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»Wir sind nur gut in der Liebe«, schluchzte Daniela und drückte ihr Gesicht ins Kissen. Dann hob sie den Kopf und stieß zornig hervor: »Wir haben nie gelernt, mit Problemen umzugehen. Wir sind gottverdammt schlechte Eltern. Wir haben unser Kind missbraucht. Mit unserer Liebe missbraucht. Genauso gut hätten wir eine Gummipuppe erziehen können.«
Stefan streichelte ihr beruhigend den Rücken, doch auch in seinem Kopf loderte es.
»Ich fühle mich so hilflos«, murmelte er. »Soll ich wirklich so werden wie mein Vater? Soll ich Oliver verprügeln? Ihn bestrafen, wodurch sowieso alles noch schlimmer wird?«
Daniela beruhigte sich. Sie drehte sich um und stützte sich auf den Ellenbogen. »Das wäre keine Lösung. Aber hin und wieder ...«
»Na? Sage es.«
»Hin und wieder habe ich das Gefühl, Oliver wird uns unglücklich machen. Wir wollten ihn so gerne, dass wir nicht objektiv sind.«
Stefan lachte. »Objektiv? Können Eltern jemals objektiv sein?«
»Vielleicht nicht, aber wir dürfen nicht übersehen, was er sich jetzt wieder geleistet hat. Ich halte das für ein Alarmzeichen.«
Stefan gab ihr im Stillen Recht.
Vor drei Tagen war Oliver elf geworden. Und vor einem Tag hatte er seinem Therapeuten ein Messer in den Bauch gerammt.
Sollten sie ruhig denken, es sei ein Versehen gewesen. Er, Oliver, wusste es besser.
Gott, wie er diese Therapiestunden verabscheute. Das dumme jämmerliche Gelaber von diesem Mann mit einem Bart, mit dem er wie eine Ziege aussah.
Seit einem Jahr tat Oliver sich zweimal in der Woche je eine Stunde an, in der ihm Bilder gezeigt wurden, die er bewerten sollte, manchmal schlimme, gar grausame Szenen. Und stets war Oliver versucht, den Mann auszulachen. Worauf wartete der Therapeut? Auf Tränen?
Da konnte er lange warten. Oliver Strauss weinte nicht. Und warum auch? Wegen der blöden Bilder? Allesamt langweilig. Genauso langweilig, wie die neunjährige Gwen ausgesehen hatte, nachdem der Bus ihre Knochen zermalmt hatte.
Oliver wusste schon längst, was mit ihm los war. Einmal, seine Eltern hatten beide zu viel getrunken, hatten sie zu laut gesprochen, vielleicht sogar gestritten, und er hatte alles gehört. Alles! Yep! Hirnschaden! Keine Empathie, was er sofort nachgeschlagen hatte. Eeempatiiii! Er sah sich nicht im Spiegel! Aha! Er war ein Zombie, ein Monster, ein Typ, der nachts durch die Straßen schlich und harmlose Bürger killte. Ja, so stellten sie ihn dar. Und damit er Mitgefühl lernte, schulte man ihn darin. Mit Bildern und Musik und Erzählungen.
Man erzog ihn zu einem Schauspieler, der seinen Mitmenschen Stimmungen vorspielen sollte, damit sie ihn mochten. Damit er dazu gehörte.
Schwachsinn und Zeitvergeudung!
Was wussten sie über seine Träume, über seine Wünsche, seine Ziele?
Niemand wusste, dass Oliver die Sache mit dem Pfahlmörder aufmerksam verfolgt hatte. Heimlich hatte er zwei Bücher über Serienmörder gelesen, ein Thema, das ihn faszinierte. Inzwischen kannte er den Unterschied zwischen einem Spontanmörder und einem BTK-Täter. Bind, torture, kill – fesseln, foltern, töten. Vincent Padock hatte zur zweiten Kategorie gehört. Warum ihn diese Menschen faszinierten, wusste er nicht, vielleicht nur deshalb, weil sie anders waren, so wie auch er anders war. Auch sie hatten kein Mitgefühl, von dem Oliver nur das abstraktes Bild hatte, wie es sein sollte, da er niemals wissen würde, wie es sich anfühlte.
Inzwischen hatte er gelernt, wann man lächelte, wann man welches Gesicht zog, um den Mitmenschen ein Gefühl von Normalität zu vermitteln. Dafür hatte David gesorgt.
Er wusste auch, dass seine Lust, Tiere zu töten, ein erster Indikator für eine entsprechende Formung war. Allerdings konnte er sich nicht vorstellen, einen Menschen zu töten. Das schien ihm zu weit hergeholt.
Er litt unter einer Antisozialen Persönlichkeitsstörung, hatte er gegoogelt. Offiziell galt er als Soziopath, obwohl eine solche Krankheit in Deutschland erst ab dem 18. Lebensjahr diagnostiziert werden durfte.
Was wussten sie darüber, wie sehr er seine Mitschüler verabscheute und inzwischen manchmal seine Eltern, die schwach, so unglaublich schwach waren. Nicht immer, aber manchmal fühlte er so. Wie sonst konnten sie ihn noch immer behandeln, als sei er ein kleines Kind. Hätschel hier, tätschel dort! Sie wussten doch, dass er einen Hirnschaden hatte, also sollten sie ihn so behandeln, wie es sich geziemte, oder? Er war kein Kind mehr. Er hatte Dostojewski gelesen und versuchte sich jetzt an Tolstoi.
So hatte er heute wieder mit Herrn Normann gesprochen, der von Anfang an darauf bestanden hatte, dass Oliver ihn David nannte.
David, aha! Na gut, wenn er es so wollte ...
Und auch heute hatte David sein Bestes versucht, unermüdlich.
Schließlich reichte David Oliver ein Messer. Ein Essmesser, stumpf und rund, eines, auf dem man, wie Papa immer sagte, bis nach Arizona reiten konnte, hahaha!
»Würdest du mir etwas tun, wenn ich dich wütend mache?«, fragte David.
Oliver begriff nicht. Was sollte das Theater?
»Würdest du mich mit dem Messer, das ich dir gegeben habe, angreifen, wenn ich dich wütend mache?«
»Warum sollte ich wütend werden?«, fragte Oliver.
»Schließe für einen Augenblick deine Augen, Oliver.«
Er tat es.
»Und nun stelle dir etwas vor, das dich ärgert. So richtig ärgert. Vielleicht jemanden, den du nicht magst, auf den du zornig bist.«
Er tat es.
»Und nun? Wie fühlst du dich dabei?«
Blöde Frage. Zornig!
Und er stieß zu. Stieß David das Messer in die Leibesmitte, so fest er konnte. Er war hochgewachsen, schmal und für sein Alter stark. Und er legte alle Wucht in den Stoß. Er würde David mit dem Messer nicht wirklich verletzen können, aber er würde diesem Affen zeigen, was geschah, wenn man sich mit ihm anlegte. Und vielleicht wollte der Therapeut das sogar, schließlich wich er nicht aus. Warum nicht?
Im Gegenteil sackte David zusammen, hielt sich den Bauch, spuckte, würgte und übergab sich auf den hellen Holzboden. So kauerte er auf den Knien und war nicht mehr als ein kotzender Sack voller Müll.
Oliver hatte in den letzten Monaten genug gelernt, um zu tun, was von ihm verlangt wurde. Er tat so, als sei er untröstlich, stammelte, es täte ihm leid
(so eine verlogene Scheiße!)
und rüttelte David an der Schulter. Er drückte und versuchte, eine Träne aus seinem Auge zu quetschen, aber das gelang nicht. Dennoch legte er ein hörbares Zittern in seine Stimme. Als David aufblickte, kreideweiß im Gesicht, sah er nicht aus, wie David, sondern wie ein anderer David, wie ein panischer David, eher so, als sei ihm eine spitze Schnauze gewachsen wie einer Ratte, und er sagte flach und drängend: »Ist nicht schlimm. Ist alles gut, Olli.«
(Olli, liebe Güte!)
»Du zeigst, was du gelernt hast. Das machst du sehr gut.«
Vielleicht sollte er ihm das Messer auch noch in den Hals rammen. Vielleicht wäre David dann von Olli ganz besonders begeistert, nicht wahr?
Die Stunde war vorbei.
David schickte Oliver zum Bus, mit dem er nach Hause fuhr.
Als er ankam, hatte Mama den Anruf schon erhalten.
»Herr Normann sagt, er hat eine Prellung, sonst nichts. Er tut so, als sei das alles nicht weiter schlimm, sagt, es sei sein Fehler gewesen. Und warum ruft er mich dann an und bringt mich in Verlegenheit? Warum klingt seine Stimme, als würde er Oliver am liebsten den Hals umdrehen?« Daniela hatte sich wieder beruhigt und lag jetzt auf dem Rücken. Sie starrte an die Decke.
Nebenan schlief Oliver, es war kurz vor Mitternacht.
»Wir müssen einen ganz neuen Weg gehen«, sagte Stefan.
Sie sah ihn an.
»Er wird sich nicht ändern. Die Therapiestunden können wir uns sparen. Wir sollten endlich begreifen, wer unser Sohn ist. Er kann nichts dafür. Er ist so, weil er so sein muss. Und wir sind seine Eltern. Wir lieben ihn und haben bei seiner Geburt geschworen, ihn stets zu beschützen. Also gewinnen wir sein Vertrauen, nehmen ihn ernst. Behandeln ihn so, wie er es braucht und schließlich werden wir entdecken, was in seiner Seele, in seinem Verstand los ist. Vielleicht können wir nur auf diesem Weg Schlimmeres verhindern.«
»Schlimmeres verhindern? Glaubst du ...«
»Machen wir uns nichts vor, Liebste. Er wird älter. Und er wird nie Mitgefühl empfinden. In dieser Hinsicht ist er tot, kalt wie Eis. Er wird so handeln, wie sein mageres Gefühlsleben es ihm befiehlt. Und wir müssen dafür sorgen, dass wir diese Befehle früh genug erkennen, um ihn zu beschützen.«
»Er wird niemals glücklich sein, sagte Herr Normann. Er lebt in einer öden Welt.«
»Vielleicht haben wir noch nicht das für ihn gefunden, was ihm Freude macht. Möglicherweise sind wir zu ungeduldig. Wir müssen abwarten, hinhören, unsere gesunde Empathie auf ihn wirken lassen. Nur, wenn wir ahnen, vielleicht früher wissen was er will, können wir ihm seine Wünsche erfüllen. Und wenn sich irgendwann etwas herauskristallisiert, das ihn endlich glücklich macht, ein Ziel, das wir jetzt noch nicht kennen, wenn es soweit ist, dann werden wir für ihn da sein und ihn anleiten.«
»Wie willst du einen Menschen glücklich machen, der nicht glücklich sein kann? Einen Sohn, der dich zwar erkennt, aber dich vielleicht so sieht wie einen Hund oder wie eine Katze. Grau in Grau? Oder verzerrt? Oder als Märchengestalt?«
»Er hat völlig klare Wahrnehmungen. Er weiß, was er sieht, zumindest kann er es einordnen. Aber er sieht es mit seiner eigenen Wahrheit.«
»Wahrheit?«
Da war es wieder. Sie begriff es nicht. Geduldig wie eh und je, denn er liebte sie so, liebte sie so sehr, erklärte er: »Jeder Mensch hat seine eigene Wahrheit. Jeder sieht nur mit seinen eigenen Augen, seinen eigenen Sinnen, die so unterschiedlich sind wie die Menschen. Es gibt sieben Milliarden Wahrheiten. Für viele mag ein Bild schön sein, für andere ist es hässlich. Wie erkennen, dass ein Tisch eckig ist, aber wenn dir die Maserung gefällt, mag ein anderer Mensch sie abstoßend finden. Alles, was wir um uns herum wahrnehmen, geschieht mit unserer eigenen Wahrheit. Es gibt Wissenschaftler, die der Meinung sind, ein Baum sehe nicht aus wie ein Baum und eine Blüte nicht wie eine Blüte. Alles nur pure Energie in einem wahllosen Zusammenhalt. Sie sind lediglich das Abbild unserer Wahrnehmung, eben so wie ein Hund in schwarzweiß und eine Katze bei Nacht sieht oder wie Fliegen einen Rundumblick haben. Alles von dem, was uns umgibt ist variabel, sogar die Zeit, die von der Geschwindigkeit unseres Herzschlags abhängt. Wir Menschen haben uns lediglich auf den geringsten Nenner geeinigt, sodass Filmemacher wissen, was die meisten Menschen sehen werden, wenn sie im Kino sitzen. Und doch gibt es stets jene, die diese Bilder völlig anders in sich aufnehmen. Das gilt auch für Töne, für Musik, für Geschmäcker, für alles, was wir mit Sinnen wahrnehmen.«
»Also ist Oliver mit seiner Wahrheit nur einer von vielen?«
»Seine Wahrheit weicht extrem von der Norm ab, vom kleinsten Nenner. Das ist der einzige Unterschied.«
»Wenn du das sagst, klingt es so ... einfach, so ... harmlos.«
»Ich wollte, das wäre so banal. Ist es aber nicht, denn ihm fehlt etwas Grundlegendes. Auf seine Weise ist er ärmer dran als ein Psychopath, der zumindest seine Empathie bewusst nutzen kann. In dieser Hinsicht ist unser Sohn blind.«
»Dann ist er eine Maschine.«
Danielas Worte klangen so schlüssig, dass Stefan meinte, in den Magen getreten worden zu sein. Sie hatten den Unterton von Verlust, als sei Oliver gestorben. Als sei er nur noch eine Erinnerung.
»Das ist er nicht«, sagte Stefan, der sich nicht sicher war.
»Du belügst mich«, sagte Daniela. »Er ist kein menschliches Wesen. Ein menschliches Wesen kann weinen.«
Einfache Worte, eine erschreckend schlüssige Aussage.
»Daniela!« Stefan schnellte hoch. Er stützte sich auf die Hände, die Matratze gab nach, als würde er seine Frau lieben. »Du redest über deinen Sohn. Über unseren geliebten Sohn.«
»Ja, wir wollten ein Kind. Wir wollten ein Kind, das wir liebhaben können. Und wir haben Oliver geliebt. Wir haben ihn mit Liebe regelrecht überschüttet. Und was haben wir davon? Nichts haben wir davon.«
Stefan schnappte nach Luft. »Aber darum geht es doch gar nicht. Eltern lieben doch nicht, um etwas davon zu haben. Wenn man so liebt, ist das purer Egoismus. Wahre Liebe fordert keine Gegenleistung.«
»Papperlapapp, du Klugscheißer!«, schnappte Daniela und setzte sich auf. Er rollte zur Seite. »Ich will kein Kind, dass kein Mitgefühl hat.«
»Hör auf, bitte hör damit auf«, forderte Stefan sie auf. »Aus dir sprechen Frust und Wut und das verstehe ich.«
»Jetzt weiß ich auch, warum er mich kaum jemals in den Arm nahm. Immer dachte ich, ich hätte was falsch gemacht. Warum er nie geweint hat. Warum er so brav war. Warum er nie sagte: Mama, ich liebe dich! Und stets dachte ich, ich sei eine schlechte Mutter. Verdammt, Stefan. Er hat mich benutzt. Er hat mich zu einem traurigen Menschen gemacht. Er hat mich zerstört!«
Und nun weinte sie erneut, vornüber auf das Kissen und Stefan war hilflos und traurig.
»Ja«, murmelte er. »Vielleicht sind wir nur gut in der Liebe. Du magst Recht haben. Aber ich werde das nicht zulassen. Ich werde um Oliver kämpfen. Mit dir oder ohne dich.« Seine Stimme wurde intensiver. »Mein Vater hat mich im Stich gelassen, meine Mutter ebenfalls. Und wie war es bei dir? Deine Schwester bekam alles, was sie sich wünschte und dich behandelte man wie Aschenputtel. Wenn es Eltern gibt, die wissen, wie es ist, zurückgesetzt zu werden, sind wir das.«
Er schwieg und wartete, ob Daniela etwas sagte, doch sie schwieg. Sie kannte Stefans Geschichte und sie hatten oft genug deswegen getrauert. Er sagte: »Jeder Mensch hat seinen Platz auf der Welt, Liebste. Niemand wird versehentlich geboren. Und jeder Platz sollte ausgefüllt werden. Ich will wissen und erleben, wo der Platz unseres Sohnes ist. Dafür will ich alles tun, auch wenn ich daran zerbreche.«