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Elvira Kreidler, duckte sich unter dem Blick von Oberstaatsanwalt Spinner, der sie anstarrte, als sei sie ein Krabbeltier, das sich direkt auf den Telefonhörer gesetzt hatte. Entweder er wischte es mit einem Handstreich weg oder er erschlug es.
»Zwei tote Kinder, Frau Kreidler. In einer Schule. Einem Ort, an dem Kinder sicher sein sollen, einem Ort, dem die Eltern vertrauen. Wissen Sie, was das für Ihre Gruppe, was das für das LKA bedeutet? Die Presse wird uns zerfetzen wie trockenes Papier, wenn wir nicht in wenigen Tagen einen Täter präsentieren. Was, verdammt, ist eigentlich in dieser Stadt los? Haben wir neuerdings ein Serienmördernest? Zuerst diesen Pfahlmörder, dann ausgerechnet einen Gerichtspsychologen, für den Sie sich auch noch stark gemacht haben, und nun ...«
Elvira Kreidler versuchte, Haltung zu bewahren. Schnippisch antwortete sie: »Und was nun ...?«
»Was weiß ich«, stöhnte Spinner, seine aggressiv nach vorne geschobenen Schultern sackten zusammen und unversehens sah er nur noch aus wie ein Mann, der einen großen Sack Probleme mit sich schleppte.
»Kinder, Frau Kreidler. Von mir aus eine Oma oder einen Bauarbeiter, aber Kinder? Und dann auch noch die Tochter von Dr. Rieger, der noch immer gesucht wird. Das alles ist derart verfilzt, dass mir der Kamm schwillt.«
»Es gibt Spuren, Herr Spinner.«
»Na klar. Ein Mitschüler, nicht wahr? Haben Sie eine Ahnung, was das für uns bedeutet?«
Oh ja, das wusste Elvira nur zu gut.
Dennoch erklärte der Oberstaatsanwalt: »Kinder sind bis zum 14. Lebensjahr strafunmündig und können nicht Verdächtige oder Beschuldigte in einem Strafverfahren sein. Und damit beginnt die Scheiße!«
Elvira schwieg. Sie wollte ihm seinen Lauf lassen und staunte über die rüde Ausdrucksweise des mächtigen Mannes. Seine Nerven lagen tatsächlich bloß.
»Jeder Anwalt wird uns in der Luft zerreißen, wenn wir ein Kind vernehmen. Die Angehörigen haben ein Auskunftsverweigerungsrecht, was mich wahnsinnig macht. Sie dürfen ihre Kinder schützen und wir müssen ihnen beweisen, dass sie etwas wissen, dass sie sich zu Mitschuldigen machen. Mitschuldig an wem? An einem Kind. Und das wiederum kann nicht beschuldigt werden, bis es 14 Jahre alt ist. Da beißt sich die Katze komplett in den Schwanz. Das ist Unlogik pur. Und als wäre das nicht alles, dürfen wir die Kinder nur mit Zustimmung der Eltern verhören. Papa und Mama hocken also bei der Vernehmung dabei und ziehen die Fäden.« Er schnaufte, übergewichtig und frustriert. »Wir kriegen nur dann einen Ergänzungspfleger dazu, wenn wir den Eltern etwas nachweisen können. Wie ich schon sagte: Katze, Katze!«
Elvira füllte dem Oberstaatsanwalt die Kaffeetasse, der einzige Mann, der in diesen Genuss kam.
Sie sagte: »Okay, da ein Kind nicht Beschuldigter sein kann, ist die Anwendung der Regelungen der StPO also relativ kompliziert. Dennoch besteht eine Möglichkeit, Informationen zu erheben. Nehmen wir an, das Kind steht in einer akuten Gefahr, dass es weiter straffällig wird und somit eine sozial angepasst weitere Entwicklung des Kindes verhindert wird. Dann dürfen wir verhören und das Kind unverzüglich dem Jugendamt überstellen, Fingerabdrücke nehmen und das Kinderzimmer durchsuchen.«
»Paragraphenreiterei. Fernab der Realität.« Er trank einen Schluck, schwarz. Er schüttelte langsam den Kopf. »Welches Kind auf dem Schiller-Gymnasium hat Eltern, die wir durch das Jugendamt ersetzen sollen? Das sind allesamt feine Leute mit drei Fernsehern und zwei Autos, viele von denen sehr gebildet mit ausreichend Geld für Top-Anwälte, Haus in Grunewald und Direktdraht zu Chanel und Dior auf dem Ku’damm. Die werden Zeter und Mordio schreien. Ganz zu schweigen von den Medien. Kinder, mein Gott! Sensibler geht’s nicht.«
Elvira Kreidler, Amtsbereichsleiterin der Abteilung Mord im Landeskriminalamt Berlin, versuchte nach wie vor, Ruhe zu bewahren. Wie heiß die Sache war, wusste sie. Und auch wie gefährlich für ihre Karriere. Ihre wäre um Haaresbreite beendet gewesen, nachdem ihr hochgeschätzter Mark Rieger sich als Mörder herausgestellt hatte. Und ausgerechnet auf den musste sie zu sprechen kommen.
»Und wenn wir alle falsch liegen und es kein Mitschüler war? Zwar gibt es in der entsprechenden Klasse zwei Schüler, die durch aggressives Verhalten aufgefallen sind, einer hat einem Mitschüler vor zwei Jahren eine Füllerspitze ins Knie gestochen, aber deshalb sind die ja noch keine Mörder. Was mir nicht aus dem Kopf geht, ist die kleine Marlies Rieger.«
»Da sagen Sie was!« Spinners Fingerspitze schoss nach vorne. »Die Mutter der Kleinen springt im Dreieck! Sie ist der festen Überzeugung, es handele sich um den Racheakt von jemandem, der sich durch die Morde ihres Mannes auf den Schlips getreten fühlt. Das andere Kind sei sozusagen Fallobst, es ginge nur um ihre Tochter. Und wer ist schuld? Wer hat Rieger noch nicht gefasst? Wer ließ zu, dass irgendwer sich an der Familie Rieger rächte? Selbstverständlich die böse Polizei! Sie, Frau Kreidler! Und wird Gabi Rieger, vormals Gattin des Psychopathen, die nächste sein? Sie hat Angst, sie ist sauer und sie trauert. Das, liebe Frau Kreidler, ist eine brisante Mischung, die uns um die Ohren fliegen wird, wenn Ihnen und Ihren Leuten nicht bald was einfällt.«
Die Drohung war – Kaffee hin oder her – unüberhörbar!
»Vermutlich ist es wirklich das Beste, Sie lassen die Mitschülertheorie fallen und konzentrieren sich auf das Mädchen. Vielleicht lockt der Mord ja sogar den guten Dr. Rieger aus dem Versteck und wir schlagen zwei Fliegen mit einer Zeitung, platsch, hahaha!«
Spinner erhob sich schwer. Seine Stirn glänzte vor Fett und Schweiß. In seinem Blick standen Zorn und Mitleid gleichermaßen. Er musste nichts mehr sagen. Er nickte und verließ das Büro.
Elvira starrte auf die halbleere Kaffeetasse. Oder war sie halbvoll?
Unwichtig! Sie hatte ein echtes Problem.
Und fast ohne es zu wollen, beschloss sie eine Alternative. Sie suchte in ihrem Handy und fand die Nummer. Sie wählte und lächelte, als abgenommen wurde.
»Hallo, Herr Prenker. Ich brauche Sie.«