19

 

Stefan öffnete mit zitternden Händen eine Zeitung nach der anderen. Er hatte alle gekauft, die er bekommen konnte. Überall suchte er nach Hinweisen, die auf seinen Sohn deuteten.

Er war daheim geblieben, konnte nicht zur Arbeit gehen.

Daniela hantierte im Garten, schnitt Rosen oder so ... Irgendwie war das auch unwichtig, Hauptsache, sie beide betätigten sich und kamen nicht zum  Nachdenken.

Andauernd lauschte Stefan auf ein aggressives Klingeln an der Haustür oder auf Autos, die mit blinkenden Lichtern vor ihr Haus fuhren, wie man es aus TV-Krimis kannte. Schwarze Ledermänner, die aus den Autos sprangen, in ihre Sprechfunkgeräte schnatterten und an die Tür pochten, während sie Hallo Polizei, sofort öffnen! brüllten.

Doch nichts dergleichen geschah.

Stefan hatte sich ein Leben lang stets bemüht, kein schlechtes Gewissen haben zu müssen. Er gab seine Steuerklärung pünktlich ab, er verspätete sich nicht zur Arbeit, seine Termine nahm er gewissenhaft wahr, sogar zum Friedhof ging er einmal im Monat, um dem Leichnam seines miesen Vaters eine Blume aufs Grab zu legen, die er viel lieber Daniela geschenkt hätte. Aber so machte man das eben. Sein Leben lang hatte er sich bemüht, Ordnung zu halten, einer geraden Linie zu folgen. Nie war er arbeitslos gewesen und falls doch, hätte er Toiletten geschrubbt, um seine Familie zu ernähren. Nie hatte sein Sohn ihn betrunken erlebt, keinesfalls ließ er sich gehen, übertrieb Dinge, sondern war sich stets bewusst, dass die Herrschaft über den Augenblick die Herrschaft über das Leben war.

Und Oliver hatte ihm diese Herrschaft aus der Hand genommen.

Ihm, der Erdbeeren pflücken konnte, ohne sich eine in den Mund zu stecken.

Er beobachtete über die Zeitung hinweg, wie Daniela, zierlich, jung und geschmeidig, Unkraut zupfte. Nicht selten fragte er sich, was sie an ihm fand, doch stets, wenn er sie darauf ansprach, verschloss sie seinen Mund mit Küssen oder überschüttete ihn mit Zärtlichkeit. Für sie war er der, den sie sich gewünscht hatte, obwohl er sich selbst nicht selten auf die Nerven ging. Warum eigentlich ihr nicht?

Seine Art zu leben hatte ihn zu einem ängstlichen Mann gemacht, so wie Oliver es klar und emotionslos festgestellt hatte. Er war ein ängstlicher Mann! Also war es an der Zeit, sich Mut zu machen. Sollte die Polizei doch kommen. Er würde seinen Sohn beschützen und auch seine Frau, die dann hoffentlich wusste, wann sie zu schweigen hatte. Er war ein guter Rhetoriker und nicht auf den Kopf gefallen. Es gehörte was dazu, ihn aufs Glatteis zu führen. Warum also diese Furcht?

Und er begriff, dass es nicht die Furcht vor Strafe war, sondern davor, seine Familie zu verlieren.

Daniela an einen Traum, den ihr die Familie nicht mehr erfüllte.

Oliver an die Dunkelheit.

Und sich selbst an die Leere, die daraufhin folgen würde.

Doch auch das war noch nicht die ganze Antwort. Er hinterfragte sich noch ein paar Minuten, dann erkannte er mit bitterer Gewissheit seinen Selbstbetrug.

Schon die Tatsache, dass er Oliver zu schützen versuchte, führte dazu, sein gesamtes Lebensbild zu hinterfragen. Wer auch immer ihn auf die Probe stellte, hatte ihm ein schweres Los zugedacht, hatte ihn in einen Konflikt gestürzt, der ihn fast zerriss. Denn die Konsequenz seines Naturells bedeutete, Oliver an die Polizei auszuliefern oder in psychologische Behandlung. Ein Mörder war ein Mörder, auch wenn er jung und unwissend war, auch wenn er krank war oder denselben Namen trug wie sein Vater.

Doch dies war nur die eine Seite der Medaille. Die andere Seite schimmerte genauso düster und sagte mit erbarmungsloser Entschlossenheit:

Disziplin ist Konsequenz! Deine Konsequenz ist die Verpflichtung als Vater! Und die wiederum besagt: Stehe zu deinem Kind, komme was da wolle!

Ein gedanklicher Kreislauf ohne Ende.

Drei, nein vier Zeitungen hatte er durchsucht, doch die Nachrichten waren spärlich. Hauptsächlich schossen sich die Blätter auf einen Serienmörder ein, der vor einiger Zeit entkommen war und dessen Tochter der Täter ermordet hatte. War es eine Tat aus Rache? Und was geschah nun mit der Mutter des Mädchens? Befand auch sie sich in Gefahr? Überhaupt ... wo war der Vater des Kindes? Wo war der Serienmörder? Ersten Gerüchten zufolge hatte der Mann sich umgebracht, da er mit seiner Schuld nicht hatte leben können. Andere wiederum sagten, er halte sich unter falschem Namen im Ausland auf und wisse noch nichts von dem Drama.

Stefan begriff, dass die Polizei im Dunkeln tappte, aber vermutlich die Mitschülerthese verworfen hatte - falls es sie jemals gegeben hatte.

Um Haaresbreite hätte Stefan gelacht. Das war ein schlechter Witz. Also hatte Oliver einen Mord begangen, der ihn gleichermaßen entlastete? Hatte er das Glück der Düsternis, den Hohn des Teufels, der immer stärker gewesen war als Gott?

Stefan schüttelte es und er bekam Kopfschmerzen. Er warf die Zeitung auf den Wohnzimmertisch und ging zum Terrassenfenster. Nein, er brauchte sich nicht vor der Polizei zu fürchten. Offenbar hatte Oliver Glück gehabt, hatten sie alle Glück gehabt, und diese Erkenntnis schmeckte bittersüß. Er schob die Tür auf, atmete die spätsommerliche Luft und erstarrte.

Es klingelte und sein Herz setzte für einen Moment aus. Er lauschte dem Geräusch nach. Wiederholte es sich? Standen Autos mit laufenden Motoren vor der Tür?

Nein.

Nur ein ganz einfaches, fast zögerliches Klingeln.

Er öffnete die Tür.

Ich bin kein Mörder: Thriller
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