28
„Was haben diese Leute denn gemacht?“ fragte
Angie.
Wir standen mit Bolton, Devin, Oscar, Erdham und Fields vor Angies
Couchtisch und betrachteten die Abzüge eines Fotos, das Fields
durch einen nächtlichen Anruf beim Herausgeber der Dorchester
Community Sun erhalten hatte, eines lokalen Wochenblattes, das seit
1962 erschien.
Das Bild stammte aus einer überschwenglichen Reportage über
Nachbarschaftshilfe vom 12. Juni 1974. Unter der Überschrift
NACHBARN ÜBERNEHMEN VERANTWORTUNG schwärmte der Artikel von den
kühnen Heldentaten des EES, aber auch von der
Adams-Corner-Nachbarschaftshilfe aus Neponset, von dem Gemeindebund
Savin Hill, der Initiative „Bürger gegen Gewalt“ aus Field’s Corner
und von der Gruppe „Bürgerstol“ in Ashmont. Im dritten Absatz wurde
mein Vater zitiert: „Ich bin Feuerwehrmann, und Feuerwehrmänner
wissen ganz genau, dass man ein Feuer in den unteren Stockwerken
aufhalten muss, sonst gerät es außer Kontrolle.“
„Dein Alter hatte ein Naschen für treffende Formulierungen“, meinte
Oscar. „Schon damals.“
„Das war einer seiner Lieblingssprüche. Den hat er jahrelang
geübt.“
Fields hatte das Foto der EES-Mitglieder vergrößert; dort standen
sie auf dem Basketballfeld am Ryan-Spielplatz und versuchten,
gleichzeitig entschlossen und freundlich zu wirken.
Mein Vater und Jack Rouse knieten in der Mitte des Bildes links und
rechts von einem EES-Schild mit Kleeblättern in den oberen Ecken.
Beide sahen aus, als posierten sie für Football-Sammelbildchen, als
ahmten sie die typische Stellung von Defensive Linemen nach: die
Fäuste auf den Boden gestützt, die Hände am Schild.
Hinter ihnen stand Stan Timpson in jungen Jahren, er trug als
einziger eine Krawatte, von links nach rechts gefolgt von Diedre
Rider, Emma Hurlihy, Paul Burns und Terry Climstich.
„Was ist das da?“ fragte ich und zeigte auf einen kleinen schwarzen
Fleck rechts neben dem Foto.
„Der Name des Fotografen“, erwiderte Fields.
„Können wir das irgendwie vergrößern, damit wir es lesen können?“
„Hab ich schon gemacht, Mr. Kenzie.“
Wir blickten ihn an.
„Das Bild hat Diandra Warren aufgenommen.“
Sie sah aus wie der Tod.
Das Gesicht war kalkweiß, ihre Kleidung zerknittert.
„Erzählen Sie mir vom Edward-Everett-Schutzverein, Diandra. Bitte!“
forderte ich sie auf.
„Von wem?“ Mit verquollenen Augen sah sie mich an. Es kam mir vor,
als stände jemand vor mir, den ich als jungen Menschen gekannt,
aber seit vielen Jahren nicht mehr gesehen hatte, und nun musste
ich erkennen, dass die Zeit ihn nicht nur aufgerieben, sondern
gnadenlos verbraucht hatte.
Ich legte das Foto vor ihr auf die Theke.
„Ihr Mann, mein Vater, Jack Rouse, Emma Hurlihy, Diedre Rider.“
„Das war vor fünfzehn oder zwanzig Jahren“, winkte sie ab.
„Zwanzig“, korrigierte Bolton.
„Warum haben Sie meinen Namen nicht erkannt?“ fragte ich. „Sie
kannten meinen Vater.“
Leicht legte sie den Kopf zur Seite und sah mich an, als hätte ich
gerade behauptet, sie wäre meine verschollene Schwester. „Ich habe
Ihren Vater nicht gekannt, Mr. Kenzie.“
Ich zeigte auf das Foto. „Da ist er, Dr. Warren. Nur wenige
Zentimeter von ihrem Mann entfernt.“
„Das ist Ihr Vater?“ Sie betrachtete das Bild.
„Ja. Und das da neben ihm ist Jack Rouse. Und links hinter ihm
steht Kevin Hurlihys Mutter.“
„Ich…“ Sie beäugte die Gesichter. „Ich kannte diese Leute nicht
namentlich, Mr. Kenzie. Ich habe das Foto gemacht, weil Stan mich
darum gebeten hatte. Dieser alberne Verein war seine Sache, nicht
meine. Ich habe sogar verboten, dass sie sich bei uns zu Hause
trafen.“
„Warum?“
Sie seufzte und winkte abfällig mit der Hand. „Dieses ganze
Machogehabe unter dem Vorwand der Nächstenliebe. Das war einfach
albern. Stan wollte mich davon überzeugen, wie gut das in seinem
Lebenslauf aussehen würde, aber er war nicht besser als die
anderen: Man gründe eine Straßengang und nenne das Ganze
Nachbarschaftshilfe.“
Bolton mischte sich ein: „Aus unseren Aufzeichnungen geht hervor,
dass Sie im November 1974 die Scheidung von Mr. Timpson
beantragten. Warum?“
Sie zuckte mit den Achseln und gähnte hinter vorgehaltener Hand.
„Dr. Warren?“
„Mein Gott!“ stieß sie aus. „Mein Gott.“ Dann blickte sie zu uns
auf, und einen kurzen Moment lang kehrte das Leben in ihr Gesicht
zurück, doch genauso schnell war es wieder verschwunden. Sie ließ
den Kopf in die Hände sinken, Haarsträhnen lösten sich und fielen
ihr über die Finger.
„In dem Sommer zeigte Stanley sein wahres Gesicht. Im Grunde seines
Herzens war er ein Katholik, überzeugt von seiner moralischen
Überlegenheit. Er kam mit Blut an den Schuhen nach Hause, weil er
einen armen Autodieb getreten hatte, und wollte mir erzählen, das
wäre Gerechtigkeit. Er wurde abstoßend… in sexueller Hinsicht,
behandelte mich nicht mehr wie seine Ehefrau, sondern wie eine
Sklavin. Aus einem eigentlich anständigen Mann, der ein bisschen
Schwierigkeiten mit seiner Männlichkeit hatte, wurde ein
SA-Offizier.“
Sie tippte auf das Bild. „Und dieser Verein war schuld daran! Diese
alberne, verrückte Gruppe von Spinnern!“
„Gab es irgendeinen besonderen Vorfall, an den Sie sich erinnern,
Dr. Warren?“
„In welcher Hinsicht?“
„Hat er Ihnen Geschichten von der Front erzählt?“ half Devin.
„Nein. Nicht mehr, nachdem wir uns über das Blut an seinem Schuh
gestritten hatten.“
„Und Sie sind sicher, dass es das Blut von einem Autodieb war?“ Sie
nickte.
„Dr. Warren“, sprach ich sie an, und sie wandte sich mir zu, „wenn
Sie und Timpson sich so entfremdet hatten,
warum haben Sie der Staatsanwaltschaft dann im HardimanProzess
geholfen?“
„Stan hatte mit dem Fall nichts zu tun. Damals arbeitete er beim
Schnellgericht und verfolgte Prostituierte. Ich hatte der
Staatsanwaltschaft schon einmal geholfen, als ein Angeklagter auf
Unzurechnungsfähigkeit plädierte, und sie waren mit meinem
Gutachten zufrieden, deshalb wurde ich gebeten, Alec Hardiman zu
untersuchen. Meiner Ansicht nach war er sozial gestört, paranoid
und neigte zu Größenwahn, aber gesetzlich gesehen war er gesund. Er
kannte den Unterschied zwischen richtig und falsch sehr gut.“ „Gab
es eine Verbindung zwischen dem EES und Alec Hardiman?“ fragte
Oscar.
Sie schüttelte den Kopf. „Nicht dass ich wüsste.“
„Warum löste sich der EES auf?“
Sie zuckte mit den Schultern. „Wahrscheinlich wurde das Ganze
langweilig. Ich weiß es wirklich nicht. Damals wohnte ich schon
nicht mehr da. Stan zog ein paar Monate später fort.“
„Sonst können Sie sich an nichts erinnern?“
Lange starrte sie auf das Foto.
„Ich weiß noch“, antwortete sie müde, „dass ich schwanger war, als
ich das Foto machte, und dass mir an dem Tag richtig schlecht war.
Ich redete mir ein, das käme von der Hitze und von dem Kind, das in
mir wuchs. Aber das war es nicht. Es kam von ihnen.“ Sie schob die
Aufnahme fort. „Diese Gruppe hatte etwas Krankes an sich, etwas
Verdorbenes. Als ich das Foto machte, hatte ich das Gefühl, dass
sie irgend jemandem eines Tages schweres Leid zufügen würden. Und
dass sie daran Spaß haben würden.“
Im Einsatzwagen nahm Fields die Kopfhörer ab und sah Bolton an.
„Der Gefängnispsychologe, dieser Dr. Dolquist,
versucht, Mr. Kenzie zu erreichen. Soll ich ihn durchstellen?“
Bolton nickte und sagte zu mir: „Machen Sie den Lautsprecher an.“
Beim ersten Klingeln hob ich ab.
„Mr. Kenzie? Ron Dolquist.“
„Dr. Dolquist“, meldete ich mich, „darf ich den Lautsprecher
anstellen?“
„Ja, sicher.“
Seine Stimme bekam einen metallischen Klang.
„Mr. Kenzie, ich bin jetzt stundenlang die ganzen Aufzeichnungen
durchgegangen, die ich mir im Laufe der Jahre von meinen Sitzungen
mit Alec Hardiman gemacht habe, und ich glaube, ich bin da auf
etwas gestoßen. Der Wachmann Lief hat mir erzählt, Sie sind der
Meinung, Evandro Arujo arbeite draußen auf Hardimans
Befehl?“
„Das stimmt.“
„Haben Sie die Möglichkeit in Erwägung gezogen, dass Evandro einen
Partner haben könnte?“
Die acht Menschen im Wagen blickten alle gleichzeitig auf den
Lautsprecher.
„Wie kommen Sie darauf, Dr. Dolquist?“
„Hm, ich hatte das inzwischen vergessen, aber in den ersten Jahren
sprach Alec sehr oft von einem Mann namens John.“
„John?“
„Ja. Damals wollte Alec, dass das Urteil revidiert würde, und er
zog alle Register, um die Psychiatrische Abteilung davon zu
überzeugen, dass er größenwahnsinnig, paranoid, schizophren oder
was sonst auch immer sei. Dieser John, glaubte ich damals, sei ein
Versuch von ihm, ein Multiple-Persönlichkeits-Syndrom
vorzutäuschen. Nach 1979 hat er nie wieder von ihm
gesprochen.“
Bolton beugte sich über meine Schulter. „Warum sind Sie jetzt
anderer Ansicht, Doktor?“
„Agent Bolton? Ach. Na ja, damals hielt ich es für möglich, dass
John eine Manifestation seiner eigenen Persönlichkeit sei, ein
Phantasie-Alec sozusagen, der durch Wände gehen, im Nebel
verschwinden konnte und so weiter. Aber als ich gestern nacht die
Aufzeichnungen durchsah, stieß ich immer wieder auf Hinweise auf
seine Trinität, und da fiel mir wieder ein, dass er zu Ihnen, Mr.
Kenzie, gesagt hat, Sie würden zu einem Mann mit Einfluss gemacht
werden, und zwar von…“ „
„Dem Vater, dem Sohn und dem Heiligen Geist“, erinnerte ich mich.
„Ja. Oft, wenn Alec von diesem John sprach, nannte er ihn Vater
John. Alec wäre dann der Sohn. Und der Geist…“
„Ist Arujo“, ergänzte ich. „Er verschwindet im Nebel.“
„Genau. Alecs Verständnis von der Bedeutung der Heiligen
Dreifaltigkeit lässt einiges zu wünschen übrig, aber das macht er
mit vielen mythologischen und religiösen Bildern so: Er nimmt das,
was er braucht, und verschmilzt es so, dass es für seine Zwecke
passt. Den Rest wirft er raus.“
„Erzählen Sie uns mehr von John, Doktor!“
„Ja, ja. Wenn man Alec glaubt, gibt sich John als das genaue
Gegenteil von dem, was er wirklich ist. Nur vor seinen Opfern und
seinen Vertrauten – Hardiman, Rugglestone und jetzt Arujo – nimmt
er die Maske herunter und zeigt ihnen >sein wahres Gesicht, den
reinen Zorn<, wie Alec sich ausdrückte. Wenn man John sieht,
dann erkennt man nur das, was man in einem Menschen sehen will; man
sieht Güte, Weisheit und Freundlichkeit. Aber John ist ganz und gar
nicht so. Alec zufolge ist John ein >Wissenschaftler<, der
menschliches Leiden aus erster Hand
studiert, damit er Hinweise auf den Grund der Schöpfung erhält.“
„Den Grund der Schöpfung?“ fragte ich.
„Ich lese Ihnen mal aus den Aufzeichnungen vor, die ich während
einer Sitzung mit Alec im September ‘78 machte, kurz bevor er
aufhörte, von John zu sprechen. Ich zitiere Alec Hardiman: >Wenn
Gott gütig ist, warum besitzen wir dann die Fähigkeit, Schmerz zu
empfinden? Unsere Nerven sollen uns auf Gefahren aufmerksam machen;
das ist der biologische Grund für Schmerzen. Aber wir empfinden
Schmerz weit über den Grad hinaus, der zur Warnung vor Gefahr
notwendig ist. Wir können Schmerzen in einem Masse empfinden, das
sich jeder Beschreibung entzieht. Und wir besitzen nicht nur diese
Fähigkeit, die ja auch alle Tiere haben, sondern zusätzlich noch
die geistige Fähigkeit, das Erlittene emotional und psychisch
wieder und wieder zu durchleben. Diese Fähigkeit besitzt kein
anderes Tier. Hasst Gott uns so sehr? Oder liebt er uns so sehr?
Oder ist das ein absichtlicher Fehler in unserer DNA, und wenn ja,
ist dann der Grund für all die Schmerzen, dass wir abgehärtet
werden sollen? Dass uns das Leid anderer Menschen gleichgültig
lassen soll, so wie ihn? Und sollten wir ihn dann nicht nachahmen,
so wie John es tut? Sollten wir dann nicht den Schmerz und die
Methoden, anderen Schmerz zuzufügen, hochachten und ständig
weiterentwickeln? Das versteht John unter Reinheit. <„ Dolquist
räusperte sich. „Zitatende.“
„Doktor?“ fragte Bolton.
„Ja?“
„Schildern Sie uns einfach mal Ihre Vorstellung von John!“ „Er ist
ein kräftiger Mann, und das kann man erkennen, wenn man ihn sieht,
aber es ist nicht zu offenkundig. Er ist
kein Bodybuilder, verstehen Sie, einfach ein starker Mann. Auf
andere wirkt er ziemlich normal und vernünftig, vielleicht sogar
weise. Ich würde vermuten, dass er in seiner Umgebung geschätzt
wird, er tut Gutes in kleinem Rahmen.“
„Ist er verheiratet?“ erkundigte sich Bolton.
„Das glaube ich nicht. Selbst er wüsste, dass eine Frau und Kinder
seine Veranlagung spüren würden, auch wenn er sich noch so gut
verstellte. Vielleicht war er mal verheiratet, aber jetzt nicht
mehr.“ „Was noch?“
„Ich bin der Meinung, dass er nicht in der Lage war, das Töten in
den letzten zwanzig Jahren seinzulassen. Das brächte er nicht
fertig. Ich glaube, er hat die Morde nur nicht öffentlich werden
lassen.“ Alle blickten Angie an, die sich an einen nicht
vorhandenen Hut tippte.
„Und sonst, Dr. Dolquist?“
„Der größte Nervenkitzel sind für ihn die Morde. Aber am
zweitwichtigsten ist die Erregung, hinter einer Maske zu leben.
Getarnt beobachtet John die anderen und lacht sie im Schütze der
Maske aus. Das ist für ihn ein sexueller Akt, und deshalb muss er
die Maske jetzt nach so vielen Jahren abnehmen.“
„Ich kann Ihnen nicht folgen“, wandte ich ein.
„Stellen Sie sich eine Dauererektion vor, wenn Sie wollen. John
wartet nun seit über zwanzig Jahren auf den Höhepunkt. Sosehr er
seine Erektion genießt, wird der Drang zu ejakulieren doch immer
stärker.“
„Er will gefasst werden?“
„Er will sich zeigen. Das ist nicht dasselbe. Er will seine Maske
abnehmen und Ihnen ins Gesicht spucken, wenn Sie ihm in seine
wahren Augen sehen, aber das heißt nicht, dass er sich
widerstandslos in Handschellen abführen lässt.“
„Sonst noch etwas, Doktor?“
„Ja. Ich denke, dass er Mr. Kenzie kennt. Und zwar nicht so, dass
er schon von ihm gehört hat. Nein, er kennt ihn schon sehr lange.
Sie haben miteinander gesprochen. Von Angesicht zu Angesicht.“
„Warum glauben Sie das?“
„Ein Mensch wie er baut seltsame Beziehungen auf, aber auch wenn
sie sehr seltsam sind, sind sie ihm ungeheuer wichtig. Es ist für
ihn von größter Wichtigkeit, dass er einen seiner Verfolger kennt.
Aus irgendeinem Grund hat er Sie ausgesucht, Mr. Kenzie. Und das
ließ er Sie wissen, indem Hardiman ein Gespräch mit Ihnen
verlangte. Sie und John kennen sich, Mr. Kenzie. Darauf wette
ich.“
„Vielen Dank, Doktor!“ sagte Bolton. „Ich nehme an, Sie haben uns
aus Ihren Aufzeichnungen vorgelesen, weil Sie nicht die Absicht
haben, sie uns zu überlassen.“
„Nicht ohne gerichtliche Anordnung“, antwortete Dolquist, „und
selbst dann gäbe es großen Ärger. Wenn ich hier noch etwas finde,
was die Morde vielleicht aufhalten kann, melde ich mich auf der
Stelle. Mr. Kenzie?“
„Ja?“
„Kann ich kurz mit Ihnen alleine sprechen?“
Bolton zuckte mit den Achseln, so dass ich den Lautsprecher
ausschaltete und mir den Hörer ans Ohr drückte. „Ja, bitte,
Doktor?“ „Alec hat sich geirrt.“
„Womit?“
„Mit meiner Frau. Er hatte unrecht.“
„Das freut mich zu hören“, erwiderte ich.
„Ich wollte nur…. dass Sie das wissen. Er hatte unrecht“,
wiederholte Dolquist. „Auf Wiedersehen, Mr. Kenzie.“
„Auf Wiedersehen, Doktor.“
„Stan Timpson ist in Cancun“, meldete Erdham.
„Was?“ rief Bolton.
„Das ist korrekt, Sir. Vor drei Tagen ist er für eine kleine
Erholungsreise mit Frau und Kindern runtergeflogen.“
„Eine kleine Erholungsreise“, wiederholte Bolton. „Er ist der
Staatsanwalt des Verwaltungsbezirks Suffolk, wo gerade ein
Serienmörder umgeht. Da fliegt er nach Mexiko?“ Er schüttelte den
Kopf. „Holt ihn her!“
„Wie bitte? Ich bin doch kein Feldjäger!“
Bolton zeigte mit dem Finger auf ihn. „Dann schickt welche runter.
Schickt zwei Agenten hinter ihm her und holt ihn zurück!“ „In Haft,
Sir?“
„Zur Vernehmung. Wo wohnt er?“
„Seine Sekretärin sagt, er wohne im Marriott.“
„Jetzt kommt gleich ein Aber. Ich kann es spüren.“
Erdham nickte. „Er hat dort nicht eingecheckt.“
„Vier Agenten“, verbesserte sich Bolton. „Ich will vier Agenten ins
nächste Flugzeug nach Cancun! Und holt mir seine Sekretärin her.“
„Ja, Sir.“ Erdham griff nach dem Telefon, während der Wagen auf die
Schnellstrasse fuhr.
„Die sind alle untergetaucht, was?“ warf ich ein.
Bolton seufzte. „Sieht so aus. Jack Rouse und Kevin Hurlihy sind
nicht aufzufinden. Diedre Rider ist seit der Beerdigung ihrer
Tochter nicht mehr gesichtet worden.“
„Was ist mit Burns und Climstich?“ fragte Angie.
„Beide tot. Paul Burns war Bäcker. ‘77 hat er den Kopf in einen
seiner Öfen gesteckt. Climstich starb ‘83 an einem Herzinfarkt.
Keine Hinterbliebenen.“ Er ließ das Foto auf seinen Schoss fallen
und sah es an. „Sie sehen Ihrem Vater sehr ähnlich, Mr. Kenzie.“
„Ich weiß“, erwiderte ich.
„Sie haben gesagt, er sei ein Tyrann gewesen. War das alles?“ „Wie
meinen Sie das?“
„Ich muss wissen, wozu der Mann fähig war.“
„Der war zu allem fähig, Agent Bolton.“
Bolton nickte und blätterte durch seine Akten. „Emma Hurlihy wurde
‘75 ins Della-Vorstin-Heim eingeliefert. Davor gab es in ihrer
Familie keine Hinweise auf Geisteskrankheit, auch ihre psychischen
Störungen begannen erst Ende ‘74. Diedre Riders erste Festnahme
wegen Trunkenheit und Erregung öffentlichen Ärgernisses war im
Februar ‘75. Von da an wurde sie regelmäßig von der Polizei
aufgegriffen. Jack Rouse wandelte sich innerhalb von fünf Jahren
von einem kleinen korrupten Ladenbesitzer zum Kopf der irischen
Mafia. In den Berichten, die ich vom Amt für Organisiertes
Verbrechen und von der Abteilung für Schwerstkriminalität der
Bostoner Polizei bekommen habe, heißt es, Rouse’ Aufstieg an die
Spitze der irischen Mafia sei der blutigste in der Geschichte von
Boston gewesen. Er brachte einfach jeden um, der ihm im Weg war.
Wie konnte das gehen? Woher bekam ein unbedeutendes kleines
Würstchen den Mumm, sich über Nacht zur Nummer eins
aufzuschwingen?“ Bolton sah uns an, doch wir schüttelten den
Kopf.
Wieder blätterte er um. „Staatsanwalt Stanley Timpson, ja, das ist
ein interessanter Fall. Hat in Harvard fast als Jahrgangsletzter
abgeschlossen. Hat seine Jura-Ausbildung in Suffolk nur bis zur
Hälfte geschafft. Ist zweimal durchgefallen, bevor er die Zulassung
als Anwalt bekam. Er ist überhaupt nur zur Staatsanwaltschaft
gekommen, weil Diandra Warrens Vater seine Beziehungen spielen
ließ, und anfangs hatte er keinen besonders guten Ruf. Dann, 1975,
wird er plötzlich zu einem Tiger. Er verdient sich
Respekt,
und das beim Schnellgericht, weil er sich weigert, inoffizielle
Absprachen zu treffen. Er steigt auf in die nächste Instanz, da
geht es so weiter. Langsam haben die Leute Angst vor ihm, und die
Staatsanwaltschaft übergibt ihm immer mehr Schwerverbrechen, doch
sein Stern steigt weiter. 1984 gilt er als gefürchtetster
Staatsanwalt von ganz Neuengland. Noch einmal: Wie konnte das
gehen?“ Der Lieferwagen bog von der Schnellstrasse ab und fuhr in
Richtung St.-Bart’s-Kirche, wo Bolton seine allmorgendliche
Einsatzbesprechung abhielt.
„Ihr Vater, Mr. Kenzie, ließ sich ‘78 für den Stadtrat aufstellen.
Im Amt scheint er nichts anderes zu tun, als einer erbarmungslosen
Machtgier zu frönen, die selbst Lyndon Johnson die Schamesröte ins
Gesicht getrieben hätte. Allen Quellen zufolge ist er ein
miserabler Staatsdiener, aber ein hervorragender Politiker. Wieder
haben wir eine unauffällige Person – mein Gott, ein Feuerwehrmann
–, die weit über das hinauswächst, was man von ihr erwartet hätte.“
„Was ist mit Climstich?“ fragte Angie. „Burns hat sich umgebracht,
aber gab es bei Climstich irgendwelche Anzeichen einer
Veränderung?“
„Mr. Climstich wurde zu einer Art Einsiedler. Seine Frau verließ
ihn im Herbst ‘75. Die eidesstattlichen Erklärungen der Scheidung
zeigen, dass sich Mrs. Climstich auf unversöhnliche Differenzen
nach achtundzwanzig Ehejahren berief. Sie gab an, ihr Ehemann habe
sich zurückgezogen, sei krank und der Pornographie verfallen.
Außerdem gab sie an, besagte Pornographie sei von besonders
abartiger Natur, Mr. Climstich sei von Sodomie besessen.“
„Worauf wollen Sie mit diesen ganzen Sachen hinaus, Agent Bolton?“
fragte Angie.
„Ich meine, dass all diesen Menschen etwas ganz Seltsames passiert
ist. Entweder wurden sie sehr erfolgreich und
übertrafen alle Erwartungen hinsichtlich ihrer Lebensziele, oder
aber“, er fuhr mit dem Finger über Emma Hurlihy und Paul Burns,
„sie kamen mit dem Leben nicht mehr zurecht und implodierten.“ Er
sah Angie an, als wüsste sie die Antwort. „Irgend etwas hat diese
Leute verändert, Ms. Gennaro. Irgend etwas hat sie verwandelt.“ Der
Wagen hielt hinter der Kirche, und Angie sah sich das Foto an und
fragte noch einmal: „Was haben diese Leute gemacht?“ „Ich weiß es
nicht“, erwiderte Bolton und grinste gequält in meine Richtung.
„Aber wie Alec Hardiman sagen würde, es hatte auf jeden Fall einen
großen Einfluss.“