38
Stefan und Daniela waren verstört gewesen.
Der Ermittler hatte ein paar Anrufe getätigt und umgehend einen Flug zurück nach Berlin bekommen. Sein gebuchtes Zimmer verfiel, denn noch am selben Abend flog er zurück nach Deutschland.
Sie beide mussten sich noch gedulden. Ihr Flug ging erst am nächsten Abend sehr spät.
In der Nacht hatten sie viel geweint und getrauert.
„Wir haben versagt“, sagte Stefan.
„Hätten wir etwas daran ändern können?“, fragte Daniela.
„Und wir haben ihn in die Hände eines anderen Mörders gegeben. Hätten wir den Mann an der Hotelbar nicht kennen gelernt, hätten wir Oliver das erspart.“
„Wer konnte das ahnen?“
Stefans Gesicht war eine bleiche Maske voller Trauer und Furcht. „Ich habe Oliver verraten. Ich habe mein Versprechen, ihn zu beschützen, gebrochen. Als der Polizist vor uns stand, war ich derart perplex, es war ein richtiger Schock. Damit hätte ich niemals gerechnet. Und nachdem er das Zimmer dieses Psychologen durchsucht hatte, und uns erklärte, mit wem Oliver nach Berlin unterwegs ist dachte ich ...“ Er schluchzte, denn ihm fehlten die Worte. Es gab Dinge, für die es keine Worte mehr gab, da sie unaussprechbar waren.
Sie klammerten sich aneinander, drückten sich und weinten beide.
Erschöpft waren sie irgendwann eingeschlafen, von dunklen Träumen und Schluchzern gequält.
Heute Morgen würde in Berlin die Hölle los sein. Zwar hatte das Fernsehen noch nicht berichtet, aber vermutlich suchte jeder Polizist der Stadt den Psychologen und ihren Sohn Oliver. Der Name Strauss war ein für allemal beschädigt, kaputt! Sie waren die Eltern eines Mörders.
Daniela und Stefan Strauss nahmen sich einen Leihwagen und fuhren ins Landesinnere. Die Fahrt über Fataga nach San Bartolomé war wunderbar. Es ging steil bergauf, die Straßen waren so schmal, dass Busse vor einer Biegung hupten, um ihre Breite anzuzeigen. Der Himmel war blau, unter ihnen erstreckte sich eine grüne Landschaft, wie Gott sie nur mit guter Laune geschaffen haben konnte.
Im Bergdorf Tejeda machten sie Rast und gingen Hand in Hand spazieren. Sie standen auf den Aussichtspunkten und bestaunten die Bergketten, die grünen Täler und die wilde Vegetation.
Hier oben herrschte ein angenehmes Klima, kühler als unten am Meer, eine glasklare Luft, was selten war, denn meistens war es hier oben nebelig, und wenn ganz selten Schnee fiel, strömten die Einwohner von der Küste nach hier oben, um ein paar Stunden die weiße Pracht zu genießen. Hier konnten sich dicke Wolken ballen, die sich festsetzten, wodurch es regnete, während nur wenige Kilometer Luftlinie am Meer die Sonne brannte und jahrelang kein Tropfen fiel.
Stefan und Daniela redeten nicht viel.
Was gab es auch zu besprechen? Vielleicht wartete die Polizei schon auf sie, wenn sie ins Hotel zurückkehrten oder morgen an der deutschen Zollabfertigung?
Sie hatten ihren Sohn verloren, sie hatten ihn verraten.
Sie hatten so stark sein wollen und waren unter dem Charisma des Ermittlers zusammengebrochen wie kleine Kinder vor dem bösen Oberlehrer. Sie hatten der Überraschung nicht standgehalten.
Ihr Leben war in Stücke gebrochen wie damals der Pflaumenkuchen auf dem Küchenboden. Tausend Stücke, die krachten, wenn man darauftrat.
Oliver war mit dem Mann zusammen, dessen Tochter er getötet hatte.
Ein Serienmörder und Oliver.
Zwei kranke Menschen, die man jetzt jagte wie wilde Tiere.
Und ausgerechnet diesem Serienmörder hatten sie sich anvertraut. Gut, dass weder Oliver noch sie ihm gegenüber etwas von den Morden gesagt hatten, sonst wäre ihr Sohn jetzt schon tot.
Konnten sie ihn retten?
Noch etwas für ihn tun?
Nein, es war zu Ende. Sie hatten ihr Kind gehabt, hatten es geliebt und nun waren sie frei. Sie hatten getan, was sie konnten und es hatte nicht genügt. Sie waren frei wie der Habicht, der über ihnen kreiste. Stefan hielt sein Gesicht in den kühlen Wind, der seine feinen Haare verwehte und sagte: »Es ist so schön hier oben. Als gäbe es nur Gutes in der Welt.« Er blickte Daniela an. »Was hörst du?«
Daniela lauschte. »Frieden.«
»Ja, das ist gut gesagt. Hier oben herrscht Frieden.«
Daniela sagte: »Das erste Mal seit langer Zeit fühle ich mich frei.« Sie breitete die Arme aus und schloss die Augen.
»Mir geht es auch so«, antwortete Stefan. »Mir geht es ganz genauso.«
Über ihnen kreisten zwei Adler, vermutlich jene vom Palmitos Park, die mehrfach täglich Ausflug bekamen, aber vielleicht waren es auch wilde Tiere.
Ein Habicht pfiff und sein kühler Laut echote durch das Tal. Der Roque Nublo streckte seine markante Silhouette gegen den stahlblauen Himmel. Eine alte Frau schlurfte über den Kopfstein. Vor einem Café saßen Einheimische, spielten Backgammon und tranken Tee.
Der Reisebus war weggefahren, nur noch wenige Touristen trieben sich herum.
»Fahren wir?«, fragte Stefan.
»Ja, Liebster.«
Sie stiegen in den Panda und abwärts ging es, zurück nach San Andreas.
»Ich liebe dich, Daniela«, sagte Stefan und reichte seiner Frau die rechte Hand.
»Ich liebe dich auch, Stefan«, sagte sie und ein helles Schluchzen drang aus ihrem Mund.
Stefan drückte das Gaspedal bis zum Anschlag durch.
»Bist du bereit?«, fragte er.
»Ich bin bereit, Liebster.«
Er sah sie an. Direkt in ihre Augen.
Sie öffnete den Mund, als wolle sie ihn küssen, feuchte Lippen, Tränen auf den Wangen.
Der kleine Fiat durchbrach die niedrige Planke der markanten Aussichtsstelle. Es donnerte, ratterte, dann befanden sich Stefan und Daniela für einen Atemzug in Schwerelosigkeit.
Beide öffneten den Mund, um noch etwas zu sagen. Ihre Blicke waren beieinander, sie hatten keine Angst. Sie stießen ein Wort hervor, zeitgleich.
»Oliver!«
Dann zerbrach die Welt um sie, der Panda schlug auf einen Felsvorsprung, fiel noch ein Stück, überschlug sich und endlich, endlich beendete der tiefe lange Sturz den Alptraum von Stefan und Daniela Strauss.