5

Abgesehen von der einen Lampe in der Küche, wo wir saßen, lag Diandra Warrens Loft vollkommen im Dunkeln; die Möbelstücke warfen riesige Schatten in den leeren Raum. Das Licht aus den benachbarten Gebäuden beleuchtete Diandras Fensterscheiben, drang jedoch kaum nach innen. Auf der anderen Seite des Hafens malten die Lichter von Charlestown ein gelbweißes Karomuster in den schwarzen Himmel.
Die Nacht war relativ warm, doch von Diandras Wohnung aus betrachtet wirkte sie kalt.
Diandra stellte die zweite Flasche Bier auf den massiven Holztisch vor mir. Dann setzte sie sich und hantierte nervös mit ihrem Weinglas herum.
„Du sagst, du glaubst diesen Mafiosi?“ fragte Eric.
Ich nickte. Gerade hatte ich ihnen eine Viertelstunde lang von meinem Treffen mit Fat Freddy erzählt, wobei ich lediglich Angies Verbindung zu Vincent Patriso ausgelassen hatte.
Ich fragte: „Warum sollten sie lügen?“
„Das sind Verbrecher!“ Eric sah mich mit aufgerissenen Augen an. „Lügen ist denen wie angeboren.“
Ich nippte an meinem Bier. „Das stimmt. Aber Verbrecher lügen normalerweise aus Angst oder um einer Sache Nachdruck zu verleihen.“
„Ja, aber…“
„Und diese Typen, das könnt ihr mir glauben, haben keinen Grund, vor mir Angst zu haben. Für die bin ich ein Nichts. Wenn Sie, Dr. Warren, von ihnen wirklich bedroht würden, und ich würde mich in Ihrem Namen mit denen treffen, dann hätten die zu mir gesagt: Ja, und? Wir schüchtern sie ein. Und jetzt kümmere dich um deinen eigenen Kram, sonst bringen wir dich um. Schluss, Ende, aus.“ „Aber das haben sie nicht gesagt.“ Sie nickte vor sich hin. „Nein. Und wenn man dann noch bedenkt, dass Kevin einfach nicht der Typ für eine feste Freundin ist, wird es noch unwahrscheinlicher.“
„Aber…“, begann Eric wieder.
Ich hob die Hand und blickte Diandra an. „Das hätte ich schon bei unserem ersten Treffen fragen sollen, aber ich bin nie auf die Idee gekommen, dass es auch ein Scherz gewesen sein könnte. Der Kerl, der unter dem Namen Kevin bei Ihnen anrief, hatte der irgendwie eine komische Stimme?“
„Komisch? Wieso?“
Ich schüttelte den Kopf. „Denken Sie mal nach!“
„Die Stimme war tief und rauh, glaube ich.“
„Sonst nichts?“
Sie nippte an ihrem Wein und nickte dann. „Nein.“
„Dann war es nicht Kevin.“
„Woher…?“
„Kevin hat eine kaputte Stimme, Dr. Warren. Schon seit seiner Kindheit. Sie hört sich an, als würde sie ständig brechen, wie ein Pubertierender im Stimmbruch.“
„So eine Stimme war das nicht am Telefon.“
„Nein.“
Eric rieb sich das Gesicht. „Also: Wenn Kevin nicht angerufen hat, wer dann?“
„Und warum?“ fragte Diandra.
Ich sah die beiden an und hob die Hände. „Ehrlich, ich habe keine Ahnung. Haben Sie irgendwelche Feinde?“
Diandra schüttelte den Kopf.
„Was nennst du Feinde?“ fragte Eric.
„Feinde“, sagte ich, „sind Menschen, die um vier Uhr nachts anrufen und Drohungen ausstoßen oder dir Fotos von deinem Kind ohne irgendeine Erklärung schicken oder dir schlicht und einfach den Tod wünschen. Feinde Mialt.“
Er dachte einen Augenblick darüber nach und schüttelte dann den Kopf.
„Bist du sicher?“
Er verzog das Gesicht. „Ich habe berufliche Konkurrenten, würde ich sagen, und Kritiker, Menschen, die nicht meiner Meinung sind…“
„In welcher Hinsicht?“
Er lächelte ein wenig trübselig. „Patrick, du warst doch in meinen Kursen. Du weißt, dass ich mit vielen Experten auf dem Gebiet nicht übereinstimme und dass andere Leute meine Kritik kritisieren. Aber ich bezweifle, dass diese Menschen mir körperlichen Schaden zufügen möchten. Außerdem: Würden meine Feinde nicht mich verfolgen, anstatt Diandra und ihren Sohn?“
Diandra zuckte zusammen und blickte zu Boden.
Ich zuckte mit den Achseln. „Wahrscheinlich. Weiß man aber nie so genau.“ Ich sah Diandra an. „Sie haben erzählt, dass Sie sich schon vor Patienten gefürchtet haben. Ist in letzter Zeit jemand aus der Haft oder aus einer geschlossenen Anstalt entlassen worden, der einen Groll gegen Sie hegen könnte?“
„Dann hätte man mich benachrichtigt.“ Sie schaute mir in die Augen. In ihrem Blick lagen Unsicherheit und Angst, eine tiefsitzende, alles umfassende Angst.
„Haben Sie momentan irgendeinen Patienten, der ein Motiv und die nötigen Voraussetzungen für so etwas besäße?“
Sie dachte eine gute Minute lang darüber nach, schüttelte aber den Kopf. „Nein.“
„Ich muss mit Ihrem Exmann sprechen.“
„Mit Stan? Warum? Dafür sehe ich keinen Grund.“
„Ich muss jede mögliche Verbindung zu ihm ausschließen. Tut mir leid, wenn Sie das stört, aber es wäre dumm von mir, wenn ich’s nicht täte.“
„Ich bin nicht begriffsstutzig, Mr. Kenzie, aber ich kann Ihnen versichern, dass Stan schon seit mindestens zwanzig Jahren keinerlei Verbindung mehr zu mir hat.“
„Ich muss alles über die Menschen wissen, mit denen Sie zu tun haben, Dr. Warren, besonders die, mit denen Sie eine Beziehung haben, die über den alltäglichen Umgang hinausgeht. „
„Patrick“, mahnte Eric, „komm! Was ist mit der Privatsphäre?“ Ich seufzte. „Ich scheiß auf die Privatsphäre.“
„Wie bitte?“
„Du hast mich schon verstanden, Eric!“ erwiderte ich. „Ich scheiß drauf. Auf die von Dr. Warren und auf deine, tut mir leid. Du hast mich hier reingezogen, Eric, und du weißt, wie ich arbeite.“ Er blinzelte.
„Mir gefällt es nicht, wie sich diese Sache entwickelt.“ Ich blickte aus der Wohnung in die Dunkelheit draußen, auf den eisigen Glanz auf den Fensterscheiben. „Es gefällt mir nicht, und ich versuche gerade, mir einige Einzelheiten zusammenzureimen, damit ich meinen Job tun und Dr. Warren und ihren Sohn beschützen kann. Um das zu können, muss ich alles über euch beide wissen. Über beide. Und
wenn mir der Zugang dazu verweigert wird“ – ich sah Diandra an –, „dann gibt es hier nichts mehr für mich zu tun.“
Diandra betrachtete mich ruhig.
Eric fragte: „Und du würdest eine Frau in der Not sitzen lassen? Einfach so?“
Ich ließ Diandra nicht aus den Augen. „Einfach so.“
„Sind Sie immer so gefühllos?“ fragte sie.
Nur einen Sekundenbruchteil lang hatte ich das Bild einer Frau vor Augen, die auf den harten Betonboden fällt, ihr Körper durchlöchert, mein Gesicht und meine Klamotten mit ihrem Blut getränkt. Jenna Angeline – sie war tot, bevor sie an jenem Sommermorgen auf dem Boden aufschlug, und ich war nur einen Zentimeter von ihr entfernt. Ich antwortete: „Jemand ist in meinen Armen gestorben, weil ich eine Sekunde zu spät kam. Ich möchte nicht, dass das noch mal passiert.“
An ihrem Hals war ein schwaches Zittern zu sehen. Sie hob die Hand und rieb sich die Stelle. „Also sind Sie der Meinung, dass ich mich in großer Gefahr befinde.“
Ich schüttelte den Kopf. „Ich weiß es nicht. Aber Sie wurden bedroht. Sie haben dieses Foto erhalten. Irgendjemand gibt sich größte Mühe, Ihnen das Leben schwer zu machen, und ich möchte gerne wissen, wer das ist, und dafür sorgen, dass er damit aufhört. Darum haben Sie mich engagiert. Können Sie Timpson für mich anrufen und einen Termin für morgen vereinbaren?“
Sie zuckte mit den Schultern. „Ich denke schon.“
„Gut. Ich brauche eine Beschreibung von Moira Kenzie – alles, woran Sie sich erinnern können, egal wie unbedeutend.“ Während Diandra die Augen schloss, um sich Moira
Kenzie in Erinnerung zu rufen, schlug ich mein Notizbuch auf, zog die Kappe von meinem Füller und wartete.
„Sie trug Jeans und ein rotes Flanellhemd, darunter ein schwarzes T-Shirt.“ Diandra öffnete die Augen. „Sie war sehr hübsch, hatte langes, dunkelblondes Haar, ein bisschen strähnig, und sie rauchte Kette. Sie wirkte vollkommen verängstigt.“
„Größe?“
„Ungefähr eins sechzig.“
„Gewicht?“
„Ich würde sagen, um die fünfzig Kilo.“
„Welche Marke hat sie geraucht?“
Wieder schloss Diandra die Augen. „Es waren lange mit weißem Filter. Die Packung war Gold. >Deluxe< irgendwas oder so.“ „Benson und Hedges Deluxe Ultra Lights?“
Sie schlug die Augen auf. „Genau.“
Ich zuckte mit den Achseln. „Die raucht meine Kollegin immer, wenn sie wieder versucht aufzuhören. Augenfarbe?“
„Grün.“
„Irgendwelche Vermutungen bezüglich der Volkszugehörigkeit?“ Sie nippte an ihrem Wein. „Wohl nordeuropäisch vor ein paar Generationen, vielleicht auch gemischt. Sie könnte irischer, englischer, auch slawischer Abstammung sein. Ihre Haut war ziemlich blass.“ „Sonst noch etwas? Was sagte sie noch gleich, woher sie komme?“ „Belmont“, antwortete sie und guckte dabei leicht irritiert. „Scheint Ihnen das aus irgendeinem Grund nicht einleuchtend zu sein?“
„Nun ja… wenn jemand aus Belmont kommt, dann geht er normalerweise auf eine bessere Schule und so weiter.“
„Stimmt.“
„Und was die Leute als erstes ablegen, wenn sie ihn je besessen haben, ist der Bostoner Akzent. Vielleicht kann man ihn noch so gerade hören…“ \
„Aber nicht so breit wie in >Wenn du zu meiner Paaty kommst, vagiss das Bia nich<, oder?“
„Genau.“
„Aber Moira hatte diesen Akzent?“
Diandra nickte. „Damals fiel mir das nicht auf, aber jetzt, ja, kommt es mir schon etwas komisch vor. Das war kein Akzent aus Belmont, das war Revere oder East Boston oder…“ Sie blickte mich an. „Oder Dorchester“, ergänzte ich.
„Ja.“
„Ein Akzent aus meiner Gegend.“ Ich schloss das Notizbuch. „Ja. Wie gehen Sie jetzt weiter vor, Mr. Kenzie?“
„Ich werde Jason überwachen. Er wurde bedroht. Er fühlt sich verfolgt, und Sie haben ein Foto von ihm erhalten.“
„Ja.“
„Ich möchte, dass Sie Ihre Aktivitäten einschränken.“
„Ich kann nicht…“
„Ihre Sprechstunden und Termine können Sie beibehalten“, erklärte ich, „aber machen Sie eine kleine Pause in Bryce, bis ich etwas weitergekommen bin.“
Sie nickte.
„Eric?“ fragte ich.
Er sah mich an.
„Die Pistole, die du trägst: Kannst du damit umgehen?“
„Ich übe jede Woche. Ich bin ein guter Schütze.“
„Das ist ein bisschen was anderes, als auf Menschen zu schießen, Eric.“
„Ich weiß.“
„Ich möchte, dass du Dr. Warren in den nächsten Tagen nicht von der Seite weichst. Geht das?“
„Ja, sicher.“
„Wenn was passiert, dann verschwende keine Zeit damit, auf den Kopf oder das Herz des Angreifers zu zielen.“
„Sondern?“
„Pump die ganze Ladung in den Körper, Eric. Sechs Treffer sollten selbst ein Nashorn erledigen.“
Er sah enttäuscht aus, so als habe sich gerade herausgestellt, dass er die ganze Zeit umsonst im Schiessclub geübt hatte. Vielleicht war er ja ein guter Schütze, doch bezweifle ich, dass sich Diandras Angreifer eine Zielscheibe auf die Stirn malen würde.
„Eric“, fragte ich. „Bringst du mich zur Tür?“
Er nickte. Wir verließen die Wohnung und gingen durch den kurzen Flur bis zum Aufzug.
„Egal wie ich meinen Job hier mache: Mit unserer Freundschaft hat das nichts zu tun. Das verstehst du doch, oder?“
Eric blickte auf seine Schuhe und nickte.
„Was für eine Beziehung hast du zu ihr?“
Er sah mich mit unbeweglichem Blick an. „Warum?“
„Keine Privatsphäre, Eric! Denk dran. Ich muss wissen, wie hoch dein Einsatz hier ist.“
Er zuckte mit den Achseln. „Wir sind Freunde.“
„Freunde, die miteinander schlafen?“
Er schüttelte den Kopf und lächelte bitter. „Manchmal, Patrick, denke ich, dir fehlen ein paar Umgangsformen.“
Ich zuckte mit den Achseln. „Ich werde nicht für meine Tischmanieren bezahlt, Eric.“
„Diandra und ich lernten uns in Brown kennen, als ich dort meinen Doktor machte und sie gerade graduiert war.“
Ich räusperte mich. „Noch mal: Seid ihr zwei intim?“
„Nein“, erklärte er. „Wir sind nur sehr gute Freunde. Wie du und Angie.“
„Du verstehst doch, warum ich davon ausgehen muss?“ Er nickte.
„Ist sie mit jemand anders intim?“ /
Er schüttelte den Kopf. „Sie ist…“ Er blickte hoch zur Decke, dann hinunter auf seine Füße.
„Sie ist was?“
„Sie ist sexuell inaktiv, Patrick. Das ist eine philosophische Entscheidung. Sie lebt seit mindestens zehn Jahren enthaltsam.“ „Warum?“
Sein Blick verdunkelte sich. „Ich habe es dir schon gesagt: aus freiem Willen. Es gibt Menschen, die nicht von ihrer Libido beherrscht werden, Patrick, auch wenn diese Einstellung für jemanden wie dich schwer vorstellbar ist.“
„Gut, Eric“, lenkte ich ein. „Gibt es sonst noch was, das du mir nicht erzählt hast?“
„Zum Beispiel?“
„Irgendwelche Leichen im Keller“, sagte ich. „Irgendein Grund, warum dieser Mensch Jason bedroht, um dir zu schaden?“ „Worauf spielst du an?“
„Ich spiele auf gar nichts an, Eric. Ich habe eine direkte Frage gestellt. Ja oder nein, mehr will ich nicht hören.“
„Nein.“ Seine Stimme klang eisig.
„Tut mir leid, dass ich dir diese Fragen stellen muss.“
„Ach ja?“ erwiderte er, drehte sich um und ging zurück in die Wohnung.