14

 

»Nein«, stammelte Stefan. »Das stimmt nicht. Du willst uns nur erschrecken, sag’s doch ...«

»Doch, Papa, ich war’s.«

»Und das ... und das spuckst du mir einfach so ins Gesicht?«

»Du hast gesagt ...«

»Verdammte Scheiße! Gesagt? Ich habe gesagt?« Stefan sprang auf, rannte durch die Küche und schlug mit den Handflächen auf die Arbeitsplatte. »Was habe ich gesagt?«

Daniela kam zurück in die Küche. Sie hatte die letzten Worte gehört und das Tablett mit dem selbstgebackenen Pflaumenkuchen, den sie soeben ins Wohnzimmer bringen wollte, fiel auf den Boden, wo es zerschellte. Der Kuchen sprang in tausend Teile und Krümel verschmutzten die Fliesen. Ihre Arme hingen tot an ihr hinab, während sie stammelte: »Du hast deine Mitschüler ...?« Sie schnappte nach Luft und brachte kein weiteres Wort heraus.

Oliver stand vor dem Ofen, den Kochlöffel, mit dem er die Sauce umgerührt hatte, in der Hand. Braune Flüssigkeit tropfte zu Boden.

»Leg dieses verdammte Scheißding weg!«, brüllte Stefan, sprang vor und riss seinem Sohn den Löffel aus der Hand, den er in die Spüle donnerte.

Oliver blickte seine Eltern an. Sein Gesicht war regungslos und bleich. Eine Haarsträhne fiel über das rechte Auge. Er war auf gewisse Weise erschüttert. So viele Schimpfworte aus Papas Mund? Das kannte er nicht.

»Du hast gesagt, du willst für mich da sein, Papa.« Still, ruhig, tonlos.

»Ach ja?«, zischte Stefan.

Danielas ganzer Körper bebte. »Das ist ein Alptraum. Das ist ein Alptraum!«

»Für einen Mörder soll ich da sein? Für einen gottlosen Mörder?«

»Leise, Stefan. Nicht so laut, wenn die Nachbarn ...«, stotterte Daniela.

»Halt die Klappe!«, fuhr er sie an.

»Nein, tue ich nicht. Du willst doch immer der Klügere von uns beiden sein. Und kommst mit sowas. Willst deinem Sohn helfen. Oder hast du das? Hast du gemeinsam mit ihm die Kinder ...-»

»PAPA! MAMA!«, schrie Oliver.

»Ruhe! Ruhe!«, schrie Daniela zurück und drückte ihre Hände auf die Ohren.

»Hört auf zu streiten!«, rief Oliver.

»Wegen dir, mein lieber Sohn, wegen dir passiert das alles!«, fuhr Stefan aus der Haut. »Nur wegen dir. Du zerstörst alles. Du zerstörst dich, unser Leben, einfach alles. Man sollte dich wegsperren. In die Klapse, für alle Zeiten. Einfach nur weg. Ich will dich nicht mehr sehen. Ich will dich nicht mehr sehen. Verschwinde aus meinen Augen!«

Oliver ging, Stefan machte zwei große Schritte und riss ihn am Arm zurück. »Du haust wirklich ab?«

»Aber ...«

»Aber? Was aber? Du bleibst hier, verdammt!«

»Ruhe ... Ruhe ...«, wimmerte Daniela.

»Du gehst? Du lässt Mama und mich alleine? Du tust, als sei nichts geschehen? Das würde dir so gefallen, was? In dein Zimmer gehen und deinen Dreck lesen von wegen Läusen und so und so tun, als wäre alles in Ordnung?« Er schlug Oliver mit dem Handrücken ins Gesicht.

Der Junge taumelte und hielt sich am Stuhl fest. Seine Augen glühten hellblau. »Na, willst du mich wieder mit dem Gürtel verprügeln? So, wie dein Vater dich verprügelt hat?«

Stefan erstarrte. Schweiß lief über seine Stirn. Nach einer unendlich wirkenden Pause knurrte er: »Du kleines Mistding hängst andauernd mit deinen Ohren an der Wand und lauschst, oder? Woher weißt du das? Woher weißt du alles, was uns angeht?«

Oliver verzog das Gesicht und kniff die Lippen aufeinander. »Niemand verdächtigt mich.«

»Und damit ist die Sache vorbei, glaubst du? Himmel noch mal, bist du wirklich so verklebt in deinem Schädel, dass du dir nicht vorstellen kannst, was alles geschehen kann? Und wir, wir sind Mitwisser! Wir müssten dich der Polizei melden.«

»Die armen Kinder. Umgebracht von ihrem eigenen Mitschüler«, jammerte Daniela.

»Hör endlich auf zu heulen, Daniela!«, schnappte Stefan. »Der da ist unser Problem.« Er wies mit dem Zeigefinger am ausgestreckten Arm auf Oliver. »Dieses kranke Wesen ist unser verschissenes Problem. Dafür haben wir alles versucht, um ein Kind zu kriegen. Das haben wir uns erträumt. Die Eltern eines Killers zu sein. Und nun? Was tun wir jetzt? Soll ich ihm wehtun? Richtig wehtun?«

Oliver zog die Brauen zusammen.

»Ja, starr mich ruhig an. Oder wirst du dich dann an deinem Vater rächen? Bin ich dann dein nächstes Opfer, wenn ich dir den Arsch versohle? Schneidest du mir die Kehle durch, wenn ich neben deiner Mutter schlafe? Oder vielleicht uns beiden? Muss ich demnächst die Schlafzimmertür abschließen?« Stefan spritzte weißer Speichel aus dem Mund. »Brauche ich eine Alarmanlage auf dem Klo, um ohne Angst duschen zu können, oder wirst du mir einen Fön in die Badewanne werfen? Na? Sag schon. Was hast du mit uns vor?«

»Ich würde euch nie was tun, Papa«, sagte Oliver mit schwacher Stimme.

Daniela ging und kam mit einem Besen wieder.

»Lass den Dreck liegen«, herrschte Stefan sie an, doch sie fegte unbeirrt, während sie weinte.

»Verschwinde!«, befahl Stefan. »In dein Zimmer. Dort bleibst du. Verschwinde endlich. VERSCHWINDE!« Oliver flitzte hinaus und Stefan konnte nicht aufhören. Immerzu brüllte er mit sich überschlagender Stimme: »VERSCHWINDE! VERSCHWINDE! VERSCHWINDE AUS MEINEM LEBEN!«

 

 

Daniela und Stefan begriffen, welche Macht Oliver über sie ausübte. Er war ein Monster und sie waren ihm ausgeliefert, es sei denn, sie begriffen endlich, dass dies nicht der Sohn war, den sie sich gewünscht hatten. Doch das bedeutete, ihren Schwur zu brechen, den sie sich gegeben hatten, als alles hell und licht gewesen war. Stets für ihren Sohn da zu sein. Ihn zu beschützen. Wie sehr hatten sie sich ein Kind gewünscht, wie nervig waren die Umstände gewesen, überhaupt schwanger zu werden. Und was hatte sie geboren?

Einen Unhold!

Konnten sie darauf stolz sein? Wollten sie das überhaupt?

Ihre Gedanken waren ihnen selbst fremd, doch sie wollten nicht die Kumpane eines Mörders sein.

Oliver gehörte weggesperrt.

Und wohin führte das?

Sie würden kein Kind mehr haben, es nie mehr haben, sie beide wären kinderlos, denn der Junge bliebe jahrelang eingesperrt.

Verzweifelt.

Versager!

Die Zukunft wäre so dunkel ohne Oliver, wäre ohne Kontur.

 

 

 

Später, als sie sich beruhigt hatten, brachte Stefan es auf den Punkt.

»Es gibt nur zwei Möglichkeiten. Entweder wir bleiben bei unserem Sohn und helfen ihm oder wir verlieren ihn für immer.«

»Er ist ein Mörder«, sagte Daniela.

»Das ist grausig und schrecklich, aber wenn wir ihn einliefern, verkommt er in der Psychiatrie oder man findet ihn eines Tages tot und will uns weismachen, er habe Selbstmord begangen.«

»Aber er ist ...«

»Willst du das wirklich?«

»Ich weiß es nicht«, sagte sie. »Ich weiß nicht mehr, was eine Mutter einem Kind bieten soll. Ich weiß einfach nicht mehr, wie weit man als Mutter gehen darf. Lieber Gott, er hat harmlose Kinder getötet. Niemand kommt auf den Gedanken, dass es unser Sohn sein könnte, aber wir wissen es. Ganz Berlin sucht nach dem Mörder. Wir wissen, dass dieser hübsche, liebe Junge ein Mörder ist. Oh, Stefan. Was sollen wir nur tun?«

Stefan wirkte wie erschlagen.

Sie sagte: »Und früher oder später wird die Polizei sich eins und eins zusammenreimen. Sie werden Oliver verhören. Das sind Profis. Die erkennen sofort, wenn einer lügt. Und wir werden als Mitwisser angeklagt. Dann verschwinden auch wir hinter Gittern. Ich wundere mich, dass es noch nicht an der Tür geklingelt hat.«

Stefan presste die Lippen zusammen. Er sah bleich aus und hatte dunkle Ringe unter den Augen.

Sie sagte: »Er schläft oben, als sei nichts geschehen. Wenn ich mit ihm spreche, ist er lieb, freundlich und zuvorkommend. Er ist ein wunderbares Kind, so, wie ich es mir immer gewünscht habe. Und doch ...«

»Ich werde mit ihm reden. Ich will versuchen, ihn zu begreifen. Vielleicht gelingt es mir, ihn vor sich selbst zu schützen.”

»Und wenn nicht? Bisher waren deine Bemühungen vergebens.«

»Dann war alles umsonst.« Stefan blickte zu Boden und wirkte wie ein kleiner alter Mann.

»Unser  schönes Leben ist zum Teufel«, sagte Daniela.

»Ja, das ist es«, antwortete Stefan. Dann fügte er, fast verschwörerisch, hinzu: »Aber das wissen nur du und ich ...«

»Ich habe Angst«, sagte Daniela.

Stefan nahm sie fest in den Arm. »Ich auch.«

Ich bin kein Mörder: Thriller
titlepage.xhtml
part0000_split_000.html
part0000_split_001.html
part0000_split_002.html
part0000_split_003.html
part0000_split_004.html
part0000_split_005.html
part0000_split_006.html
part0000_split_007.html
part0000_split_008.html
part0000_split_009.html
part0000_split_010.html
part0000_split_011.html
part0000_split_012.html
part0000_split_013.html
part0000_split_014.html
part0000_split_015.html
part0000_split_016.html
part0000_split_017.html
part0000_split_018.html
part0000_split_019.html
part0000_split_020.html
part0000_split_021.html
part0000_split_022.html
part0000_split_023.html
part0000_split_024.html
part0000_split_025.html
part0000_split_026.html
part0000_split_027.html
part0000_split_028.html
part0000_split_029.html
part0000_split_030.html
part0000_split_031.html
part0000_split_032.html
part0000_split_033.html
part0000_split_034.html
part0000_split_035.html
part0000_split_036.html
part0000_split_037.html
part0000_split_038.html
part0000_split_039.html
part0000_split_040.html
part0000_split_041.html
part0000_split_042.html
part0000_split_043.html
part0000_split_044.html
part0000_split_045.html
part0000_split_046.html
part0000_split_047.html
part0000_split_048.html
part0000_split_049.html
part0000_split_050.html
part0000_split_051.html
part0000_split_052.html
part0000_split_053.html
part0000_split_054.html
part0000_split_055.html
part0000_split_056.html
part0000_split_057.html
part0000_split_058.html
part0000_split_059.html
part0000_split_060.html