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„Warum hat er den Cowboyhut nicht abgenommen?“
fragte ich auf dem Weg zu Angie.
Mehr als erleichtert hatte ich meine Wohnung zurückgelassen. Im
Moment war sie voll von herumflitzenden Technikern und Polizisten,
die den Fußbodenbelag hochrissen und ihn einpuderten, um etwaige
Fingerabdrücke erfassen zu können. Eine Wanze hatte man hinter der
Fußleiste im Wohnzimmer gefunden, eine unter meiner Kommode im
Schlafzimmer, die dritte war in den Küchenvorhang eingenäht
gewesen.
Ich versuchte, nicht an die unglaubliche Verletzung meiner
Privatsphäre zu denken, deshalb konzentrierte ich mich auf den
Cowboyhut.
„Was?“ gab Devin zurück.
„Warum hatte er den Cowboyhut noch auf, als er in Wollaston über
die Ampel gefahren ist?“
„Hat ihn vergessen abzunehmen“, schlug Oscar vor.
„Wenn er aus Texas oder Wyoming war, könnte ich’s ja verstehen.
Aber er kommt aus Brockton. Er merkt doch beim Fahren, dass er
einen Cowboyhut auf dem Kopf hat. Er weiß auch, dass das FBI hinter
ihm her ist. Er weiß doch, dass wir merken, dass er sich als Lyle
ausgegeben hat, sobald wir die Augen gefunden haben.“ „Und trotzdem
lässt er den Hut auf“, rätselte Angie.
„Er macht sich über uns lustig“, befand Devin schließlich. „Er will
uns zeigen, dass er schlauer ist als wir und wir ihn nicht
kriegen.“ „So ein Saukerl!“ rief Oscar, „so ein verdammter
Saukerl!“ Bolton hatte in die Wohnungen rechts und links von Phil
Beamte geschickt, weitere befanden sich im Haus der Livoskis
gegenüber von Angies Haus und bei den McKays, dem Haus dahinter.
Beide Familien hatten für die Zweckentfremdung ihrer Häuser eine
Entschädigung erhalten und wurden im Marriott untergebracht,
trotzdem rief Angie bei beiden an und entschuldigte sich für die
Unannehmlichkeiten.
Nachdem sie aufgelegt hatte, ging sie duschen, während ich ohne
Licht und mit heruntergelassenen Rollläden an dem staubigen Tisch
im Esszimmer saß. Oscar und Devin saßen unten auf der Strasse in
ihrem Auto, sie hatten uns zwei Funkgeräte dagelassen. Schwer und
kantig standen die beiden vor mir auf dem Tisch, im Halbdunkel
wirkten ihre Umrisse wie Empfangsstationen einer fernen Galaxie.
Als Angie vom Duschen zurückkam, trug sie ein graues T-Shirt mit
dem Aufdruck der Monsignor Ryan Memorial High School und rote
Flanellshorts, die ihre Oberschenkel locker umspielten. Ihr Haar
war noch nass, sie sah klein aus, als sie Aschenbecher und
Zigaretten auf den Tisch stellte und mir eine Cola
reichte.
Dann zündete sie sich eine Zigarette an. Im Licht der Flamme konnte
ich kurz erkennen, wie abgespannt und verängstigt sie aussah. „Es
wird alles gut“, beruhigte ich sie.
Sie zuckte mit den Achseln. „Ja, klar.“
„Die haben ihn, wenn er nur in die Nähe dieses Hauses kommt.“ Noch
ein Achselzucken. „Ja, klar.“
„Ange, er kriegt dich nicht.“
„Bis jetzt war seine Trefferquote ziemlich hoch.“
„Aber wir sind darauf spezialisiert, Menschen zu beschützen, Ange.
Wir können uns doch gegenseitig schützen.“
Sie blies eine Wolke Rauch aus. „Erzähl das mal Jason Warren!“ Ich
legte meine Hand auf ihre. „Als wir den Fall niedergelegt haben,
wussten wir nicht, womit wir es zu tun hatten. Jetzt schon.“
„Patrick, bei dir ist er auch reingekommen.“
Ich hatte nicht vor, in diesem Moment darüber nachzudenken. Seitdem
Fields die Aufnahmegeräte in die Höhe gehalten hatte, saß der
Schock bei mir tief.
Ich begann: „Bei mir stehen aber nicht fünfzig FBI-Männer…“ Sie
drehte die Hand, so dass unsere Handflächen aufeinanderlagen, dann
umfasste sie mein Handgelenk. „Er entzieht sich jeder Logik“,
stellte sie fest. „Evandro. Er ist… man kann ihn mit nichts
vergleichen. Er ist kein Mensch, er ist eine Naturgewalt, und wenn
er mich unbedingt haben will, dann schafft er das auch.“ Heftig zog
sie an ihrer Zigarette; die Asche glomm auf, und ich sah die tiefen
Ränder unter ihren Augen.
„Er kann nicht…“
„Psst“, machte sie und zog ihre Hand zurück. Dann drückte sie die
Zigarette aus und räusperte sich. „Ich will nicht, dass du mich für
einen Feigling hältst oder für eine schutzbedürftige kleine Frau,
aber ich möchte jetzt festgehalten werden, und ich…“
Ich stand auf und kniete mich zwischen ihre Beine; sie umarmte
mich, drückte ihre Wange gegen meine und grub mir die Finger in den
Rücken.
Dann flüsterte sie mir etwas ins Ohr: „Wenn er mich umbringt,
Patrick…“
„Er wird dich…“
„Wenn aber doch, dann musst du mir etwas versprechen.“ Ich wartete,
während ich die Angst durch ihre Brust rasen spürte. „Versprich
mir, dass du so lange am Leben bleibst, bis du ihn umgebracht hast!
Langsam. Wenn möglich, zieh es über ein paar Tage hin!“
„Und wenn er mich vorher erwischt?“
„Er kann uns nicht beide umbringen. Das schafft keiner. Wenn er
dich zuerst erwischt“ – sie lehnte sich ein wenig zurück, damit sie
mir in die Augen sehen konnte –, „dann streiche ich dieses Haus mit
seinem Blut. Jeden Zentimeter.“
Einige Minuten später ging sie zu Bett; ich knipste eine kleine
Lampe in der Küche an und ging die Akten durch, die Bolton mir über
Alec Hardiman, Charles Rugglestone, Cal Morrison und die Morde von
1974 gegeben hatte.
Sowohl Hardiman als auch Rugglestone sahen erschreckend normal aus.
Das einzig Auffällige an Alec Hardiman war, wie schon bei Evandro,
sein gutes Aussehen, er wirkte fast weiblich. Doch gibt es viele
schöne Männer auf der Welt, und nicht alle wollen über andere
Menschen herrschen.
Rugglestone mit seinem hohen Haaransatz und dem langen Gesicht sah
eher wie ein Grubenarbeiter aus Westvirginia aus. Er wirkte nicht
gerade freundlich, aber wie ein
Mann, der Kinder kreuzigte und Pennern den Bauch aufschlitzte, sah
er auch nicht aus.
Die Gesichter sagten mir rein gar nichts.
Menschen kann man nicht ganz verstehen, man kann nur auf sie
reagieren, hat meine Mutter einmal gesagt.
Sie war fünfundzwanzig Jahre lang mit meinem Vater verheiratet
gewesen, also wird sie wohl einiges an Übung darin gehabt haben.
Ich musste ihr zustimmen. Ich hatte Hardiman kennengelernt, hatte
gelesen, wie er über Nacht von einem kleinen Engel zu einem Teufel
wurde, aber eine Erklärung dafür gab es nicht.
Über Rugglestone war noch weniger bekannt. Er hatte in Vietnam
gekämpft, war ehrenvoll entlassen worden, kam von einer kleinen
Farm im Osten von Texas und hatte zum Zeitpunkt seines Todes seit
über sechs Jahren keinen Kontakt mehr zu seiner Familie gehabt.
Seine Mutter wurde mit dem Ausspruch zitiert: „Er war ein guter
Junge.“
Ich blätterte weiter in der Rugglestone-Akte und fand die Zeichnung
des leeren Lagerhauses, in dem Hardiman ihn so unsäglich
zugerichtet hatte. Das Haus gab es nicht mehr, an der Stelle
befanden sich nun ein Supermarkt und eine Reinigung.
Auf der Zeichnung konnte ich sehen, wo Rugglestones Leiche gefunden
worden war, an einem Stuhl festgebunden, erstochen, geschlagen und
verbrannt. Sie zeigte, wo Hardiman von Detective Gerry Glynn
gefunden worden war, der einen anonymen Anruf erhalten hatte.
Hardiman hatte nackt zusammengerollt in der Firmenzentrale gelegen,
sein Körper war mit Rugglestones Blut besudelt, der Eispickel lag
ein Meter zwanzig von ihm entfernt.
Wie mochte sich Gerry gefühlt haben, als er auf einen anonymen
Anruf hin in dieses Lagerhaus ging, Rugglestones Leiche und dann
den Sohn seines Kollegen mit der Mordwaffe fand?
Und von wem kam der anonyme Anruf?
Ich blätterte weiter und sah mir das vergilbte Foto des weißen
Lieferwagens an, der auf Rugglestone zugelassen war. Er sah alt und
vernachlässigt aus; die Windschutzscheibe fehlte. Dem Bericht
zufolge war der Innenraum des Wagens innerhalb der letzten
vierundzwanzig Stunden vor Rugglestones Tod ausgespritzt und die
Fenster gewischt worden, doch war die Windschutzscheibe erst kurz
zuvor beschädigt worden. Fahrer- und Beifahrersitz waren voller
Glassplitter, kleine Scherben glitzerten auf dem Boden. Zwei
Hohlziegel lagen mitten auf der Ladefläche.
Wahrscheinlich hatten Kinder die Ziegel in die Scheibe geworfen,
während der Lieferwagen vor dem Lagerhaus stand. Sie verübten
Vandalismus, während Hardiman nur wenige Meter entfernt einen Mord
verübte.
Vielleicht hatten die kleinen Vandalen den Lärm aus dem Haus
gehört, Verdacht geschöpft und anonym bei der Polizei angerufen.
Ich betrachtete den Lieferwagen noch ein wenig und verspürte einen
leichten Schauder.
Lieferwagen hatte ich noch nie gemocht. Aus irgendeinem Grund, der
die Firmen Ford und Dodge bestimmt interessieren würde, bringe ich
sie mit Verbrechen in Verbindung: mit Fahrern, die Kinder
belästigen, mit Vergewaltigern, die auf dem Parkplatz des
Supermarkts mit laufendem Motor auf ihr Opfer warten, mit Gerüchten
über mordende Clowns aus meiner Kindheit, mit dem Bösen. Ich
blätterte um und stieß auf den toxikologischen Bericht. Rugglestone
hatte große Mengen der Aufputschmittel PCP und Methylamphetamin im
Blut, die ihn eine Woche lang wach gehalten hätten. Zum Ausgleich
hatte er einen
Alkoholspiegel von 1,2 Promille, doch selbst diese Menge an
Alkohol, da war ich mir sicher, konnte die Wirkung einer derartigen
Zufuhr von künstlichem Adrenalin nicht ausschalten. Sein Blut muss
wie elektrisiert gewesen sein.
Wie hatte der zwölf Kilo leichtere Hardiman ihn niederringen
können?
Wieder schlug ich die Seite um und fand den Bericht über
Rugglestones Verletzungen. Obwohl ich die Beschreibung bereits von
Gerry Glynn und Bolton kannte, entzog sich das Ausmaß der
Verletzungen, die Rugglestones Körper zugefügt worden waren, meiner
Vorstellungskraft.
Siebenundsechzig Schläge mit einem Hammer, der unter einem Stuhl
neben Alec Hardiman gefunden wurde. Geschlagen wurde aus Abständen
von zwei Metern bis zu fünfzehn Zentimetern. Die Schläge kamen von
vorne, hinten, links und rechts.
Ich schlug Hardimans Akte auf und legte die beiden nebeneinander.
Beim Prozess hatte Hardimans Verteidiger argumentiert, sein Klient
habe als Kind einen schweren Nervenschaden an der linken Hand
erlitten, könne daher nur mit der rechten arbeiten und sei somit
gar nicht in der Lage, mit einem Hammer linkshändig solche Kraft
auszuüben.
Die Anklage verwies auf den Nachweis von Aufputschmitteln in
Hardimans Blut, und Richter und Jury teilten die Ansicht, dass
Drogen einem ohnehin Verrückten die Kraft von zehn Männern
verleihen können.
Keiner glaubte dem Argument des Strafverteidigers, der in Hardimans
Blut gemessene Wert von PCP sei im Vergleich mit Rugglestones
Blutwerten zu vernachlässigen und dass im Fall Hardiman die Wirkung
nicht durch die Einnahme von Speed verstärkt, sondern mit einem
Cocktail aus Morphinen und Schlafmitteln gedämpft worden sei.
Zusammen mit Alkohol wirkte diese Kombination so stark,
dass Hardiman von Glück sagen konnte, den Nachmittag überhaupt
überlebt zu haben, ganz zu schweigen von der Bewältigung
körperlicher Herausforderungen der vorliegenden Größenordnung. Er
hatte Rugglestone im Verlauf von vier Stunden langsam verbrannt.
Angefangen hatte er mit den Füssen, hatte das Feuer jedoch
gelöscht, kurz bevor es auf die unteren Waden übergriff, dann hatte
er wieder den Hammer, den Eispickel oder eine Rasierklinge zu Hilfe
genommen, mit der Rugglestones Fleisch an über einhundertzehn
Stellen eingeritzt worden war, ebenfalls von rechts und von links.
Dann verbrannte er Unterschenkel und Knie, löschte die Flammen
wieder, und so weiter.
Eine Untersuchung von Rugglestones Wunden ergab, dass Zitronensaft,
Wasserstoffperoxid und Salz verwendet worden waren. Die Schnitte im
Gesicht und am Rest des Kopfes hatten den Nachweis von
verschiedenen Substanzen erbracht: Fonds Körpercreme und weiße
Theaterschminke.
Er war geschminkt gewesen?
Ich überprüfte Hardimans Akte. Zum Zeitpunkt der Festnahme waren an
den Wurzeln des Haaransatzes ebenfalls Spuren eines weißen
Präparats gefunden worden, so als hätte er die Schminke abgewischt,
aber keine Zeit gehabt, die Haare zu waschen. Ich durchblätterte
Cal Morrisons Akte. Morrison hatte sein Zuhause an einem
wolkenverhangenen Nachmittag um drei Uhr verlassen, weil er sich
ein Amateur-Footballspiel im Columbia Park ansehen wollte. Er
wohnte weniger als eine Meile entfernt, doch als die Polizei alle
Wege überprüfte, die er hätte einschlagen können, fand sich kein
Zeuge für die Zeit, nachdem Cal einem Nachbarn in der Sumner Street
zugewinkt hatte.
Sieben Stunden später war er gekreuzigt worden.
Die Spurensicherung hatte Hinweise darauf, dass Cal mehrere Stunden
rücklings auf einem Teppich gelegen haben musste. Ein billiger
Teppich, der laienhaft in Stücke geschnitten worden war, so dass
kleine Flusen in seinem Haar hängenblieben. In den Teppichflusen
fanden sich Spuren von Öl und Bremsflüssigkeit.
Unter den Fingernägeln der rechten Hand fand man Blut der
Blutgruppe A sowie Chemikalien, aus denen weiße Theaterschminke
hergestellt wird.
Eine Zeitlang war die Mordkommission davon ausgegangen, dass sie
nach einem weiblichen Mörder Ausschau halten musste. Durch
Haarfasern und Gipsmodelle der Fußabdrücke wurde diese Theorie
jedoch schnell wieder verworfen.
Schminke. Warum waren Rugglestone und Hardiman geschminkt
gewesen?