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Das Taxi hielt in einer Seitenstraße. Der Fahrer starrte Franco und den Jungen an und sein Unterkiefer klappte herunter. Franco begriff diese Mimik sofort. Der Mann hatte ihn erkannt. Wieso? Franco hatte einen Bart, seine Sonnenbrille und die Baseballkappe. Es konnte sich also nur um den Jungen handeln, weshalb er identifiziert wurde. Also war etwas geschehen, das er nicht geplant hatte. Wusste die Polizei, dass er in Berlin weilte? Und falls ja, woher und warum?
Franco reichte dem Fahrer einen 100-Euro-Schein.
»Reicht das, um zu schweigen?«
»Ja«, nickte der Fahrer und sah Franco erstaunt an, als fürchte er, der bärtige Mann könne Gedanken lesen.
»Ich habe mir Ihre Fahrernummer gemerkt.«
»Ich weiß«, antwortete der Mann, ein deutscher Türke ohne Akzent. Zwei fette Schweißtropfen liefen über seine Stirn.
»Warum schwitzen Sie?«, wollte Franco wissen.
Erstaunt folgte Oliver dem seltsamen Gespräch.
»Ihr Foto war in den Nachrichten«, sagte der Taxifahrer. »Und das von dem Jungen.«
Was, um alles in der Welt, war geschehen? Warum war die Polizei ihnen beiden auf den Fersen? Unwichtig! Darum musste Franco sich später kümmern.
Der Taxifahrer war weder ein Narr noch ein Feigling. Dafür erlebten Berliner Taxifahrer zu viel. »Mich interessiert das nicht. Ihr Trinkgeld ist großzügig, außerdem kennen sie meine Fahrernummer. Sie würden mich überall aufspüren.«
»Das ist es.«
»Was glauben Sie, wen alles ich wohin fahre? Sie würden staunen. Würde ich ein loses Mundwerk haben, könnte ich mir eine goldene Nase verdienen. Mit den Paparazzi. Mit der Presse und nicht selten mit der Polizei. Oder ganz schnell auf der Müllhalde landen, wenn Sie verstehen.«
Franco begriff.
»Sie sind also diskret?«
»Immer! Angela Merkel könnte in meinem Taxi sitzen und sich in einen Swingerclub fahren lassen. Sie wäre völlig sicher.«
»Das freut mich«, sagte Franco.
»Sind wir da?«, fragte Oliver.
Franco nickte. »Du kannst aussteigen.«
Bevor er die Tür schloss, steckte er noch einmal den Kopf in den Mercedes. »Haben Sie Frau Merkel schon mal in einen Swingerclub gefahren, mein Freund?«
Der Taxifahrer grinste breit. Seine Schweißtropfen waren verschwunden. »Das wollen Sie nicht wissen.«
Dann brauste er davon und die Lichter wurden eins mit den Lichtern der Großstadt, über der die Sonne untergegangen war.
Franco sicherte nach allen Seiten. Er wurde das Gefühl nicht los, beobachtet zu werden. Was, wenn der Hotelier sie erkannt hatte? Wartete hier irgendwo ein Sondereinsatzkommando?
»In welchem Stadtteil sind wir?«, fragte Oliver, der während der Fahrt den Überblick verloren hatte.
»Das ist nicht wichtig.«
»Wir sind von Charlottenburg lange gefahren. Aber in Berlin sind wir noch oder schon im Osten?«
Franco lachte. »Im Osten? Wie redest du denn, mein Junge? Wir sind ein einiges Deutschland.«
»Mein Vater sprach trotzdem immer über den Osten.«
Franco verzog das Gesicht. »Na ja – so ganz unrecht hat er damit auch nicht.«
Die Straße, in der sie standen, wirkte einsam und verlassen. Alter Kopfstein, düstere Fassaden. Nicht weit entfernt ein klobiges Gebäude, das wie ein Werksgebäude wirkte.
Franco ging voran, Oliver folgte ihm. Ein merkwürdiger Ort für einen Kochkurs.
Andererseits schienen diese Fernsehköche merkwürdige Gesellen zu sein. Schon ihre äußere Erscheinung wies auf eine milde Form des Wahnsinns hin und wenn es das nicht war, meinte Oliver dies an ihrer Art und Weise festzustellen, wie sie sich präsentierten. Laut. Extrovertiert, wie Erwachsene es nannten. Dieser Tim Mälzer zum Beispiel wirkte manchmal wie ein Rumpelstilzchen, der einen Zaubertrank bereitete. Oder Steffen Henssler, der die Topfgeldjäger moderierte, ein hyperaktiver Playboy. Horst Lichter mit seinem seltsamen Bart und den schrägen Scherzen oder Johann Lafer, der sich noch größere Zähne hatte machen lassen als Stefan Raab und einen Privathubschrauber flog. Und der Oberwahnsinnige war der Brite Gordon Ramsey, der wie ein explosiver, grausamer GI in Küchen einfiel oder ebenso sein »Hell’s Kitchen« in Las Vegas leitete.
Sie alle waren Stars.
Warum also sollten sie ihren Kochkurs nicht an einem Ort wie diesem veranstalten? Stars waren komische Leute.
Franco und Oliver näherten sich dem düsteren Gebäude. Es fing an zu regnen. Oliver achtete nicht darauf. Sein Herz pochte. Gleich würde er etwas Wunderbares erleben, und zu verdanken hatte er das Franco, seinem neuen Freund.
Den befremdlichen Dialog im Taxi versuchte Oliver zu verdrängen. Franco wusste, was er tat. Der Regen wurde stärker und sie liefen jetzt schneller, um nicht nass zu werden. Franco hastete über einen Hof, um einen Gitterzaun herum, dann zu einer Treppe, die in einen Keller zu führen schien. Sie hatten die oberste Stufe noch nicht betreten, als sich ein Mann aus der Dunkelheit schälte.
»Passwort?« Seine Stimme war dunkel und breit wie seine Schultern.
»Peppermint«, sagte Franco.
»Willkommen, Doktor«, sagte der Mann und trat zur Seite.
Franco hielt inne. »Sind die Gäste schon da?«
»Ja, alle, Herr Doktor.«
»Sehr gut. Auch Herr Burgmester?«
»Er bereitet sich vor.«
Olivers Herz machte einen Hüpfer. Hatte er das richtig verstanden? Burgmester? Vincent Burgmester?
Eine Stahltür öffnete sich und Oliver stolperte hinter Franco in einen schmalen Gang, der sich lang vor ihnen erstreckte und von kaltem Licht beleuchtet wurde.
»Immer geradeaus, Herr Doktor. Sie werden es finden«, sagte der bullige Mann.
Franco bedankte sich, dann schlug die Tür hinter ihnen zu. Es war kühl und roch nach Feuchtigkeit. Mit einem geschmackvoll eingerichteten hellen Fernsehstudio oder einer chromblitzenden Küche hatte das nichts zu tun. Oliver beschloss, vorerst noch zu schweigen und trottete hinter Franco her.
Vincent Burgmester!
Burgmester besaß 4 Michelin-Sterne und gehörte zu den berühmtesten Köchen des Landes. Sein Restaurant »Die Möhre« war für die nächsten zwei Jahre ausgebucht und es gab kein Menü unter 170 Euro. Bei 100 Plätzen täglich war das eine lukrative Einnahmequelle. Doch noch mehr verdiente Burgmester mit seinen Fernsehauftritten, die in Großveranstaltungen gipfelten. Erst kürzlich hatte er vor 8.000 Menschen in der Lanxess-Arena gekocht, ein einzelner Mann auf der Bühne und auf einer großen Leinwand, der eine so große Menschenmenge begeisterte, indem er ein Menü kochte, das jedermann aus einem seiner vielen Bücher nachkochen konnte. Man munkelte, an so einem Abend verdiene er um die 300.000 Euro. Nur deshalb, weil er tat, was er jeden Tag machte. Es war wundervoll!
Burgmester war einer seiner absoluten Helden, abgesehen von Horst Lichter, der nicht einen Stern hatte, zu keiner prominenten Kochgesellschaft eingeladen wurde und sich dennoch durchgesetzt hatte. Außerdem war der Mann schon zweimal klinisch tot gewesen und hatte es trotzdem geschafft, seinem Leben einen Sinn zu geben. Wow! Als Koch war Lichter ein Nichts, im Fernsehen ein Star, als Mensch jemand, der den Erfolg verdient hatte.
Sie kamen an eine weitere Metalltür.
Franco zog sie auf und Licht blendete Oliver.
Sie traten ein, sofort wurde es warm und es duftete nach Fett und Gewürzen.
Oliver blinzelte und versuchte, sich zu orientieren. Dann sah er es.
Ein großer Raum, eine wunderbar eingerichtete Küche, viel zu groß für nur einen Abend, Töpfe, Pfannen, Behältnisse, Öfen mit und ohne Gas, Schnellspülmaschinen, schon vorbereitete Salate und ... Vincent Burgmester.