Heiligabend, 19.30 Uhr
Hier sitze ich also.
Auf meiner Veranda. Vor drei Tagen hat jemand auf einen Priester im
Lebensmittelladen an der Ecke geschossen. Ich warte darauf, dass
mein Leben wieder beginnt.
Mein verrückter Vermieter Stanis hat mich tatsächlich für morgen
zum Essen eingeladen, aber ich habe abgelehnt, habe gesagt, ich
hätte schon etwas vor.
Vielleicht gehe ich zu Richie und Sherilynn. Oder zu Devin. Er hat
mich zusammen mit Oscar eingeladen, ein JunggesellenWeihnachten zu
feiern. Truthahn aus der Mikrowelle und Jack Daniels in rauhen
Mengen. Hört sich verlockend an, aber… Ich war früher auch schon
Weihnachten allein. Des öfteren. Aber so war es noch nie. So habe
ich mich noch nie gefühlt, so vollkommen allein, so
verzweifelt.
„Man kann mehrere Menschen gleichzeitig lieben“, hatte Phil gesagt.
„Menschen sind chaotisch.“
Ich auf jeden Fall.
Wie ich hier auf der Veranda saß, liebte ich Angie, Grace, Mae,
Phil, Kara Rider, Jason und Diandra Warren, Danielle und Campbell
Rawson. Ich liebte sie alle und vermisste sie.
Und fühlte mich nur noch einsamer.
Phil war tot. Das wusste ich, hatte es aber immer noch nicht ganz
akzeptiert. Voller Verzweiflung wünschte ich mir, er sei noch am
Leben.
Ich sah uns als Kinder zu Hause aus dem Fenster klettern und
draußen treffen, erleichtert über die gelungene Flucht lachend
zusammen die Strasse hinunterlaufen und durch die düstere Nacht zu
Angies Fenster rennen, wo wir klopften und sie nach draußen zu uns
zwei Desperados holten.
Dann zogen wir drei los, verloren in der Nacht.
Ich weiß nicht mehr, was wir bei unseren mitternächtlichen
Ausflügen machten, worüber wir redeten, wenn wir uns durch den
dunklen Zementdschungel kämpften.
Ich weiß nur, dass wir glücklich waren.
Du fehlst mir, hatte sie geschrieben.
Du fehlst mir auch.
Du fehlst mir mehr als die zerschnittenen Nerven in meiner Hand.
„Hü“ sagte sie.
Ich hatte im Stuhl auf der Veranda gedöst und öffnete die Augen.
Die ersten Schneeflocken dieses Winters. Ich schüttelte den Kopf
darüber, ihre Stimme klang so furchtbar süß und lebendig, dass ich
einen Moment lang wie ein Narr bereit war zu glauben, es sei kein
Traum gewesen.
„Ist dir nicht kalt?“ fragte sie.
Jetzt war ich wach. Die letzten Worte gehörten nicht zu meinem
Traum.
Ich drehte mich um, und sie trat vorsichtig auf die Veranda, als
sorge sie sich, sie könne die sanft fallenden jungfräulichen
Schneeflocken auf dem Holz stören.
„Hü“ grüsste ich sie.
„Hü“
Ich erhob mich, und sie blieb zwei Meter vor mir stehen. „Ich
musste unbedingt zurückkommen“, erklärte sie.
„Ich freue mich.“
Der Schnee lag auf ihrem Haar und glitzerte kurz, bevor er schmolz.
Zögernd trat sie noch einen Schritt vor, und ich kam ihr ebenfalls
entgegen, und dann hielt ich sie in den Armen, während der Schnee
auf uns fiel.
Es war richtig Winter geworden.
„Du hast mir gefehlt“, sagte sie und drückte sich an mich. „Du mir
auch“, erwiderte ich.
Sie küsste mich auf die Wange, fuhr mir mit der Hand durchs Haar
und blickte mir lange in die Augen, während sich auf ihren Wimpern
Schneeflocken sammelten.
Dann senkte sie den Kopf. „Und er fehlt mir auch. Ganz furchtbar.“
„Mir auch.“
Als sie den Kopf wieder hob, war ihr Gesicht nass. Ich wusste
nicht, ob das nur der geschmolzene Schnee war.
„Schon was vor für Weihnachten?“ erkundigte sie sich.
„Schlag was vor!“
Sie rieb sich das linke Auge. „Ich würde irgendwie ganz gerne was
mit dir machen, Patrick. Ist das in Ordnung?“
„Das ist das Beste, was ich in diesem Jahr gehört habe, Ange.“ In
der Küche machten wir uns eine heiße Schokolade und starrten uns
über die Ränder unserer Tassen hinweg an, während das Radio im
Wohnzimmer die neuesten Wetternachrichten brachte. Der
Nachrichtensprecher erzählte, der Schnee sei Teil des ersten großen
Sturmtiefs, das diesen Winter Massachusetts erreicht habe. Wenn wir
morgen früh aufwachten, versprach er uns, seien dreißig bis vierzig
Zentimeter Neuschnee gefallen.
„Echter Schnee!“ staunte Angie. „Wer hätte das gedacht?“ „Wird
langsam Zeit!“
Der Wetterbericht war vorbei, jetzt kamen die neuesten
Nachrichten über den Zustand von Reverend Edward Bre, wer. „Was
glaubst du, wie lange kann er durchhalten?“ fragte Angie. Ich
zuckte mit den Schultern. „Ich weiß es nicht.“
Wir nippten an der Schokolade, während der Nachrichtensprecher von
der Forderung des Bürgermeisters nach strengeren Waffengesetzen und
der des Gouverneurs nach strengerer Handhabung von
Unterlassungsverfügungen berichtete. Damit nicht noch einmal ein
Eddie Brewer zur falschen Zeit in den falschen Lebensmittelladen
gehen würde. Damit eine andere Laura Stiles mit ihrem gewalttätigen
Freund Schluss machen könnte, ohne Angst um ihr Leben haben zu
müssen. Damit die James Faheys dieser Welt aufhörten, uns Angst
einzuflössen.
Damit unsere Stadt eines Tages so sicher wie das Paradies vor dem
Sündenfall sein würde, Schmerzliches und Zufälliges unser Leben
nicht mehr berühren konnte.
„Lass uns ins Wohnzimmer gehen“, schlug Angie vor, „und das Radio
ausmachen!“
Sie streckte die Hand aus, und ich ergriff sie in der Dunkelheit
der Küche, während der Schnee weiße Muster auf die Fenster malte.
Dann folgte ich ihr durch den Flur ins Wohnzimmer.
Eddie Brewers Zustand war unverändert. Er lag noch immer im
Koma.
Die Stadt warte, sagte der Nachrichtensprecher. Die Stadt,
versicherte er uns, halte den Atem an.