27

 

Franco staunte, dass er sich voll und ganz auf Oliver konzentrieren konnte. Die Nachricht vom Tod seiner Tochter lag zwar wie eine Eisschicht auf seinem Körper, doch innerlich war er warm, leidenschaftlich und neugierig.

Mit Marlies’ Tod würde er sich später konfrontieren.

Sie saßen sich gegenüber, ganz entspannt, während von unten Poolgeräusche ins Zimmer drangen. Die Klimaanlage rauschte leise, alles war aufgeräumt und sauber.

»Würdest du mir eine Frage beantworten wollen?«, fragte Franco.

»Na klar«, antwortete Oliver.

Er sah nicht aus wie ein Zwölfjähriger, sondern wirkte wenigstens drei Jahre älter. Er war schlank, mindestens einssiebzig groß, von filigranem Wuchs, ein schmales, freundliches Gesicht mit femininen Zügen und langen, glatten Haaren, in denen sich die südliche Sonne golden brach. Bemerkenswert waren die hellblauen Augen, die wie Eis schimmerten. Nichts an dem Jungen, der kein Kind mehr war, wies auf die seelische Verhärtung hin, die ihm sein Gehirnschaden beschert hatte.

»Was würdest du ganz besonders gerne tun?«

»Schwimmen gehen, im Wasser plantschen.«

»Rede keinen Unsinn. Ich meine, wenn du etwas tun dürftest, das sonst niemand darf.«

Oliver überlegte, dann wurden seine fein geschwungenen Lippen zu einem Strich. »Ich würde gerne sehen, wie ein Mensch von innen aussieht.«

»Es gibt Bücher.«

Franco kannte die Antwort, doch er wollte sie hören. Oliver war das, wozu die Briefe von Kussmund Mark Rieger, der jetzt Franco Sola hieß, gemacht hatten. Ein grausamer Mensch, dessen Empathie bei Null lag. Das Paradebeispiel eines Mörders. War Oliver das bewusst? Hatte der Junge schon getötet?

»Ich möchte ihn selbst aufschneiden und nachschauen.«

Franco lächelte, als sei diese Antwort ganz selbstverständlich.

»Und?«

»Am liebsten wäre mir, der Mensch würde dabei noch leben.«

Nun musste Franco doch schlucken. Vor allen Dingen zeigte Oliver keine Regung, sogar sein Blick änderte sich nicht. Wollte er ihn provozieren, mit dieser Antwort aufs Glatteis führen und austesten? Das taten Klienten gerne. Mal schauen, was mein Therapeut erträgt, hahaha.

»Warum würde dir das Freude machen?«

»Ich hätte daran keine Freude.«

»Und warum willst du es dann?«

»Weil ich es kann.«

Liebe Güte, das hatte auch Uwe Café gesagt, ein Psychopath und Mörder, den Franco analysiert hatte. Weil ich es kann!

»Hast du das schon einmal versucht? Bei einem Tier?«

Oliver stutzte und wand sich unvermittelt auf seinem Stuhl.

»Wenn ich dir helfen soll, musst du mir das sagen.«

»Ich will eigentlich keine Hilfe. Das wollen meine Eltern. Nur ihnen zuliebe bin ich hier.«

»Dann sage es mir trotzdem.«

»Ich habe eine Ratte zerschnitten, die noch lebte.«

»Wie alt warst du da?«

»Sechs oder sieben. Ich weiß es nicht mehr genau.«

»Und danach? Hast du so etwas wiederholt?«

Und wieder die seltsam verdrehte Körpersprache, die von einer Lüge zeugte. »Nein, nie wieder.«

»Das glaube ich dir nicht.«

»Mir ist scheißegal, was Sie mir glauben.«

»Warum bist du so unfreundlich zu mir, Oliver? Ich bin dein Freund, auch wenn du das noch nicht weißt. Du darfst mich duzen und mich Franco nennen.«

»Sie haben einen lächerlichen Namen. Sie sind kein Spanier.«

»Wollen wir uns streiten oder miteinander reden?«

Oliver lächelte, doch es war nur eine Mimik. »Okay, also Franco. Klingt wie aus einem Italowestern.«

»Zwölfjährige kennen Italowestern?«

Oliver nickte und strahlte unvermittelt so etwas wie Begeisterung aus. »Oh ja. Clint Eastwood. Ich habe alle Western von Sergio Leone auf DVD gesehen. Wenige Worte. Gesichter, immer wieder Gesichter in Großaufnahme und zuckende Münder und Augen, große Augen. Schweiß auf der Haut, regungslos, eine Fliege auf der Stirn, na und? Alles im Blick, unter Kontrolle. Tolle Bilder.«

»Gesichter, aha. Und was siehst du in ihnen?«

»Das ist schwierig, denn sie wirken stets neu auf mich. Ich liebe das, denn es ist immer wieder überraschend. Aber ich erkenne Eastwood. An der Kleidung und an seinen Bewegungen. Ich mag diese Filme wegen der Gesichter und der Stille. Da gibt es einen, der heißt Charles Bronson. Der guckt zehn Minuten in die Wüste, ohne einmal zu blinzeln. Er wartet an einem Bahnsteig. Und er wartet und wartet. Ohne sich zu bewegen. Und er guckt. Immer das Gesicht. Ich möchte es am liebsten malen, um es mir zu merken. Das sind Männer, die dann töten, wenn es notwendig ist. Und sie tun es, ohne eine Regung zu zeigen.«

»Aber sie haben einen Grund, wenn sie jemanden abknallen.«

»Na und? Ich glaube nicht, das man immer einen Grund braucht.«

»Warum sonst sollte man es tun?«

»Um zu zeigen, dass man der Stärkere ist. Die meisten Menschen haben Angst davor. Wenn aber jemand kommt, der tötet, wie er es will, beweist er, wie stark er ist. Jeder fürchtet sich vor dem Mörder, denn er hat Macht.«

»Und Macht gefällt dir?«

»Ihnen ... sorry, dir nicht?«

Klug gemacht, kleines Monster!, dachte Franco.

»Ja, auch mir gefällt die Macht.«

»Na also.«

Oliver blickte drein, als frage er sich, was der dämliche Dialog sollte. War doch eh alles klar, oder?

»Gibt es Dinge, die du besonders gerne machst?«

»Hab ich doch schon gestern gesagt. Ich koche gerne.«

»Kochen, aha.«

»Ich liebe Fleisch und ich mag Gemüse. Daraus zaubere ich schöne Gerichte. Ich gucke Kochsendungen und koche Rezepte nach. Das ist Kunst, weißt du? Echte Kunst.«

»Ja, das ist es. Ein schönes Hobby. Das freut deine Eltern bestimmt sehr?« Franco musste aufpassen, nicht in eine kindliche Dialektik zu fallen. Es war verlockend, den Jungen zu unterschätzen.

»Ich möchte gerne Koch werden.«

Franco jubilierte innerlich. Das ergab ganz neue Möglichkeiten. Ungeahnte Möglichkeiten! Strahlend sagte er: »Würdest du etwas für mich kochen?«

Oliver verzog das Gesicht. »Wo denn? Hier im Zimmer? Hier sind überall Rauchmelder.«

»Nein, nicht hier. Später erst. Ich kenne in Berlin einen Spitzenkoch, der sich über einen Gehilfen freuen würde. Ist zwar nur für einen Tag, aber besser als nichts. Ich könnte mir vorstellen, mit dir nach Berlin zu fliegen, um dich ihm vorzustellen.«

Oliver strahlte. Und erneut fragte sich Franco, ob der Junge tatsächlich keine Empathie hatte. Gab es so etwas überhaupt? Null Mitgefühl? Ja, das gab es. Oliver freute sich über die Perspektive, aber er würde eiskalt bleiben, wenn Franco sich vor seinen Augen einen Zeh abschnitt.

»Wann fliegen wir?«

»Langsam, langsam, Oliver. Zuerst müssen wir uns noch besser kennen lernen. Außerdem weiß ich nicht, was deine Eltern dazu sagen. Auch sie sollten mich besser kennenlernen. Schließlich vertraut man seinen geliebten Sohn nicht einem fremden Mann an.«

»Du bist kein Fremder!«

Nein, ich werde dein Gepetto sein und dich schnitzen, aber ohne eine verräterische Nase!

»Wir könnten interessante Dinge miteinander tun und erleben, Oliver. Aber dafür brauche ich dein Vertrauen. Es könnte sein, dass du von mir Geheimnisse erfährst. Wer garantiert mir, dass du sie für dich behalten kannst?«

»Ich kann das!«, sagte Oliver geradeaus.

Ja, du kannst das. Ich weiß!

»Beweise es mir.«

»Wer ist der Spitzenkoch? Einer aus dem Fernsehen?«

»Ja, aus dem Fernsehen. Aber zuerst ...«

»Ich weiß. Ein Geheimnis.«

»Okay, du willst es mir beweisen. Was tun deine Eltern nach dem Abendessen?«

»Sie schauen sich die Hotelshow der Animateure an.«

»Und du?«

»Mich ödet das an, ich lese im Zimmer.«

»Heute nicht. Heute Abend triffst du dich mit mir.«

»Und warum?«

»Lass dich überraschen.«

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Ich bin kein Mörder: Thriller
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