21

„ Sie werden Alec Hardiman treffen „, sagte Bolton ohne aufzublicken, während er durch den Konferenzraum schritt. „Tatsächlich?“
„Sie haben heute mittag um ein Uhr einen Termin mit ihm.“ Ich blickte Devin und Oscar an. „Ach ja?“
„Unsere Abteilung wird alles auf Band aufnehmen.“
Ich nahm gegenüber von Devin Platz, zwischen uns befand sich ein riesengroßer Kirschbaumtisch. Oscar saß links von Devin, der Rest der Plätze war von einem halben Dutzend FBI-Agenten in Anzug und Krawatte belegt. Die meisten von ihnen telefonierten. Devin und Oscar hatten kein Telefon. Vor Bolton am anderen Ende standen zwei auf dem Tisch, ich schätze, ein ganz normales und ein Spezial-Batman-Telefon.
Er erhob sich und kam auf mich zu. „Über was haben Sie mit Kevin Hurlihy gesprochen?“
„Über Politik“, erwiderte ich, „über den momentanen Stand des Yen, solche Sachen.“
Bolton legte die Hand auf meine Stuhllehne und beugte sich so weit vor, dass ich die Hustenpastillen in seinem Mund riechen konnte. „Sagen Sie mir, worüber Sie gesprochen haben, Mr. Kenzie!“ „Was glauben Sie denn, worüber wir gesprochen haben, Spezialagent Bolton? Er hat mir gesagt, ich soll meine Finger vom WarrenFall lassen.“
„Und deshalb haben Sie eine Salve auf sein Auto abgeschossen. „ „Das schien mir zu dem Zeitpunkt eine angemessene Reaktion zu sein.“
„Warum taucht in diesem Fall immer wieder Ihr Name auf?“ „Weiß ich nicht.“
„Warum will Alec Hardiman nur mit Ihnen reden?“
„Noch einmal: Ich habe keine Ahnung.“
Er ließ die Stuhllehne los, blieb hinter Devin und Oscar stehen und schob die Hände in die Hosentaschen. Er sah aus, als hätte er seit einer Woche nicht geschlafen.
„Ich brauche Antworten, Mr. Kenzie.“
„Ich hab aber keine. Ich habe Devin meine Unterlagen über den Warren-Fall rübergefaxt. Ich habe euch Fotos von dem Typ mit dem Spitzbart geschickt. Ich habe Ihnen alles gesagt, was ich noch von der Begegnung mit Kara Rider weiß. Ansonsten tappe ich ebenso im Dunkeln wie alle anderen.“
Er zog die Hand aus der Hosentasche und rieb sich den Nacken. „Was haben Sie, Jack Rouse, Kevin Hurlihy, Jason Warren, Kara Rider, Peter Stimovich, Freddy Constantine, Staatsanwalt Timpson und Alec Hardiman gemeinsam?“
„Ist das eine Denksportaufgabe?“
„Beantworten Sie meine Frage!“
„Ich weiß es nicht, verflucht noch mal!“ Ich hielt die Hände hoch. „Ist das deutlich genug für Sie?“
„Sie müssen uns hier helfen, Mr. Kenzie!“
„Das versuche ich auch, Bolton, aber Ihre Befragungstechnik ist ungefähr so ausgefeilt wie die eines Kredithais.
Wenn Sie mich nerven, werde ich Ihnen keine große Hilfe sein können, weil ich viel zu wütend bin, um nachzudenken.“
Bolton ging zur anderen Seite des Raumes hinüber. Der Raum war mindestens zehn Meter lang und ungefähr drei Meter fünfzig hoch. Bolton zog an einem Tuch, das die ganze rückwärtige Wand verdeckte, und als er es in den Händen hielt, erblickte ich eine riesige Pinnwand, die neunzig Prozent der Wand einnahm.
Mit Stecknadeln und dünnem Draht waren Fotos, Tatortdiagramme, Blätter mit Spektralanalysen und Beweislisten auf dem Kork befestigt. Ich stand ebenfalls auf, ging langsam am Tisch entlang und versuchte, alles in mich aufzunehmen.
Hinter mir bemerkte Devin: „Wir haben alle verhört, die irgendwie mit dem Fall zu tun haben, Patrick. Außerdem wurden alle befragt, die Stimovich und das letzte Opfer, Pamela Stokes, gekannt haben. Ohne Ergebnis. Überhaupt nichts.“
Von allen Opfern gab es Fotos: jeweils zwei, auf denen die Personen noch lebten, und mehrere von den Leichen. Pamela Stokes sah aus, als wäre sie um die Dreißig. Auf einem Bild blinzelte sie in die Sonne und hielt die Hand vor die Stirn, ihr ansonsten nichtssagendes Gesicht wurde von einem breiten Lachen erhellt.
„Was wissen wir über sie?“
„Verkäuferin bei Anne Klein“, antwortete Oscar, „wurde zuletzt vor zwei Tagen gesehen, als sie die Mercury Bar auf der Boylston Street verließ.“
„Allein?“ erkundigte ich mich.
Devin schüttelte den Kopf. „Mit einem Typ, der eine Baseballkappe, Sonnenbrille und einen Ziegenbart trug.“
„Er trug eine Sonnenbrille in einer Bar, und keiner hat Verdacht geschöpft?“
„Bist du schon mal in der Mercury gewesen?“ wollte Oscar wissen. „Die ist doch voll von besonders schicken Möchtegern-VIPs. Die tragen drinnen immer Sonnenbrille!“
„Tja, das ist unser Mann.“ Ich wies auf das Foto von Jason und dem Mann mit dem Bart.
„Wenigstens einer der beiden“, bescheinigte Oscar.
„Bist du sicher, dass es zwei sind?“
„Wir gehen davon aus. Jason Warren wurde ohne Zweifel von zwei Menschen umgebracht.“
„Woher wisst ihr das?“
„Er hat sich gewehrt und sie gekratzt“, erklärte Devin. „Unter seinen Fingernägeln fand sich Gewebe von zwei unterschiedlichen Blutgruppen.“
„Haben die Familien aller Opfer Fotos erhalten, bevor die Leute umgebracht wurden?“
„Ja“, bestätigte Oscar. „Das ist auch alles, was wir als Täterprofil haben. Bei drei der vier Opfer stimmt der Tatort nicht mit dem Fundort der Leichen überein. Kara Rider wurde nach Dorchester gebracht, Stimovich nach Squantum, und die Reste von Pamela Stokes wurden in Lincoln gefunden.“
Unter den Bildern der vier war ein Streifen Papier mit den Worten „Opfer. 1974“ angebracht. Cal Morrisons leicht arrogantes jugendliches Gesicht sah mich an, und obwohl ich bis zu dem Abend in Gerrys Kneipe seit Jahren nicht mehr an ihn gedacht hatte, erinnerte ich mich spontan an den Geruch seines Kokos-Shampoos, das er immer benutzt hatte, und wie wir ihn deswegen aufgezogen hatten.
„Sind alle Opfer auf Gemeinsamkeiten untersucht worden?“ „Ja“, sagte Bolton.
„Und?“
„Es gibt zwei“, gab er Auskunft. „Sowohl Kara Riders Mutter als auch Jason Warrens Vater wuchsen in Dorchester auf.“
„Und die zweite?“
„Kara Rider und Pam Stokes benutzten das gleiche Parfüm. „ „Welches?“
„Das Labor sagt, es war Halston for Women.“
„Das Labor“, wiederholte ich, während ich die Fotos von Jack Rouse, Stan Timpson, Freddy Constantine, Diandra Warren und Diedre Rider betrachtete. Von jeder Person gab es zwei Aufnahmen. Eine aktuelle und eine, die mindestens zwanzig Jahre alt war. „Über das Motiv gibt es keinerlei Anhaltspunkte?“ Fragend sah ich Oscar an, der blickte zur Seite und dann zu Devin. Der wandte sich an Bolton.
„Agent Bolton?“ fragte ich. „Haben Sie einen Anhaltspunkt?“ „Jason Warrens Mutter“, antwortete Bolton schließlich.
„Was ist mit ihr?“
„Sie wurde hin und wieder als psychologische Gutachterin in Verhandlungen hinzugezogen.“
„Und?“
„Und“, fügte er hinzu, „sie hat ein psychologisches Gutachten über Hardiman erstellt, das es ihm letztendlich unmöglich machte, auf unzurechnungsfähig zu plädieren. Mr. Kenzie, Diandra Warren hat Alec Hardiman hinter Gitter gebracht.“
Boltons mobiler Kommandoposten war ein schwarzer Minivan mit getönten Scheiben. Mit laufendem Motor wartete er auf uns, als wir auf die New Sudbury Street traten.
Drinnen saßen zwei Agenten, Erdham und Fields, vor einer schwarz-grauen Computerstation, die die gesamte rechte Wand einnahm. Auf der Ablage befanden sich ein Gewirr aus Kabeln, zwei Computer, zwei Faxgeräte und zwei Laserdrucker. Über der Arbeitsfläche war eine Reihe von sechs Monitoren angebracht, gegenüber an der linken Wand hingen noch einmal sechs. Am anderen Ende des Wageninnenraums erkannte ich digitale Receiver und Aufnahmegeräte, einen Videorecorder mit Doppeldeck, Audio- und Videokassetten, Disketten und CDs.
An der linken Wand war ein kleiner Tisch mit drei Klappsitzen befestigt. Als sich das Fahrzeug in Bewegung setzte, ließ ich mich auf einen Sitz fallen und hielt mich mit der Hand an einem kleinen Kühlschrank fest.
„Fahrt ihr mit dem Ding zum Campen?“ fragte ich.
Bolton ignorierte mich. „Agent Erdham, haben Sie die Verfügung?“ Erdham reichte ihm ein Blatt Papier, das Bolton in die Innentasche seiner Jacke schob.
Er nahm neben mir Platz. „Bei dem Treffen werden Sie von Wächter Lief und dem Chefpsychologen des Gefängnisses, Dr. Dolquist, begleitet werden. Die beiden werden Ihnen alles Notwendige über Hardiman erzählen, so dass mir nicht mehr viel zu sagen bleibt, außer dass Hardiman nicht auf die leichte Schulter genommen werden sollte, egal wie freundlich er wirkt. Er steht in drei Fällen unter Mordverdacht, die im Gefängnis passiert sind, aber keiner von den Insassen in diesem Hochsicherheitstrakt rückt mit Beweisen raus. Das sind alles Serienmörder, Brandstifter und Vergewaltiger, und trotzdem haben sie Angst vor Alec Hardiman. Verstehen Sie mich?“ Ich nickte.
„Die Zelle, in der das Treffen stattfinden wird, ist vollkommen verkabelt. Von dieser Kontrollstation aus können wir sowohl Audio- als auch Videoaufnahmen machen. Wir beobachten jeden Schritt, den Sie tun werden. Hardiman wird an beiden Füssen und mindestens einem Handgelenk angekettet sein. Trotzdem, seien Sie vorsichtig!“ „Hat Ihnen Hardiman seine Einwilligung gegeben für die Aufnahmen?“
„Mit dem Video hat er nichts zu tun. Nur Tonaufnahmen muss er genehmigen.“
„Und hat er zugestimmt?“
Bolton schüttelte den Kopf. „Nein, hat er nicht.“
„Sie machen es aber trotzdem.“
„Ja. Ich will das nicht vor Gericht verwenden. Ich werde es im Verlauf des Falles vielleicht hin und wieder gebrauchen können. Ist das ein Problem für Sie?“
„Eigentlich nicht.“
Der Wagen ruckelte wieder, als er am Haymarket vorbeifuhr und auf die 1-93 bog. Ich lehnte mich zurück, sah aus dem Fenster und fragte mich, wie in aller Welt ich in diese Sache geraten war. Dr. Dolquist war ein kleiner, aber kräftig gebauter Mann, der mir nur kurz in die Augen sah und den Blick dann schnell weiterschweifen ließ.
Wachmann Lief war groß, und sein schwarzer Kopf war so glattrasiert, dass er glänzte. Einige Minuten war ich allein mit Dolquist in Liefs Büro, weil Lief mit Bolton die Einzelheiten der Überwachung absprach.
Dolquist betrachtete ein Foto von Lief, der neben einer weiß verputzten Hütte unter der brennenden Sonne von Florida zusammen mit zwei Freunden einen Speerfisch in die Höhe hielt. Ich wartete darauf, dass die Stille etwas weniger unangenehm würde. „Sind Sie verheiratet, Mr. Kenzie?“ Dolquist starrte das Foto an. „Geschieden. Schon lange.“
„Kinder?“
„Nein. Sie?“
Er nickte. „Zwei. Das hilft.“
„Hilft wobei?“
Er zeigte mit der Hand um sich. „Hiermit klarzukommen. Es hilft, wenn man nach Hause zu den Kindern zurückkehrt, zu ihrem sauberen Geruch.“ Er warf mir einen kurzen Blick zu.
„Das glaube ich Ihnen“, erwiderte ich.
„Ihre Arbeit“, setzte er erneut an, „muss Sie doch mit vielen negativen menschlichen Aspekten in Kontakt bringen.“
„Hängt vom Fall ab.“
„Wie lange machen Sie das schon?“
„Fast zehn Jahre.“
„Dann haben Sie aber früh angefangen.“
„Stimmt.“
„Sehen Sie Ihre Arbeit als Lebensaufgabe?“ Wieder hüpfte dieser flüchtige Blick über mein Gesicht.
„Weiß ich noch nicht genau. Wie steht’s bei Ihnen, Doktor?“ „Ich glaube schon“, antwortete er außerordentlich langsam. „Ich glaube eigentlich schon“, wiederholte er unglücklich.
„Erzählen Sie mir was von Hardiman!“ forderte ich ihn auf. „Alec“, begann er, „ist ein unerklärliches Phänomen. Er hatte ein sehr gutes Elternhaus, keine Anzeichen von Kindesmisshandlung oder Kindheitstrauma, keine frühzeitigen Hinweise auf eine psychische Störung. Soweit wir wissen, folterte er keine Tiere, ließ keine krankhaften Obsessionen
erkennen und war in keinerlei Weise verhaltensauffällig. Er war ein recht guter Schüler und ganz beliebt. Und dann, eines Tages…“ „Was?“
„Wir wissen es nicht. Als er so um die sechzehn Jahre war, fing das Ganze an. Mädchen aus der Nachbarschaft behaupteten, er hätte sich nackt vor ihnen gezeigt. Erwürgte Katzen hingen an Telefonmasten neben seinem Elternhaus. Gewalttätige Ausbrüche im Klassenzimmer. Und dann wieder nichts. Mit siebzehn nahm er wieder den Anschein absoluter Normalität an. Und wenn es den Streit mit Rugglestone nicht gegeben hätte, wer weiß, wie lang die beiden weitergemordet hätten.“
„Da muss doch was gewesen sein.“
Er schüttelte den Kopf. „Ich arbeite jetzt seit ungefähr zwanzig Jahren mit ihm, Mr. Kenzie, und ich habe nichts gefunden. Selbst heute wirkt Alec Hardiman nach außen hin höflich, vernünftig und vollkommen harmlos.“
„Ist er aber nicht.“
Er lachte – ein plötzlicher, grober Laut in dem kleinen Zimmer. „Er ist der gefährlichste Mensch, den ich je gesehen habe.“ Dolquist nahm den Bleistifthalter von Liefs Schreibtisch, betrachtete ihn geistesabwesend und stellte ihn wieder zurück. „Seit drei Jahren ist Alec HIV-positiv.“ Er sah mich an, und einen Moment lang hielt er meinem Blick stand. „Sein Zustand hat sich in jüngster Zeit verschlechtert, die Krankheit ist voll ausgebrochen. Er stirbt bald, Mr. Kenzie.“
„Glauben Sie, er hat mich deshalb hergerufen? Geständnisse auf dem Totenbett, Reue in letzter Minute?“
Er schüttelte den Kopf. „Bestimmt nicht. Alec kennt keine Reue. Seit die Diagnose bei ihm gestellt wurde, wurde er von anderen Menschen ferngehalten. Aber ich glaube,
Alec wusste schon lange vor uns, dass er sich angesteckt hatte. In den zwei Monaten vor der Diagnose hat er mindestens zehn Männer vergewaltigt. Mindestens zehn. Ich bin der festen Überzeugung, dass er das nicht zur Befriedigung seiner sexuellen Begierde tat, sondern zur Befriedigung seiner Mordgelüste.“
Lief steckte den Kopf zur Tür herein. „Es ist soweit.“
Er reichte mir ein paar enge Segeltuchhandschuhe, Dolquist und er zogen ebenfalls welche an.
„Halten Sie die Hände von seinem Mund fern!“ mahnte Dolquist leise, den Blick auf den Boden gerichtet.
Dann verließen wir das Büro. Niemand sprach ein Wort auf dem langen Gang durch den seltsam stillen Zellenblock zu Alec Hardiman.