35
Franco buchte in einem kleinen Hotel in Charlottenburg ein Zimmer für sich und seinen Sohn. Er nannte einen falschen Namen. Oliver strahlte den Portier freundlich an. Niemand wollte seinen Ausweis sehen, obwohl dies nach neuester Rechtsprechung Pflicht war.
Sie bekamen ein hübsches Zimmer, in dem Oliver sich sofort wohlfühlte.
»Ich habe jetzt nicht viel Zeit«, sagte Franco. »Das Hotel hat ein freies W-LAN und ich gehe jetzt gleich online. Während ich das tue, störe mich bitte nicht. Du kannst dich aufs Bett legen und lesen oder fernsehen, wenn du die Kiste nicht zu laut machst.«
Er klappte den Laptop auf.
Oliver gehorchte und warf sich auf das breite Bett. An einem Kiosk hatte er sich die neueste Ausgabe einer Zeitung geholt, die sich mit dem Mittelalter beschäftigte. Bunte Bilder, jede Menge Text, genau richtig.
»Ich hab Hunger, Franco.«
»Wenn ich hiermit fertig bin, gehen wir was essen, okay?«
»Yep!« Oliver war zufrieden und hatte bisher nicht eine Sekunde an seine Eltern gedacht. Warum auch? Denen ging es gut, sie konnten sich jeden Tag sonnen, außerdem war er in zwei oder drei Tagen wieder bei ihnen und würde vermutlich eine Menge zu berichten haben.
Ein Fernsehkoch!
Das war unglaublich!
Er vertiefte sich in die Zeitschrift, während Franco konzentriert arbeitete.
Franco war zufrieden. Der Onlinezugang war flott und bald hatte er die Seiten gefunden, die er gesucht hatte. Der Zugang war kompliziert und es dauerte eine Weile, bis er die Berechtigungen erhielt. Endlich stieß er auf die einfach gestaltete Seite, von der niemand, der sie zufällig fand, ahnte, was sich dahinter verbarg.
Über einen Link, der sich hinter einem Wort befand, sauste Franco in das Mailprogramm und sah, dass einige Mitteilungen auf ihn warteten.
Es ging immer um dieselbe Frage:
Würde er das Kind mitbringen?
Sie würden sich jetzt darauf verlassen.
Ohne das Kind war die Sache nur die Hälfte wert.
Franco erfuhr das Passwort: Peppermint! Nun war er drin. Jetzt gab es kein Zurück!
Er hatte die Flamme entfacht und nun vertrauten wichtige Menschen darauf, dass sie auch weiterhin brannte.
Eine Stunde später saßen sie in einem Maredo. Oliver hatte sich ein 250-Gramm-Steak bestellt, Franco genügte das Salatbuffet. Der Junge aß mit Appetit. Mit vollem Mund fragte er: »Willst du mir nicht verraten, was morgen Abend geschieht?«
»Nichts anderes, als was ich dir gesagt habe, Junge.«
»Was wird der Fernsehkoch mit uns zubereiten?«
»Ich vermute, es wird sich um verschiedene Fleischgerichte handeln. Vielleicht auch Innereien. Magst du Innereien?«
Oliver verzog das Gesicht, erneut eine Mimik, die seltsam falsch wirkte, antrainiert. »Eigentlich nicht.«
»Aber du isst es?«
»Na klar.«
Er isst alles, denn er kennt weder Ekel noch Lust. Aber wie verträgt sich das mit seiner Sensibilität zu Speisen?
»Dazu Salat und ein spezielles Kartoffelgericht. Wir werden zehn Gäste haben, die sich bewirten lassen. Jeder dieser zehn Gäste ist sehr weit gereist, um an diesem Mahl teilzunehmen, zwei oder drei von ihnen um die Welt.«
»Wow, so berühmt ist der Koch?«
»Ja, das ist er. Auf seine Art ist er der berühmteste Koch der Welt!«
Olivers Augen funkelten für einen Sekundenbruchteil und erneut fragte sich Franco, ob der Junge nicht vielleicht doch über einen schwachen Schimmer von Empathie verfügte. Er freute sich, das war nicht zu übersehen.
»Weißt du was, Franco?«
Franco wartete.
»Ich finde es richtig toll, dass wir uns kennen gelernt haben.«
»Finde ich auch, Oliver.«
»Ich glaube, jetzt ist es an der Zeit, dass ich dir was erzähle, das außer meinen Eltern sonst niemand weiß.«
»Ein Geheimnis?« Er hatte es geahnt. Da gab es noch etwas, das Oliver ihm verschwiegen hatte, vielleicht der eine wichtige Punkt, um ganz in die Seele des Jungen einzutauchen. Als er noch Psychologe gewesen war, hätte er diesen Moment als Durchbruch gefeiert, als jenen Augenblick, die Übertragung, in der sich der Klient völlig öffnete und damit sein absolutes Vertrauen zeigte. Erst jetzt war eine heilende Zusammenarbeit wirklich möglich. Doch das schien so lange her. Kaum zu glauben, dass er noch vor einem Jahr ein angesehener Fachmann der Seele gewesen war. Dr. Mark Rieger, der für das LKA arbeitete. Die Rache einer jungen Frau hatte sein Leben zerstört und er war selbst zum Serienmörder geworden. Der Schaden, den seine Seele daran genommen hatte, war nicht mehr zu reparieren. Er würde ein Psychopath und Neurotiker bleiben, solange er lebte.
»Willst du es mir hier erzählen oder nicht lieber im Hotelzimmer.«
»Ich spreche leise, Franco. Ich find’s hier so toll. Im Zimmer ist es langweilig.«
»Okay, aber sprich bitte leise.«
»Yep!« Oliver schaufelte noch eine Portion Kroketten hinterher und leckte sich die Lippen, was nichts anderes bedeutete wie: Ich habe Durst.
Franco bestellte noch eine Cola und dann begann der Junge.
»Ich habe gemordet. Also richtig, verstehst du? Ich habe Menschen umgebracht.«
Ein heißer Schauder fuhr über Franco. Schweiß brach ihm aus und rollte ihm über den Rücken. Schock! Nervenglühen! Er hatte es geahnt, doch als der Junge es so leidenschaftslos aussprach, erschütterte es den Psychologen. Das war etwas anderes, als sich mit Uwe Caffé zu unterhalten. Hier ging es um ein Kind.
»Du guckst mich ganz schön erstaunt an«, sagte Oliver.
»Das erkennst du?«
»Anders, als du es sehen würdest. So, wie ein Blinder besser riechen und hören kann, verstehst du?«
Rational schon, emotional nicht wirklich. Dafür wirkten Olivers Sinneseindrücke zu abstrakt.
»Okay, du hast es also getan«, stellte Franco fest und neigte sich vornüber. »Erwachsene?«
»Kinder in meinem Alter«, gab Oliver zurück.
»Wissen es deine Eltern?«
»Ja, aber sie würden das nie jemandem sagen. Deshalb sind sie mit mir nach Gran Canaria gefahren, denn sie fürchten, ein Polizist sei hinter mir her. Einer, der den Mörder vom Schiller-Gymnasium jagt. Na ja, und damit der mich nicht kriegt, sind wir abgehauen.«
Ein Polizist? Er ist hinter Oliver her? Verdammt, führt er den Mann auf meine Spur oder ist das nur das Gequatsche eines Halbwüchsigen, der sich wichtig macht?
»Schiller-Gymnasium?«, stieß Franco hervor.
Oliver senkte den Blick. »Einer, der mich andauernd beklaut hat, ein anderer, der mich andauernd verarscht hat.«
»Und dafür mussten sie sterben?«
»Ich weiß, dass das falsch ist, aber was wir auf Gran Canaria gemacht haben, war dann auch falsch. Sogar noch falscher, denn die Katze und der Penner haben uns gar nix getan.«
»Stimmt«, sagte Franco und nippte an seinem Mineralwasser. Der Kellner ging vorbei, und als er sich entfernte, fragte er: »Du hast von zwei Kindern gesprochen.«
»Ja, eines davon war ein Unfall, Franco.«
»Ein ... Unfall?«
»Ein Mädchen. Es war aus der sechsten oder siebten Klasse. Es hat mich erwischt und wollte weglaufen. Wäre ihr das gelungen, hätte man mich gekriegt, also musste ich auch sie töten.«
»Musstest du auch sie töten«, echote Franco. In seinem Kopf überschlugen sich die Gedanken. Zuletzt hatte er sich so gefühlt, als Janine ihn aufforderte sie umzubringen und Will Prenker in das Blockhaus stürmte, die Waffe im Anschlag. Aber vielleicht handelte es sich auch um einen Zufall, einen gottverdammten Zufall, oder?
»Weißt du, wie das Mädchen hieß?«
»Nicht genau, aber es stand wohl in allen Zeitungen. Irgendwas mit Marion, Melanie, Marlies, weiß nicht so genau.«
»Marlies?« Franco hatte das Gefühl, sein Körper löse sich auf, seine Lippen würden zu Staub und seine Zähne taub.
»Bist du jetzt böse auf mich?«
»Zwei Schüler. Und du warst es also.« Mehr konnte Franco nicht sagen.
Eine Million Euro!
Oliver schwieg und trank von seiner Cola. »Ich möchte nicht, dass du böse auf mich bist. Was wir gemacht haben, war auch ...«
»Ich weiß es!«, donnerte Franco. Er konnte sich kaum noch beherrschen. Ohne es zu spüren, hatte er mit der flachen Hand auf den Tisch geschlagen. Köpfe drehten sich zu ihnen. Man starrte ihn an. Ein Vater, der mit seinem Sohn stritt?
Reiß dich zusammen, Mann!
Behalte deine Nerven!
Eine Million Euro!
Und dann der Spaß, wenn du diesen widerlichen kleinen Kerl in Stücke schneidest! Stück für Stück! Langsamer als jeden Mord, den du jemals begangen hast! Bei Gott, Oliver wird leiden. Er wird leiden ...
»Warum sollte ich dir böse sein?«, fragte Franco.
Wie soll ich die Nacht mit ihm in einem Zimmer verbringen, ohne ihn zu erwürgen?
»Ich hatte grad den Eindruck.«
»Ach was, Oliver. Ich war nur ... erstaunt über deine Fähigkeiten. Mit mir zusammen war das was anderes, denn ich leitete dich an. Ich hätte nie gedacht, dass du das schon alleine getan hast.«
»Du wirkst jetzt wie mein Vater. Der hat mich, als er es erfuhr, total verprügelt.«
Nicht mehr? Ich hätte dich in einen Kessel mit kochendem Wasser gesteckt, du verdammter Lump!
»Da siehst du, wie sehr das einen erschrecken kann.«
»Das tut mir leid. Ich will niemanden erschrecken. Ich bin doch nur ein Kind.«
Francos Kopf schnellte hoch. Er starrte Oliver an und es schüttelte ihn innerlich, als er begriff, dass der Junge es ehrlich meinte. Er hielt sich für ein Opfer seines Hirnschadens und sehnte sich nach Normalität.
»Deshalb werden wir morgen Abend unseren Spaß haben. Vielleicht bringt dich das auf andere Gedanken. Erwachsene sind der Meinung, dass man die Begabung eines jungen Menschen fördern sollte.«
»Ja, und deshalb sind wir ja auch hier.«
Er hat es vergessen! Für ihn ist die Beichte abgeschlossen. Er kümmert sich nicht mehr darum. Er denkt nur noch an morgen.
Franco alias Mark hatte sich für einen grausamen Menschen gehalten. Er hatte jeden Bereich einer Psychose durchlebt und war daran fast gestorben. Er hatte Schmerzen gelitten und gedacht, sein Verstand löse sich auf. Doch diese Kälte, diese Selbstverständlichkeit, die innere Ruhe, die der Junge ausstrahlte, war so schlimm wie vier Uwe Caffés zusammen, war schlimmer, als alles, was er jemals erlebt hatte. Er, Franco alias Mark, hatte gemordet, weil er keine Alternative gehabt hatte. Oliver hingegen war ein Killer, der lächelnd Leben nahm, ohne Alpträume zu bekommen. Er war ein Wesen, das nicht leben durfte. Eine Gefahr für jeden normalen Menschen, und wie sich diese Krankheit auswirkte, wenn Oliver erst erwachsen war, wussten nur die Götter der Dunkelheit. Gegen ihn wären John Wayne Gacy, der 33 Menschen tötete, der Son of Sam oder Jeffrey Dahmer Waisenknaben. Vielleicht war dieser liebenswerte Junge das größte Scheusal, das Gottes Wille je hervorgebracht hatte.
Und dieser Bengel hatte Marlies getötet. Einfach so.
Ein Unfall!
Ihr Unglück war gewesen, dass sie Zeugin einer Bluttat gewesen war. Also war Gabi sicher. Es handelte sich nicht um einen Racheakt. Wenigstens gab es dieses winzige Licht im großen dunklen Gang.
»Ich bin müde«, sagte Franco. »Der Flug war anstrengend. Ich möchte ins Bett.«
Ich möchte die Augen schließen, meinen brennenden Schädel beruhigen und ich hoffe, ich bringe diesen Kerl nicht um!
»Okay!« Oliver sprang geschmeidig auf. »Darf ich dann noch etwas lesen? Ich störe dich ganz bestimmt nicht.«
»Ich weiß«, antwortete Franco, in dem Hass, Zorn und Mordlust tobten. »Du störst mich nicht.«