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Daniela und Stefan Strauss beschlossen, den Vorfall mit der Ratte zu ignorieren, doch so einfach war das nicht.
Oliver zeigte in keiner Minute Schuldbewusstsein, lediglich dass er das Taschenmesser seines Vaters geklaut hatte, schien ihn zu belasten. Er entschuldigte sich dafür, dann wandte er sich seinen Spielsachen zu, als sei damit alles geklärt.
Später, sie lagen nach der noch immer befreienden Liebe nebeneinander, schwer atmend, zufrieden und glücklich miteinander, erklärte Stefan: »Kinder experimentieren. Der eine zerschneidet einen Regenwurm, um zu sehen, ob tatsächlich beide Teile weiterleben, ein anderer reißt Fliegen die Flügel aus oder lässt seine Maus im Waschbecken schwimmen, bis sie versinkt.«
Daniela antwortete: »Das begreife ich. Viel schlimmer als die Ratte war seine Frage, ob ich sie wieder zusammennähe. Das ist ... seltsam. In diesem Moment hatte ich das Gefühl, mit Oliver stimmt etwas nicht.«
Stefan lächelte und streichelte seiner Frau die Wangen, dann küsste er sie. »Oliver ist unser Sonnenschein. Wir werden ein Auge auf ihn haben.«
Zwei Jahre geschah nichts, das das Leben der Familie Strauss durcheinander gebracht hätte. Stefan war nach wie vor erfolgreich in seinem Beruf, Daniela sah sich nach einem Halbtagsjob um. Als gelernte Einzelhandelskauffrau blieben ihr nicht viele Möglichkeiten und sie überlegte, bei Aldi zu arbeiten, wo sie im Vergleich zu anderen Firmen auf jeden Fall gut verdienen würde.
Oliver kam aufs Schiller-Gymnasium in Berlin-Mitte, eine Schule mit gutem Ruf und interessanten Entwicklungszielen. Hier gab es ein hohes Maß an Schulsozialarbeit. Der Girls’-Day, der Boys’s-Day, ein sportliches Winterferienprogramm, das mit dem John-Lennon-Gymnasium kooperierte, viele bunte Aktionen und ein interessantes Elterncafé.
Oliver entpuppte sich auch dort als guter Schüler. Seine Lehrer mochten ihn, seine Mitschüler auch, obwohl er wenig Kontakt zu ihnen suchte. Er wurde immer stiller und las Dostojewski. Der Junge ignorierte Computerspiele und sah nur selten Fernsehen. Seine Liebe galt den Büchern, die für einen Zehnjährigen nicht geeignet schienen.
Er schien zu begreifen, warum Romanowitsch Raskolnikow in Schuld und Sühne zum Mörder an einer alten Frau geworden war, einer Laus, wie Raskolnikow sie nannte. Warum der Täter jedoch mehr als 500 Seiten lang ein so schlechtes Gewissen hatte, begriff Oliver nicht. Die alte Frau war eine Laus gewesen, und Läuse zerquetschte man mit dem Daumennagel oder etwa nicht?
Daniela, die nie gerne gelesen hatte, war befremdet. Stefan war begeistert.
»Aus ihm wird mal was werden«, sagte er und seine Augen glühten stolz.
»Er sollte mit Freunden spielen. Er ist so anders«, gab Daniela zurück.
»Ganz unser Sohn«, antwortete Stefan, als hielte er sich und seine Frau für etwas besonderes, für anders. Doch das waren sie nicht. Sie lebten bürgerlich, sparsam und verantwortungsvoll und fuhren einmal im Jahr für zwei Wochen nach Gran Canaria. Sie liebten die Insel, das gleichbleibende gesunde Klima und die vielfältige Vegetation. Außerdem überlegten sie, die weitläufige Eigentumswohnung zu verkaufen, um in ein Haus umzuziehen.
Sechs Monate später war es soweit und Stefan stand in seinem eigenen Garten. Ein helles, freundliches Haus in Berlin Grunewald. Sie hatten den größten Teil ihrer Ersparnisse geopfert, um hier leben zu dürfen, nicht weit entfernt von der Villenkolonie. Das wäre vor einigen Jahren noch undenkbar gewesen, aber die Immobilienpreise waren im Keller, Berlin röchelte aus dem letzten Loch und war pleite.
Stefan reckte sich und sagte: »Das gehört uns. Bezahlt von unserem Geld, Liebste. In der Nähe ist der Königssee, bis zur City sind es nur ein paar Minuten. Gebraucht, aber unseres.« Er legte Daniela einen Arm um die Schultern und zog die schlanke Frau an sich. Sie schmiegte sich in seinen Arm und Tränen des Glücks liefen über ihre Wangen.
Oliver kam zu ihnen und blickte seine Mutter an. Er legte den Kopf schräg und musterte sie interessiert.
»Warum weinst du, Mama?«, fragte er sachlich.
»Weil ich glücklich bin.«
»Und dann weint man? Solltest du dann nicht lachen?«
Stefan, der nicht einmal in den letzten zehn Jahren seinen Sohn von oben herab angesprochen hatte, kniete sich auf Augenhöhe und legte ihm die Hände auf die Schultern. »Freust du dich über dein neues Zimmer und das schöne Haus?«
»Ja, Papa. Es ist super.« Olivers Gesicht war regungslos.
»Ich spüre das nicht bei dir«, sagte Stefan. »Manche Kinder weinen mit, wenn andere weinen. Oder wenn du das nicht willst, könntest du vor Freude lachen. Oder singen. Oder albern sein.«
»Albern sein ist Unfug«, sagte Oliver, drehte sich aus dem sanften Griff seines Vaters und stolzierte davon.
Stefan erhob sich und blickte Daniela an. »Er ist so ... kühl.«
Sie nickte und wischte sich die Tränen aus dem Gesicht. »Er liest andauernd dieses Zeug. Das verwirrt ihn. Er ist doch noch ein Kind ...«
»Dieses Zeug macht ihn klüger.«
»Aber um welchen Preis?« Daniela sah ihren Mann hilflos an. »Sollte er nicht Fußball spielen oder vor dem Computer hocken oder Trickfilme anschauen? Und was tut er stattdessen? Er liest diesen Kram, den sogar die meisten Erwachsenen nicht kapieren.«
Stefan lächelte und in seinen Augen las sie: Den du nicht verstehst!
»Wenn du öfter zuhause wärst, wüsstest du, worüber ich rede«, sagte Daniela energisch. »Du müsstest ihn mal beobachten, wenn er liest. Er ist in einer anderen Welt und wenn ich ihn anspreche, sieht er mich an, als nehme er mich gar nicht wahr. Er blickt regelrecht durch mich hindurch. So wie damals, als er die Ratte angeschleppt hat.«
»Die Ratte?«
Ach ja, Stefan erinnerte sich wieder.
»Genau so. So ... kalt.«
Stefan ging zum Grilltisch, ein Sonderangebot aus dem Baumarkt mit Stromanschluss, ein echt geiles Teil, wie manche sagen würden, für Stefan ein dienlicher Gebrauchsgegenstand. Auf dem unteren Fach standen drei Flaschen Bier, von denen er eine entkorkte, den Flaschenöffner wieder akkurat auf seinen Platz legte, trank, sich in den weißen Kunststoffsitz fallen ließ und sagte: »Was meinst du genau?« Er hörte seiner Frau stets sehr genau zu, denn auch wenn sie manchmal schrecklich unwissend war, hatten ihre Worte ein emotionales Gewicht, wie er es vor ihr nie erlebt hatte. Manchmal verdrehte er innerlich die Augen, dann erinnerte er sich an ihr großes Herz und liebte sie umso mehr.
Sie setzte sich neben ihn.
Unser Garten! Unser Refugium! Wir sind eine glückliche Familie, haben keine Sorgen und einen wunderbaren Sohn, den wir über alles lieben!
»Wie warst du als Kind?«, wollte Daniela wissen.
Stefan grinste. »Du willst wissen, ob ich so war wie Oliver? Nein, so war ich nicht. Ich bekam so manche Ohrfeige von meiner Mutter, wenn ich vorlaut war oder nicht gehorchte. Und Vater holte oft den Gürtel und dann gab es ordentlich was auf den Hintern. Vater hat mich reichlich geprügelt. Bis zu seinem Tod stand das zwischen uns. Ich schwor mir, bei einem eigenen Kind anders zu sein. Tolerant. Nicht gewalttätig. Man muss über Dinge hinwegsehen können. Auf keinen Fall wollte ich das, was ich selbst erlebte, an mein Kind weitergeben, auch wenn behauptet wird, Eltern täten das. Ich glaube das nicht.«
»Siehst du, das meine ich. Oliver ist immer brav. Man muss ihn nicht ausschimpfen, er tut, was man ihm sagt. Ein Zehnjähriger, der tut, was man ihm sagt. Das gibt es nicht. Und wie war es früher? Keine Trotzanfälle, kein Hinwerfen im Laden, wenn er Süßigkeiten sah, kein Steifmachen, wenn er seinen Willen wollte.«
»Wir haben ihn gut erzogen, voller Liebe.«
»Ja, das haben wir. Ist dir aufgefallen, wie er sich kleidet? In seinem Alter fangen Jungs an, sich entsprechend anzuziehen. Und Oliver? Keine Schlabberhosen, die ihm in den Knien hängen, keine Shirts für Riesen oder Baseballkappen. Ich habe ihn gefragt und er sagte, er würde nicht einsehen, warum er sich wie ein Schwarzer kleiden soll, wenn er keiner ist. Und mit dieser Rapmusik hat er auch nichts am Hut. Die Texte würde sowieso keiner verstehen, sagte er, und das sei unbedingt notwendig. Diese Denkweise finde ich ungewöhnlich für einen Zehnjährigen, verstehst du? Wissen wir wirklich, was in ihm vorgeht, oder betrachten wir ihn nur als unseren Sonnenstern? Wir sind so stolz auf ihn, dass wir vergessen, dass er ein Indivdi ...«
»Individuum.«
»Dass er ein Individuum ist. Er ist nicht nur der brave, süße Junge, sondern ihn beschäftigen Dinge. Ich hab den Eindruck, wir sprechen zu selten mit ihm. Eben weil er so leicht zu führen ist.«
Da war es wieder. Obwohl Daniela Bildung fehlte, war ihre emotionale Intelligenz überwältigend. Ihr Einwand klang vernünftig, doch Stefan wehrte ihn ab. »Du machst dir zu viele Gedanken. Lass uns froh darüber sein, dass er ein guter Junge ist. Wenn du erst bei Aldi anfängst, wird dich das auf andere Gedanken bringen.«
Sie blickte ihn lange an und schwieg.
Im Apfelbaum zwitscherten Vögel, eine milde Brise strich über den makellosen Rasen, auf den Holzbohlen der Terrasse kämpften zwei Wespen miteinander.