39

Gerry war in den Keller gelaufen und von da ins Nachbarhaus gelangt. Dieses verließ er durch die Hintertür, wie er es auch in der Nacht getan hatte, als er auf Angie schoss. Dann sprang er in seinen Fiat Grand Torino, der in der kleinen Gasse hinter der Kneipe geparkt war, und fuhr in Richtung Crescent Avenue.
Beim Verlassen der Gasse stieß er fast mit einem Streifenwagen zusammen, und als er mit quietschenden Reifen auf die Dorchester Avenue abbog, wurde er bereits von vier Polizeiautos verfolgt. Von der anderen Seite kamen noch zwei Streifenwagen und ein Lincoln vom FBI; zusammen bildeten sie an der Ecke Harborview Street eine Straßensperre, auf die Gerry mit seinem Auto zugerutscht kam.
Beim Ryan-Spielplatz riss Gerry das Lenkrad herum und fuhr einfach die Treppe hinauf, die mit einer so dicken Eisschicht überzogen war, dass sie einer Sprungschanze glich.
Er bremste mitten auf dem Spielplatz, und als die Beamten von Polizei und FBI aus den Autos sprangen und auf ihn anlegten, öffnete er den Kofferraum und holte seine Geiseln heraus. Es handelte sich um eine einundzwanzigjährige Frau namens Danielle Rawson, die seit dem Morgen von ihren Eltern in Reading vermisst wurde. Die andere Geisel war ihr zweijähriger Sohn Campbell.
An Danielles Kopf war mit Isolierband eine doppelläufige Flinte geklebt.
Gerry schnallte sich Campbell mit dem Trageriemen auf den Rücken, den Danielle bei der Entführung getragen hatte.
Beide waren offensichtlich betäubt worden; jedoch kam Danielle zu sich, als Gerry den Finger drohend an den Abzug des Gewehrs legte und sich selbst und Danielle mit Benzin übergoss. Den Rest goss er in einem Kreis um sich und seine Geiseln aufs Eis. Dann fragte er nach mir.
Ich war noch in der Kneipe.
Dort kniete ich neben Phils Leiche und weinte an seiner Brust. Seit meinem sechzehnten Lebensjahr hatte ich nicht mehr geweint, und jetzt, wo ich neben der Leiche meines ältesten Freundes kniete, strömten die Tränen nur so hervor. Ich fühlte mich beraubt, all der Dinge beraubt, durch die ich je gelernt hatte, mich und meine Umwelt zu definieren.
„Phil!“ schluchzte ich und legte den Kopf auf seine Brust. „Er fragt nach dir“, sagte Devin.
Ich blickte zu ihm hoch und fühlte mich weit weg von allem und jedem.
Auf Phils Hemd, dort wo mein Kopf gelegen hatte, bemerkte ich einen frischen Blutfleck. Mir fiel wieder ein, dass Gerry mich geschnitten hatte.
„Wer?“ fragte ich.
„Glynn“, antwortete Oscar. „Er sitzt auf dem Spielplatz fest. Mit Geiseln.“
„Habt ihr Scharfschützen?“
„Ja“, bestätigte Devin.
Ich zuckte mit den Achseln. „Dann erschießt ihn doch!“
„Geht nicht.“ Devin reichte mir ein Handtuch für die Wange. Dann erzählte mir Oscar von dem Baby, das sich Glynn auf den Rücken geschnallt hatte, und von der Schrotflinte, die er an den Kopf der Mutter geklebt hatte, und vom Benzin.
Es kam mir alles so irreal vor.
„Er hat Phil umgebracht“, klagte ich.
Devin fasste mich grob am Arm und zog mich auf die Beine. „Ja, Patrick, das hat er. Und jetzt bringt er vielleicht noch zwei Menschen um. Willst du uns helfen, das zu verhindern?“
„Ja“, erwiderte ich, doch klang meine Stimme nicht wie sonst. Sie klang leer. „Klar.“
Sie folgten mir nach draußen zum Auto, wo sie mir eine schusssichere Weste zum Überziehen gaben und meine Beretta neu luden. Bolton gesellte sich auf der Strasse zu uns.
„Er ist umzingelt“, sagte er, „er sitzt in der Falle.“
Ich fühlte mich so abgestumpft wie noch nie zuvor, als hätte man mich aller Gefühle beraubt, in einer Geschwindigkeit, wie man einen Apfel entkernt.
„Mach schnell!“ trieb Oscar mich an. „Du hast noch fünf Minuten, dann fängt er an, die erste Geisel zu verstümmeln. „
Ich nickte und zog auf dem Weg zum Wagen Hemd und Jacke über die Weste.
„Du kennst doch Bubbas Lager“, rief ich.
„Ja.“
„Der Zaun um Bubbas Grundstück geht auch um den Spielplatz herum.“
„Das weiß ich“, sagte Devin.
Ich schloss das Auto auf, öffnete das Handschuhfach und leerte den Inhalt auf die Sitze.
„Was machst du da, Patrick?“
„In dem Zaun ist ein Loch“, erklärte ich. „Im Dunkeln kann man das nicht sehen, weil es nur ein Schnitt im Maschendraht ist. Aber wenn man dagegendrückt, geht er auf.“
„Gut.“
Ich entdeckte den Rand des kleinen Stahlzylinders, der auf meinem Sitz unter dem Haufen von Streichholzbriefchen, Garantiebriefen, verschiedenen Papieren und Schrauben hervorlugte.
„Das Loch ist oben links im Zaun, wo die Pfeiler an Bubbas Grundstück grenzen.“
Devin warf einen Blick auf den Zylinder, während ich die Tür zuwarf und die Strasse hoch auf den Spielplatz zuging.
„Was hast du denn da in der Hand?“
„Das ist ein One-Shot.“ Ich lockerte das Armband meiner Uhr und schob den Zylinder zwischen Leder und Haut.
„Ein One-Shot?“
„Weihnachtsgeschenk von Bubba“, erklärte ich. „Schon lange her.“ Ich ließ es ihn kurz sehen. „Eine Kugel. Wenn ich auf den Knopf hier drücke, ist das wie ein Abzug. Dann kommt die Kugel aus dem Zylinder.“
Devin und Oscar sahen sich die Waffe genau an. „Das ist ein stinknormales Entstörgerät mit ein paar Angeln und Schrauben, einer Sprengkapsel und einer Kugel. Die reißt dir die Hand ab, Patrick!“ „Schon möglich.“
Vor uns lag der Spielplatz, umgeben von einem viereinhalb Meter hohen, eisüberzogenen Zaun. Schwer hing das Eis in den schwarzen Bäumen.
„Wozu brauchst du das überhaupt?“ fragte Oscar.
„Weil er mit Sicherheit verlangt, dass ich die Pistole ablege.“ Ich drehte mich zu ihnen um. „Das Loch im Zaun, Leute!“
„Ich schicke einen Mann rüber“, sagte Bolton.
„Nein.“ Ich schüttelte den Kopf und nickte in Richtung von Devin und Oscar. „Einer von den beiden. Das sind die einzigen, denen ich vertraue. Einer von euch geht da durch und kriecht von hinten an ihn heran.“
„Und was dann? Patrick, er hat…“
„… ein Baby auf den Rücken geschnallt. Vertrau mir! Du musst es auffangen!“
„Ich mache es“, sagte Devin.
Oscar schnaubte. „Mit deinen Knien? So’n Quatsch! Du kommst doch keine drei Meter weit auf dem Eis!“
Devin sah ihn an. „Ja? Wie willst du denn deinen Elefantenarsch über den Spielplatz kriegen, ohne dass dich einer sieht?“ „Ich bin schwarz wie die Nacht, Kollege! Mich sieht keiner im Dunkeln.“
„Wer denn nun?“ wollte ich wissen.
Devin seufzte und zeigte mit dem Daumen auf Oscar.
„Der Elefantenarsch“, grummelte Oscar. „Ha.“
„Bis gleich also“, verabschiedete ich mich und ging über den Bürgersteig zum Spielplatz.
Die Treppe kam ich nur hoch, indem ich mich am Geländer entlangzog.
Die Strassen waren im Laufe des Tages mit Salz oder Maschinen vom Eis befreit worden, doch der Spielplatz war so glatt wie eine Eislaufbahn. In der Mitte, wo der Asphalt abfiel und sich Wasser gesammelt hatte, befand sich eine mindestens fünf Zentimeter dicke dunkle Eisschicht.
Die Bäume, Basketballkörbe, Klettergerüste und Schaukeln wirkten wie aus Glas.
Gerry stand in der Mitte des Spielplatzes in einer Anlage, die eigentlich ein Springbrunnen oder Froschteich hätte sein sollen, aufgrund der knappen öffentlichen Kassen aber nur noch ein schlichtes Zementbassin mit Bänken Drumherum war. Ein Ort, wo Kinder spielen konnten und man selbst sehen konnte, was mit seinen Steuergeldern angestellt wird.
Gerrys Auto war seitlich des Bassins geparkt. Ich kam näher; er stand gegen die Motorhaube gelehnt. Aus meinem Winkel konnte ich das Baby auf seinem Rücken nicht sehen, doch die auf dem Eis kniende Danielle Rawson zu seinen Füssen hatte den leeren Blick eines Menschen, der den eigenen Tod bereits akzeptiert hat. Durch die zwölf Stunden im Kofferraum war ihr Haar an der linken Seite flachgelegen, schwarze Mascaraspuren liefen ihr an den Wangen herunter, die Augenwinkel waren vom Benzin gerötet. Sie schien zu wissen, dass ihr Leben nicht mehr zu retten war.
„Hi, Patrick“, grüsste mich Gerry. „Bleib da stehen!“
Ich hielt zwei Meter vor dem Wagen an, eineinhalb Meter von Danielle Rawson entfernt. Mit den Fußspitzen stand ich schon im Benzin.
„Hi, Gerry!“ grüsste ich zurück.
„Du bist schrecklich ruhig.“ Er hob die Augenbraue, sie war mit Benzin getränkt. Das rostrote Haar klebte ihm am Kopf. „Müde“, verbesserte ich.
„Du hast rote Augen.“
„Wenn du das sagst.“
„Phillip Dimassi ist tot, nehme ich an.“
„Ja.“
„Du hast um ihn geweint.“
„Ja, das stimmt.“
Ich sah Danielle Rawson an und versuchte, die Kraft aufzubringen, die für ein Gefühl der Anteilnahme notwendig war.
„Patrick?“
Er lehnte sich ein bisschen weiter zurück, so dass Danielle Rawsons Kopf durch die an ihm befestigte Schrotflinte mit nach hinten gezogen wurde.
„Ja, Gerry?“
„Hast du einen Schock?“
„Keine Ahnung.“ Ich drehte mich um und betrachtete das glitzernde Eis um mich herum, den Nieselregen, die blau-weißen Lichter der Polizeiwagen, die Polizisten und Agenten, die auf den Motorhauben lagen, auf Telefonmasten hockten oder auf den Dächern rund um den Spielplatz knieten. Alle zielten auf den einen Mann. Gewehre überall. Hundert Prozent geballte Gewalt.
„Ich glaube, du hast einen Schock.“ Gerry nickte sich zu. „Und wenn, Gerry“, erwiderte ich und kratzte mich am Kopf, der vom Regen klatschnass war. „Ich hab seit zwei Tagen nicht geschlafen, und du hast fast jeden, der mir was bedeutet, umgebracht oder verletzt. Keine Ahnung, wie soll ich mich da schon fühlen?“ „Neugierig“, erwiderte er.
„Neugierig?“
„Ja, neugierig“, wiederholte er und drehte am Gewehr, so dass Danielle Rawson den Hals verrenkte und mit dem Kopf gegen sein Knie schlug.
Ich sah sie an; sie zeigte weder Angst noch Wut. Sie war besiegt. Genau wie ich. Ich wollte aus dieser Gemeinsamkeit ein Bündnis entstehen lassen, wollte das Gefühl in mich hineinzwingen, doch es passierte nichts.
Ich blickte zurück auf Gerry.
„Neugierig worauf, Gerry?“ Mit der Hand auf der Hüfte fühlte ich nach dem Kolben meiner Pistole. Er hat nicht nach der Pistole gefragt, fiel mir auf. Seltsam.
„Auf mich“, antwortete er. „Ich habe viele Menschen umgebracht, Patrick!“
„Gerüchte“, gab ich zurück.
Wieder drehte er an dem Gewehr, und Danielle Rawson musste die Knie anheben.
„Findest du das komisch?“ fragte er und legte den Finger an den Abzug des Gewehrs.
„Nein, Gerry“, widersprach ich, „ich bin apathisch.“
Hinter dem Kofferraum des Autos konnte ich sehen, wie ein Teil des Zaunes nach vorne gedrückt wurde, so dass ein gähnendes Loch entstand. Dann fiel der Zaun wieder zurück – es war kein Loch mehr zu sehen.
„Apathisch?“ wiederholte er. „Dann wollen wir mal sehen, wie apathisch du bist, Pat.“ Er griff nach hinten und holte das Baby hervor, mit der Faust hielt er es an der Kleidung fest und hob es bäuchlings in die Luft. „Ist leichter als so mancher Stein, den ich geworfen habe“, bemerkte er.
Das Baby war noch immer betäubt. Vielleicht auch schon tot, ich wusste es nicht. Die Augen waren zugekniffen, als habe es Schmerzen, auf dem kleinen Köpfchen wuchs ein zarter blonder Flaum. Es schien so weich wie eine Feder.
Danielle Rawson blickte auf und schlug dann mit dem Kopf gegen Gerrys Knie, ihre Schreie wurden von dem Klebeband über dem Mund gedämpft.
„Willst du das Baby fallen lassen, Gerry?“
„Klar“, sagte er. „Warum nicht?“
Ich zuckte mit den Achseln. „Warum nicht. Ist ja nicht meins.“ Danielles Augen quollen hervor, ihr Blick verdammte mich. „Du bist ausgebrannt, Pat.“
Ich nickte. „Ich bin völlig fertig, Gerry.“
„Hol die Waffe raus, Pat!“
Ich gehorchte, wollte sie in den gefrorenen Schnee werfen. „Nein, nein“, korrigierte er, „halt sie fest!“
„Festhalten?“
„Ja, sicher. Nein besser: Lade sie und leg auf mich an! Los! Das wird lustig!“
Ich tat, wie mir geheißen, hob den Arm und zielte auf Gerrys Stirn. „Schon viel besser!“ lobte er. „Tut mir irgendwie leid, dass du so ausgebrannt bist, Patrick.“
„Nein, das stimmt nicht. Darum ging’s doch bei der ganzen Sache hier, oder nicht?“
Er lächelte. „Wie meinst du das?“
„Du wolltest deine scheiß Entmenschlichungstheorie anwenden, hab ich recht?“
Er zuckte mit den Schultern. „Manche Leute halten sie nicht für Scheiße.“
„Verrückte gibt’s immer, Gerry!“
Er lachte. „Bei Evandro hat’s ganz gut funktioniert.“
„Hast du deshalb zwanzig Jahre gebraucht, bis du zurückgekommen bist?“
„Ich war gar nicht weg, Patrick. Aber was mein Experiment mit der menschlichen Verfassung als solcher und was meinen Glauben an die Vorteile und den Charme von der
Arbeit im Trio angeht, stimmt, da mussten Alec und ich so lange warten, bis du erwachsen warst und bis Alec in Evandro einen würdigen Schüler gefunden hatte. Dazu kam die jahrelange Planung und Alecs Arbeit mit Evandro, bis wir sicher sein konnten, dass er einer von uns war. Ich würde sagen, es war ein großer Erfolg, oder?“
„Klar, Gerry. Wie du meinst.“
Er senkte den Arm, so dass der Kopf des Babys zu Boden zeigte, und begutachtete den vereisten Grund, als suche er nach der besten Aufschlagstelle.
„Was hast du vor, Patrick?“
„Ich glaub nicht, dass ich irgendwas tun kann, Gerry.“
Er lächelte. „Wenn du mich erschießt, stirbt auf jeden Fall die Mutter und das Kind wahrscheinlich auch.“
„Stimmt.“
„Wenn du mich jetzt nicht erschießt, Schleuder ich das Kind vielleicht einfach mit dem Kopf auf das Eis.“
Danielle riss am Gewehr.
„Und dann“, fuhr er fort, „verlierst du beide. Du musst dich also entscheiden. Deine Entscheidung, Patrick.“
Oscar warf einen Schatten auf den vereisten Boden unter Gerrys Auto, als er Zentimeter für Zentimeter näher rückte.
„Gerry“, lenkte ich ein, „du hast gewonnen. Okay?“
„Wie siehst du die Sache?“
„Korrigiere mich, falls ich mich irre. Ich sollte dafür büssen, was mein Vater Charles Rugglestone angetan hat. Stimmt’s?“ „Teilweise“, gab er zu und betrachtete den Kopf des Babys, drehte den Kleinen so, dass er das Gesicht mit den zusammengekniffenen Augen sehen konnte.
„Okay. Alles klar. Erschieß mich, wenn du willst. Kein Problem!“ „Ich wollte dich nie umbringen, Patrick“, sagte er mit Blick auf das Kind. Er spitzte die Lippen und machte gurrende Geräusche. „Gestern Abend bei deiner Kollegin, da sollte Evandro eigentlich sie umbringen, damit du mit der Schuld zurückbleibst, mit dem Schmerz.“
„Warum?“
Oscars Schatten fiel neben das Auto, legte sich auf die Steintiere und Schaukelpferde direkt hinter Gerry. Der Schatten wurde von der Straßenlaterne im hinteren Teil des Spielplatzes geworfen, und ich fragte mich, welches Genie wohl vergessen hatte, sie auszuschalten, bevor Oscar durch den Zaun stieg.
Gerry musste nur den Kopf zur Seite drehen, und die Situation würde sofort eskalieren.
Gerry bewegte die Hand und schaukelte das Kind hin und her. „Früher habe ich meinen Sohn so gehalten“, bemerkte er. „Über dem Eis?“ fragte ich.
Er grinste. „Hmm. Nein, Patrick. Hab ihn nur in den Armen gewiegt, an ihm geschnuppert und ihn hin und wieder auf den Kopf geküsst.“ „Und dann starb er.“
„Ja.“ Gerry blickte das Baby an und ahmte dessen zusammengekniffenen Gesichtsausdruck nach.
„Ja, wie, Gerry? Deswegen soll das hier irgendeinen Sinn ergeben?“
Da war es: In meiner Stimme, ich weiß nicht, warum und wieso, war eine Spur von Emotion zu erkennen.
Gerry bemerkte es ebenfalls. „Wirf deine Waffe nach rechts.“ Ich tat so, als hätte ich ihn nicht richtig verstanden, als hätte ich die Waffe gar nicht bemerkt.
„Los!“ Gerry ließ los, und das Baby fiel herunter.
Danielle kreischte lautlos und stieß mit dem Kopf gegen das Gewehr.
„Okay“, gab ich nach, „okay.“
Kurz bevor der kleine Junge mit dem Kopf auf dem Boden aufschlug, bekam ihn Gerry an den Knöcheln zu fassen.
Ich warf meine Pistole in die matschige Sandgrube unter dem Klettergerüst.
„Und jetzt die andere!“ befahl er und schwang das Kind wie ein Pendel hin und her.
„Arschloch!“ sagte ich und beobachtete, wie achtlos er das Kind festhielt.
„Patrick“, erwiderte er mit erhobenen Augenbrauen, „hört sich an, als kommt jetzt wieder Leben in dich. Die andere!“
Ich holte die Waffe hervor, nach der Phil gegriffen hatte, als Gerry ihm die Kehle durchschnitt, und warf sie neben meine eigene. Oscar musste seinen eigenen Schatten bemerkt haben, denn er verzog sich rückwärts hinter das Auto, so dass seine Füße wieder zwischen den Vorder- und Hinterreifen zu sehen waren. „Als mein Sohn starb“, begann Gerry und zog Campbell Rawson an sich, liebkoste dessen samtene Haut, „gab es keine Warnung. Er war draußen auf dem Hof, vier Jahre alt, machte Lärm und dann… plötzlich nicht mehr. Eine Ader in seinem Gehirn war geplatzt.“ Er zuckte mit den Achseln. „Einfach so. Der Kopf füllte sich mit Blut. Dann starb er.“
„Netter Abgang!“
Er lächelte mich weich und nachsichtig an. „Noch eine solche Bemerkung, Patrick, und ich zerschmettere dem
Kind den Schädel!“ Er neigte den Kopf und küsste Campbell auf die Wange. „Also, dann war mein Sohn tot. Und ich merkte, dass es keine Möglichkeit gab, vorherzusagen oder zu verhindern, was mit ihm geschehen war. Gott hatte entschieden, dass ssrendan Glynn an dem Tage starb. Und so war es auch.“
„Und deine Frau?“
Er strich mit der Wange über Campbells Haar, doch dessen Augen blieben geschlossen.
„Tja, meine Frau. Ich hab sie umgebracht, stimmt. Nicht Gott. Ich war’s. Keine Ahnung, was für Pläne Gott mit der Frau hatte, aber ich hab ihm einen Strich durch die Rechnung gemacht. Ich hatte auch Pläne für Brendan, aber da hat er mir einen Strich durch gemacht. Wahrscheinlich hatte er auch Pläne für Kara Rider, aber dann muss er halt umdisponieren, nicht?“
„Und Hardiman?“ fragte ich. „Was hatte der damit zu tun?“ „Hat er dir von seinem Kindheitserlebnis mit Hornissen erzählt?“ „Ja.“
„Hmm. Das waren keine Hornissen. Alec malt es gerne schön aus. Ich war dabei: Es waren Moskitos. Er verschwand in einer ganzen Wolke, und als er wieder hervorkam, konnte ich sehen, dass er sein Gewissen verloren hatte.“ Er grinste, in seinen Augen sah ich die Insektenwolke und den dunklen See. „Und danach habe ich mit Alec ein Verhältnis aufgebaut, ein Lehrer-Schüler-Verhältnis, aus dem später sehr viel mehr wurde.“
„Und er ist… er ist absichtlich in den Knast gegangen, um dich zu schützen?“
Gerry zuckte mit den Schultern. „Das Gefängnis hat für jemanden wie Alec keine Bedeutung. Er ist absolut frei,
Patrick. Im Kopf. Gitter können ihn nicht einsperren. Im Gefängnis ist er freier als die meisten Leute draußen.“
„Und warum musste dann Diandra Warren bestraft werden, die ihn doch dahin geschickt hatte?“
Er runzelte die Stirn. „Sie hat Alec reduziert auf das, was sie in ihm sehen wollte. Im Zeugenstand. Sie war der Ansicht, sie könnte ihn einer Jury von Schwachköpfen erklären. Es war eine scheiß Beleidigung!“
„Aha, dann geht es also bei all dem hier“, ich machte mit dem Arm eine ausgreifende Bewegung, „nur darum, dass du und Alec sich an wen auch immer rächen wollen?“
„An wem“, korrigierte er mich und lachte wieder.
„An Gott?“ fragte ich.
„Das ist etwas zu einfach ausgedrückt, aber wenn das die Art von Gesabber ist, die du hinterher an die Medien verkaufst, wenn ich tot bin, dann bitte schön!“
„Du wirst sterben, Gerry? Wann denn?“
„Sobald du in Aktion trittst, Patrick. Entweder bringst du mich um“, er wies mit dem Kopf in Richtung der Polizei. „Oder die da.“ „Was ist mit den Geiseln, Gerry?“
„Einer von beiden geht drauf. Mindestens. Du kannst sie nicht beide retten, Patrick. Keine Chance. Das musst du akzeptieren.“ „Hab ich schon.“
Danielle Rawson studierte mein Gesicht, um zu sehen, ob ich es ernst meinte. Ich sah ihr so lange in die Augen, bis sie davon überzeugt war.
„Einer von beiden stirbt“, wiederholte Gerry, „sind wir uns da einig?“ „Ja.“
Ich drehte den linken Fuß nach rechts, zur Mitte und wieder nach rechts. Für Gerry sah das hoffentlich wie eine
geistesabwesende Bewegung aus. Für Oscar hoffentlich nicht. Ich konnte aber nicht riskieren, noch einmal zum Auto hinüberzusehen. Ich musste einfach darauf vertrauen, dass er da war.
„Vor einem Monat“, begann Gerry erneut, „hättest du alles getan, um beide zu retten. Du hättest dir das Hirn zermartert. Jetzt nicht mehr.“
„Nein. Du hast mir viel beigebracht, Gerry.“
„Wie viele Leben hast du zerstört, um mich zu bekommen?“ wollte er wissen.
Ich dachte an Jack und Kevin. An Grace und Mae. Und an Phil natürlich.
„Genügend“, antwortete ich.
Er lachte. „Gut! Gut. Das ist lustig, nicht? Ich meine, gut, du hast nie jemand absichtlich umgebracht. Oder? Aber das kann ich dir sagen, ich habe mir das auch nicht gerade als Lebensaufgabe ausgesucht. Nachdem ich meine Frau in einem Anfall von Jähzorn getötet hatte, das war überhaupt nicht geplant, wirklich… nachdem ich sie umgebracht hatte, fühlte ich mich schrecklich. Ich musste mich übergeben. Zwei Wochen lang brach mir immer wieder der kalte Schweiß aus. Und dann, eines Abends, fuhr ich auf einer alten Strasse in der Nähe von Mansfield, meilenweit kein anderes Auto in Sicht. Ich fuhr an so einem Typ auf dem Fahrrad vorbei und spürte plötzlich einen Drang – den stärksten Drang in meinem Leben. Ich fahre rechts an ihm vorbei, sehe sogar die Reflektoren am Fahrrad, sein ernstes, konzentriertes Gesicht, und eine Stimme sagt zu mir: >Stoss an den Reifen, Gerry! Stoss an den Reifen!< Das habe ich getan. Ich musste die Hand nur ein paar Zentimeter nach links strecken, und schon flog er gegen den nächsten Baum. Dann ging ich zu ihm zurück, er war schon fast tot, und beobachtete ihn beim Sterben. Ich fühlte mich klasse. Und es
wurde immer besser. Dieser kleine Nigger, der wusste, dass ich jemand anders für den Tod meiner Frau verantwortlich gemacht hatte, und all die anderen nach ihm, Cal Morrison zum Beispiel. Es wurde einfach immer besser. Ich bedaure gar nichts. Tut mir leid, ist aber so. Wenn du mich also umbringst…“
„Ich bringe dich nicht um, Gerry!“
„Was?“
„Du hast mich verstanden. Soll dich doch jemand anders ins Jenseits befördern. Du bist ein Fliegenschiss, Mann! Ein Nichts. Du bist die Kugel nicht wert und den Fleck auf meiner Seele auch nicht!“ „Willst du mich wieder ärgern, Patrick?“ Er nahm Campbell von der Schulter und hielt ihn wieder hoch.
Ich krümmte das Handgelenk, und der Zylinder fiel mir in die Hand. Ich zuckte die Achseln. „Du bist eine Witzfigur, Gerry. Ich sage einfach, wie ich es sehe.“
„Ach, ja?“
„Sicher.“ Ich blickte in seine harten Augen. „Nach dir kommt ein anderer, so ist das immer, vielleicht schon in einer Woche, ach, höchstens in einer Woche! Dann kommt irgendein anderer beschränkter, kranker Typ an, bringt ein paar Leute um und steht in allen Zeitungen. Dann bist du schon Schnee von gestern. Deine fünfzehn Minuten sind um, Gerry! Und du hast keinen großen Eindruck hinterlassen!“
Er drehte Campbell Rawson in seiner Hand, hielt ihn wieder an den Füssen nach unten. Mit dem Finger drückte er den Abzug des Gewehrs einige Millimeter nach unten, und Danielle schloss ein Auge in Erwartung des Schusses, das andere Auge hielt sie auf ihr Baby gerichtet.
„Das vergessen sie nicht!“ prahlte Gerry. „Das kannst du mir glauben!“
Er holte mit dem Arm Schwung wie ein Werfer beim
Baseball. Campbell schnellte in die Dunkelheit hinter ihm, sein kleiner weißer Körper verschwand, als sei er in den Mutterleib zurückgekehrt.
Doch als Gerry den Arm wieder nach vorne schwang, um das Baby in die Luft zu schleudern, hielt er Campbell nicht mehr in der Hand. Verwirrt blickte er nach unten, und ich sprang vor, fiel mit den Knien aufs Eis und schob den linken Zeigefinger zwischen Abzug und Bügel des Gewehrs.
Gerry drückte auf den Abzug. Er traf auf den Widerstand meines Fingers, sah mich an und drückte dann so fest zu, dass mein Finger brach.
In seiner linken Hand blitzte die Rasierklinge, und ich schob ihm den One-Shot in die rechte Hand.
Er schrie schon auf, bevor ich abgedrückt hatte. Es war ein extrem hohes Geräusch, das Gejaule einer ganzen Horde von Hyänen. Die Rasierklinge, die in meinen Hals sank, fühlte sich an wie die Zungenspitze einer Geliebten. Sie blieb an meinen Kieferknochen hängen.
Ich drückte auf den Abzug des One-Shot, doch nichts passierte. Gerry schrie noch lauter, zog die Rasierklinge kurz aus meinem Fleisch, nur um sie sofort wieder hineinzudrücken. Ich kniff die Augen zusammen und drückte dreimal wie wahnsinnig auf den Abzug. Gerrys Hand explodierte.
Meine auch.
Die Rasierklinge fiel neben meinem Knie auf den Boden, ich ließ den One-Shot fallen, und das Feuer kletterte das Isolierband hoch, erfasste das Benzin auf Gerrys Arm und fing sich in Danielles Haar. Gerry warf den Kopf in den Nacken, riss den Mund auf und brüllte in Ekstase.
Ich griff nach der Klinge und konnte sie kaum spüren, offensichtlich funktionierten die Nerven in meiner Hand nicht mehr richtig. Mit der Klinge durchschnitt ich das Isolierband am Ende des Gewehrlaufs, und Danielle fiel auf den Boden und wälzte den brennenden Kopf im vereisten Sand.
Ich zog den gebrochenen Finger aus dem Gewehr. Gerry holte aus, um mir mit dem Lauf auf den Kopf zu schlagen.
Die beiden Mündungen der zweiläufigen Flinte kamen wie ein gnadenloses, seelenloses Augenpaar durch die Dunkelheit auf mich zu. Ich hob den Kopf, in den Ohren das Geheul von Gerry, um dessen Hals das Feuer züngelte.
Auf Wiedersehen, dachte ich. Ihr alle. War schön.
Die ersten beiden Schüsse von Oscar traten in Gerrys Hinterkopf ein und aus der Stirn aus, der dritte blieb im Rücken stecken. Die Schrotflinte in Gerrys brennendem Arm wurde nach oben gerissen, dann kamen mehrere Schüsse von vorne, und Gerry drehte sich wie eine Marionette und fiel zu Boden. Im Fallen ging die Flinte zweimal los und schlug Löcher in das Eis vor ihm.
Er landete auf den Knien, und einen Moment lang fragte ich mich, ob er wirklich tot war. Das rostrote Haar stand in Flammen, der Kopf fiel nach links, während ein Auge von den Flammen erfasst wurde. Das andere blickte mich durch die Hitzewellen noch immer an, die Pupille schien amüsiert zu lachen.
Patrick, sagte das Auge im wabernden Qualm, du weißt noch immer nichts.
Oscar erhob sich hinter Gerrys Körper, Campbell Rawson an seine breite Brust gedrückt, die sich vor Anstrengung schnell hob und senkte. Dieser Anblick – etwas so
Kleines, Weiches in den Armen eines so riesigen Klotzes brachte mich zum Lachen.
Oscar kam auf mich zu, ging um Gerrys brennenden Körper herum, und ich fühlte die Hitzewelllen auf mich zukommen, als der Kreis aus Benzin um Gerry Feuer fing.
Verbrenne, dachte ich. Verbrenne. Gott helfe mir.
Oscar hatte den Kreis noch gerade rechtzeitig verlassen, jetzt brannte alles lichterloh, und ich musste über seinen Anblick noch lauter lachen, doch er war nicht im geringsten beeindruckt. Ich fühlte einen kalten Kuss auf meinem Ohr, doch als ich mich umdrehte, war Danielle schon an mir vorbei und stürzte auf ihr Kind in Oscars Armen zu.
Sein riesiger Schatten ragte über mir, ich sah zu ihm auf, und er hielt dem Blick lange stand.
Dann fragte er mit einem breiten Lächeln: „Wie geht’s dir, Patrick?“ Und hinter ihm verbrannte Gerry auf dem Eis.
Aus irgendeinem Grund war alles so verdammt witzig, obwohl ich wusste, dass es nicht so war. Das wusste ich. Wirklich. Aber ich lachte noch immer, als sie mich in den Krankenwagen schoben.