben ihm die Pfanne, den Kochtopf, sie gaben ihm die Umgebung, in der er sich erleben konnte, die schenkten ihm Aufmerksamkeit, doch Liebe?
Was war das?

Es war nicht wichtig!

Wichtig war Lars!

Und als die Sportstunde beendet war, blieb Lars wie immer zurück und legte die Matten aufeinander. Er war ein Narr. Einer, der sich wichtig machte. Zu viel Computer, keine Bücher! Zu dämlich! So machte er sich beim Sportlehrer beliebt, um bessere Zensuren zu kriegen.

Oliver ging in die Umkleide und zog sich um. Er versteckte sich auf der Toilette und wartete, bis seine Mitschüler die Turnhalle verlassen hatten. Es war die letzte Schulstunde des Tages. Er streckte den Kopf aus der Toilette und lauschte. Außer Lars und ihm war niemand hier. Er griff in seine Sporttasche und nahm das Tranchiermesser heraus, das er aus der heimischen Küche entwendet hatte.

Er schlich sich zurück in die Turnhalle, wo Lars noch immer dabei war, Bälle zu sortieren und Matten aufeinander zu stapeln. Der Sportlehrer saß inzwischen vermutlich schon im Auto, um zu seiner Frau zu fahren. Er hatte ja einen Blödmann, der die Arbeit übernahm.

Und Oliver ging zu dem Blödmann, stellte sich hinter ihn und fragte: »Was tust du?«

»Kratz die Kurve, Knochen!«

Knochen wurde er genannt, weil er hager war. Knochen, weil er nicht so sportlich war.

»Wollte es nur wissen«, antwortete Oliver.

Lars beugte sich vornüber, als wäre schon ein Blick auf Oliver zu viel. Das war perfekt. Oliver rammte ihm das schmale lange Messer in den Rücken und zog es blitzschnell wieder heraus. Lars zuckte, blieb ansonsten ganz still und fiel vornüber. Im Reflex rollte er sich auf den Rücken und starrte Oliver mit großen Augen an. Sein Mund öffnete und schloss sich, doch es kam kein Laut über seine Lippen, dafür ein Tropfen Blut.

Oliver setzte sich breitbeinig auf den liegenden Körper.

»Ich heiße nicht Knochen, sondern Oliver!«, flüsterte er. »Und ich hätte Lust, nachzuschauen, wie es in dir aussieht.«

Lars krächzte, spuckte Blut und verdrehte die Augen.

Oliver führte das Messer über Lars’ Kehle. Es war erstaunlich. Die Haut brach auf wie warme Butter, ein Zeichen für die gute Qualität der Schneide. Oliver wiederholte den Schnitt und Blut pulste aus dem zweiten, schreiend roten Mund von Lars, der nun zuckte und strampelte und etwas sagen wollte. Er gurgelte, der Blutstrom wurde stärker und Oliver sprang auf, um sich nicht zu beschmutzen. Lars grunzte, wackelte mit dem Oberkörper, das Shirt rutschte ihm über den Bauch, wurde rot, die Pfütze neben seinem Kopf vergrößerte sich. Die Lippen bebten, Verständnislosigkeit im Blick. Dann wurden seine Bewegungen ruhiger und er starb.

Es war so einfach gewesen.

Ein einfacher Schnitt über die Kehle und alle Kraft wich aus einem Menschen. Noch einfacher als bei Jens.

Oliver lauschte, ob jemand etwas gehört haben mochte, doch es war still. Er stand auf und sagte: »Schlaf gut.«

Dann ging er davon.

Als er die Tür der Turnhalle erreicht hatte, blickte er in die Augen eines Mädchens.

 

 

Er kannte sie. Er hatte sie schon öfter auf dem Schulhof gesehen. Sie war älter als er und hübsch. Er versuchte sich an ihren Namen zu erinnern, doch es gelang ihm nicht. Erst jetzt bemerkte er, dass Blut von seinem Messer tropfte, auf die Turnschuhe des Mädchens. Warum hatte er es nicht sauber gemacht?

Sie drehte sich um und lief davon.

Näherte sich der Tür zum Weg, der zum Schulhof führte.

Oliver atmete tief durch, fasste sich, dann folgte er ihr.

Sie begann zu schreien, nein, sie kreischte! Hell und aufdringlich.

»Halt die Klappe!«, brüllte Oliver ihr hinterher. Er musste sie erwischen, bevor sie das Gebäude verließ. Sie würde ihn verraten. Wie viel hatte sie gesehen? Oder reimte sie sich alles zusammen?

Unwichtig! Wenn er sie nicht stellte, war er verloren. Was auch immer sie in der Halle gesucht hatte, es war jetzt nicht von Interesse.

Zuerst musste er verhindern ...

Sie stieß die Glastür auf.

Oliver hechte voran, rammte seinen Körper gegen das Mädchen, welches etwa so groß war wie er, und sie stolperte rückwärts, die Glastür fiel wieder zu und sie stand mit dem Rücken zur Wand. In ihrem Gesicht herrschte blanke Furcht.

Oliver hatte keine Zeit, sich ihr zu erklären, keine Möglichkeit, sie zu verschonen. Das hatte er nicht gewollt, wirklich nicht.

Bevor er es registrierte, steckte das Messer in den Rippen des Mädchens. Sie tastete in die Luft und rutschte an der Wand zu Boden. Als Oliver die Waffe aus dem schmalen Körper zog, knirschte es an den Knochen. Säbelte, schabte. Ohne zu denken, tauchte er die meisterhaft geschliffene Klinge in den Hals des Mädchens, dorthin, wo sich vermutlich die Hauptschlagader befand.

Ein fingerdicker Blutstrahl schoss aus dem Hals und spritzte neben ihm an die gegenüberliegende Wand. Der Kopf des Mädchens ruckte hin und her. Das Blut verteilte sich überall hin. Oliver duckte sich unter dem Blutstrom weg und stieß ein drittes Mal zu. Nun von unten nach oben, dorthin, wo das Herz war. Der Muskel explodierte unter dem Stahl, das Mädchen zuckte wie elektrisiert und war auf der Stelle tot, während das Blut jetzt nicht nur die Wände, sondern auch die Glastür verschmutzte. Es war eine abscheuliche Sauerei.

Oliver rannte wie ein Blitz in den Umkleideraum und reinigte das Messer über dem Waschbecken. Er verstaute es in seiner Sporttasche und tapste auf spitzen Füßen über die Blutlachen, stieß mit den Sohlen die Glastür auf und verschwand in den Büschen.

 

 

 

Ich bin kein Mörder: Thriller
titlepage.xhtml
part0000_split_000.html
part0000_split_001.html
part0000_split_002.html
part0000_split_003.html
part0000_split_004.html
part0000_split_005.html
part0000_split_006.html
part0000_split_007.html
part0000_split_008.html
part0000_split_009.html
part0000_split_010.html
part0000_split_011.html
part0000_split_012.html
part0000_split_013.html
part0000_split_014.html
part0000_split_015.html
part0000_split_016.html
part0000_split_017.html
part0000_split_018.html
part0000_split_019.html
part0000_split_020.html
part0000_split_021.html
part0000_split_022.html
part0000_split_023.html
part0000_split_024.html
part0000_split_025.html
part0000_split_026.html
part0000_split_027.html
part0000_split_028.html
part0000_split_029.html
part0000_split_030.html
part0000_split_031.html
part0000_split_032.html
part0000_split_033.html
part0000_split_034.html
part0000_split_035.html
part0000_split_036.html
part0000_split_037.html
part0000_split_038.html
part0000_split_039.html
part0000_split_040.html
part0000_split_041.html
part0000_split_042.html
part0000_split_043.html
part0000_split_044.html
part0000_split_045.html
part0000_split_046.html
part0000_split_047.html
part0000_split_048.html
part0000_split_049.html
part0000_split_050.html
part0000_split_051.html
part0000_split_052.html
part0000_split_053.html
part0000_split_054.html
part0000_split_055.html
part0000_split_056.html
part0000_split_057.html
part0000_split_058.html
part0000_split_059.html
part0000_split_060.html