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Der Therapeut war ein Mann mittleren Alters mit freundlicher Ausstrahlung, einem Kinnbart und fast schulterlangen Haaren. Er trug löcherige Jeans und ein weißes, übergroßes Leinenhemd.
David Normann war eine Koryphäe seines Faches, einer der besten Kindertherapeuten Berlins.
Er hatte mehrere Stunden mit Oliver verbracht. Nun war es an der Zeit, die Eltern zu informieren. Er sprach ruhig mit angenehmer Stimme und Daniela konnte sich vorstellen, dass Kinder diesen jugendlich wirkenden Mann mochten. Er strahlte etwas Unbeschwertes aus und seine Augen blitzten fröhlich. Dennoch lag ein ernsthafter Schimmer über seinem Gesicht, der Daniela beunruhigte.
Das Sprechzimmer war einfach, hell und freundlich eingerichtet. Viel IKEA, Topfpflanzen. Nichts, das die Gedanken ablenkte. Im Nebenraum Spielzeuge und andere Utensilien, die ein Kindertherapeut benötigte.
»Darf ich gleich zur Sache kommen?«, fragte David Normann.
Die Eltern nickten.
»Wenn Ihnen etwas erklärungsbedürftig erscheint, unterbrechen Sie mich bitte.«
Die Eltern nickten erneut.
»Ihr Sohn Oliver ist ein sehr intelligentes Kind. Er hat alle Anlagen, um später ein erfolgreiches Leben zu leben, wie er es sich erträumt. Allerdings gibt es da etwas, das ihm sein Leben erschweren wird. Zuerst hielt ich es für das Asperger-Syndrom, aber da irrte ich mich.«
Die Eltern wirkten wie paralysiert. Zwei Menschen voller Liebe zu ihrem Sprössling, für die gleich eine Welt zusammenbrechen würde.
»Oliver nimmt sein eigenes Gesicht nicht wahr.«
»Oliver tut was ...?«, stieß Daniela hervor.
Der Therapeut fuhr fort. »So etwas gibt es, auch wenn es selten ist. Es gibt da einen sehr einfachen Test, wie Sie sich denken können. Mit einem Spiegel. Oliver erkennt sich nicht. Er sieht sich, aber was er sieht, ist nicht mit dem vereinbar, was Sie in ihm wahrnehmen. Wir wissen nicht, wie er sich entdeckt, aber schon, wenn ich ihm einen künstlichen Schnurrbart anklebe oder eine Mütze aufsetze, fragt er, wer der Fremde im Spiegel sei. Deshalb hat er Probleme, in den Gesichtern seiner Mitmenschen zu lesen, die er genauso wenig erkennt. Er weiß, wer Sie sind, erkennt seine Schulkameraden, denn er hört die Stimmen, analysiert die Bewegungen, was auf einer eher intuitiven Ebene geschieht. Er macht seine Begrifflichkeit des Gegenübers an anderen Dingen fest als Sie und ich. Man kennt hier das Ego-Shooter-Syndrom. Die geschädigte Person sieht sich aus derselben Ich-Perspektive, wie sie in Ego-Shootern üblich ist. Nehmen wir an, der Betroffene liebt und spielt diese Computergames oft. Im selben Moment, in dem er sich im Spiegel sieht, würde er sich selbst angreifen.«
Stefan wirkte ganz ruhig. »Wie kommt so etwas?«
Normann machte zuerst den Eindruck, als wolle er sich noch nicht so weit vor wagen, doch dann sagte er: »Ein Hirnschaden. Wir wissen bis heute noch nicht, wie er entsteht, aber wir kennen die Begleitumstände dieser ... Krankheit. Es geschieht während oder kurz nach der Geburt, ist also durch Voruntersuchungen nicht feststellbar. Sehr selten. Fast schon mystisch. Erinnern Sie sich an die Welt der Spiegel hinter den Spiegeln. Oder an Narziss, der sich nicht erkannte und sich in sein eigenes Spiegelbild verliebte. Oder an die Frage: Wenn ich schlafe, schläft auch mein Spiegelbild?«
Die Eltern starrten ihn an, denn sie spürten seine Begeisterung für das Thema, die sie nicht teilen konnten.
»Aber kommen wir zum wichtigsten Punkt, denn philosophische Eingebungen sind vermutlich nicht das, was Sie hören wollen. Wer den anderen Menschen erfasst, sieht auch dessen Mimik. Die Mimik ist die Grundvoraussetzung, um Emotionen zu erkennen. Wer nicht in anderen Gesichtern lesen kann, wer nicht nachspürt, innerlich nachahmt, lernt nie, was Emotionen sind.«
»Er fühlt nichts?«, fragte Stefan.
»Oh doch, er fühlt etwas. Aber nicht das, was Sie und ich fühlen. Darf ich das erklären?«
Die Eltern nickten.
Wie zwei batteriebetriebene verängstigte Stofftiere.
»Schauen Sie ... wir alle kennen das. Wenn jemand weint, ist das sehr schnell ansteckend. Besonders Kinder weinen gerne mit, wenn jemand anderes weint. Seit ganz kurzer Zeit wissen wir, dass sogenannte Spiegelneuronen dafür zuständig sind. Wenn wir mitweinen, empfinden wir sogar das Schmerzempfinden des anderen Menschen.« Er griff zum Tisch. »Sehen Sie diese Wasserflasche? Ich versuche, sie zu öffnen, sie klemmt ein bisschen, und endlich gelingt es mir, sie zu öffnen. Ich könnte im Belohnungsareal Ihres Gehirns das Erfolgserlebnis mitmessen. Sie freuen sich mit mir, ob Sie wollen oder nicht. Das schafft die Grundlage für ein gemeinsames Leben. Es ist wichtig, sich mitfreuen zu können, wenn etwas geglückt ist. Umgekehrt nützt es, wenn jemand scheitert. Das erspart uns unnützes Herumprobieren.« Er stellte die Flasche zurück.
»Unserem Sohn fehlt also Empathie?«, fragte Stefan. Dann ganz leise und erklärend nur zu seiner Frau: »Mitgefühl.«
»So kann man es sagen, Herr Strauss. Lassen Sie mich zum Thema Empathie ein paar Worte verlieren, denn darum geht es hier. Unsere Hirnzellen haben ein unbegreifliches Spezialtalent. Wir erkennen, wenn einem Mitmenschen kläglich zumute ist. Oder wenn er etwas will. Nehmen wir ein Baby. Es streckt sich nach seiner Rassel. Wir beobachten es, und wenn es die Rassel ergreift und strahlt, strahlen auch wir, das Gefühl scheint überzuspringen. So ist es auch mit Zorn, Trauer oder Ekel. Sogar komplexe Regungen, wie zum Beispiel Scham oder das Gefühl, einsam und ungeliebt zu sein, sind offenbar ansteckend. Wir wissen heute, dass es eine direkte, intuitive Kopplung zwischen Mensch und Mensch gibt, die ohne Nachdenken funktioniert. Übrigens am besten bei zwei Menschen, die sich lieben.« Er lächelte, als wolle er seine Aussage mit diesem Satz unterstreichen.
»Handeln und Wahrnehmen sind also keine getrennten Welten. Die Spiegelneuronen überbrücken die Grenze. Spiegeln bedeutet, Mitspüren, Miterleben, Mittun, die eigenen Körpererlebnisse und Erfahrungen benutzen. Der ganze Körper ist daran beteiligt. Er scheint mit dem Körper des anderen Menschen gewissermaßen mit. So entsteht diese mühelose Verbindung, die so vielem menschlichen Zusammenwirken zugrunde liegt, auch der Liebe, wie ich schon sagte.«
»Die Liebe«, echote Daniela. »Wir haben Oliver so viel davon gegeben.«
»Und das war gut und richtig so, Frau Strauss«, sagte der Therapeut.
»Ist das, was Sie sagen, sicher?«, hakte Stefan nach.
»Absolut, Herr Strauss. Man weiß, dass sogar Tiere so fühlen. Es gab ein dramatisches Experiment mit Rhesusaffen. Die Tiere konnten sich Futter besorgen, indem sie an einer Kette zogen, aber der benachbarte Affe bekam jedes Mal einen leichten Stromschlag. Die Tiere nahmen großen Hunger in Kauf, um sich das zu ersparen. Ein Affe rührte tatsächlich zwölf Tage lang die Kette nicht mehr an.«
»Affen ... aber Menschen?« Daniela wusste, wie sinnlos ihr Einwand war, aber ihr Herz schlug wie ein Hammer und sie fürchtete, unter der Wahrheit zusammenzubrechen.
»Oder erinnern Sie sich ans Gähnen. Das ist ansteckend, wir gähnen mit, wir spiegeln. Durch die Empathie flechten wir in unser Streben das Wohl und Wehe anderer mit hinein.«
»Und davon ist Oliver ausgenommen?«, fragte Stefan, der sich fühlte, als rase er auf einem Schnellboot über das Meer direkt auf eine haushohe Welle zu, ohne sich festhalten zu können.
»Es hätte sein können, dass Oliver zu jenen Menschen gehört, die ihre Empathie ein- und ausschalten können, wie man das bei Psychopathen beobachtet. Ich habe das sehr genau überprüft. Doch selbst das kann er nicht. Er besitzt schlicht und einfach kein Mitfühlen. Erleben und Erfahrungen sind das Maß aller Dinge. Sie sind der Schlüssel, mit dem wir in die Schatzkammer des Erlebens und der Kenntnisse anderer eintreten können. Ohne ihn – und so ist es bei Oliver – haben wir nur die abstrakte Vorstellung, wir seien einsam in einer öden Welt.«
»Kann man ... kann man seinen ... Hirnschaden heilen?«, fragte Daniela.
David Normann schüttelte den Kopf. »Das ist nicht umzukehren, so leid es mir tut. Wir müssen nun überlegen, wie wir Ihrem Sohn helfen können.«
»Helfen?«, fragte Stefan. »Gibt es tatsächlich Hilfe?«
Der Therapeut lächelte empathisch. »Ja, die gibt es. Und daran müssen wir jetzt gemeinsam arbeiten.«