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„Was haben diese Leute denn gemacht?“ fragte Angie.
Wir standen mit Bolton, Devin, Oscar, Erdham und Fields vor Angies Couchtisch und betrachteten die Abzüge eines Fotos, das Fields durch einen nächtlichen Anruf beim Herausgeber der Dorchester Community Sun erhalten hatte, eines lokalen Wochenblattes, das seit 1962 erschien.
Das Bild stammte aus einer überschwenglichen Reportage über Nachbarschaftshilfe vom 12. Juni 1974. Unter der Überschrift NACHBARN ÜBERNEHMEN VERANTWORTUNG schwärmte der Artikel von den kühnen Heldentaten des EES, aber auch von der Adams-Corner-Nachbarschaftshilfe aus Neponset, von dem Gemeindebund Savin Hill, der Initiative „Bürger gegen Gewalt“ aus Field’s Corner und von der Gruppe „Bürgerstol“ in Ashmont. Im dritten Absatz wurde mein Vater zitiert: „Ich bin Feuerwehrmann, und Feuerwehrmänner wissen ganz genau, dass man ein Feuer in den unteren Stockwerken aufhalten muss, sonst gerät es außer Kontrolle.“
„Dein Alter hatte ein Naschen für treffende Formulierungen“, meinte Oscar. „Schon damals.“
„Das war einer seiner Lieblingssprüche. Den hat er jahrelang geübt.“
Fields hatte das Foto der EES-Mitglieder vergrößert; dort standen sie auf dem Basketballfeld am Ryan-Spielplatz und versuchten, gleichzeitig entschlossen und freundlich zu wirken.
Mein Vater und Jack Rouse knieten in der Mitte des Bildes links und rechts von einem EES-Schild mit Kleeblättern in den oberen Ecken. Beide sahen aus, als posierten sie für Football-Sammelbildchen, als ahmten sie die typische Stellung von Defensive Linemen nach: die Fäuste auf den Boden gestützt, die Hände am Schild.
Hinter ihnen stand Stan Timpson in jungen Jahren, er trug als einziger eine Krawatte, von links nach rechts gefolgt von Diedre Rider, Emma Hurlihy, Paul Burns und Terry Climstich.
„Was ist das da?“ fragte ich und zeigte auf einen kleinen schwarzen Fleck rechts neben dem Foto.
„Der Name des Fotografen“, erwiderte Fields.
„Können wir das irgendwie vergrößern, damit wir es lesen können?“ „Hab ich schon gemacht, Mr. Kenzie.“
Wir blickten ihn an.
„Das Bild hat Diandra Warren aufgenommen.“
Sie sah aus wie der Tod.
Das Gesicht war kalkweiß, ihre Kleidung zerknittert.
„Erzählen Sie mir vom Edward-Everett-Schutzverein, Diandra. Bitte!“ forderte ich sie auf.
„Von wem?“ Mit verquollenen Augen sah sie mich an. Es kam mir vor, als stände jemand vor mir, den ich als jungen Menschen gekannt, aber seit vielen Jahren nicht mehr gesehen hatte, und nun musste ich erkennen, dass die Zeit ihn nicht nur aufgerieben, sondern gnadenlos verbraucht hatte.
Ich legte das Foto vor ihr auf die Theke.
„Ihr Mann, mein Vater, Jack Rouse, Emma Hurlihy, Diedre Rider.“ „Das war vor fünfzehn oder zwanzig Jahren“, winkte sie ab. „Zwanzig“, korrigierte Bolton.
„Warum haben Sie meinen Namen nicht erkannt?“ fragte ich. „Sie kannten meinen Vater.“
Leicht legte sie den Kopf zur Seite und sah mich an, als hätte ich gerade behauptet, sie wäre meine verschollene Schwester. „Ich habe Ihren Vater nicht gekannt, Mr. Kenzie.“
Ich zeigte auf das Foto. „Da ist er, Dr. Warren. Nur wenige Zentimeter von ihrem Mann entfernt.“
„Das ist Ihr Vater?“ Sie betrachtete das Bild.
„Ja. Und das da neben ihm ist Jack Rouse. Und links hinter ihm steht Kevin Hurlihys Mutter.“
„Ich…“ Sie beäugte die Gesichter. „Ich kannte diese Leute nicht namentlich, Mr. Kenzie. Ich habe das Foto gemacht, weil Stan mich darum gebeten hatte. Dieser alberne Verein war seine Sache, nicht meine. Ich habe sogar verboten, dass sie sich bei uns zu Hause trafen.“
„Warum?“
Sie seufzte und winkte abfällig mit der Hand. „Dieses ganze Machogehabe unter dem Vorwand der Nächstenliebe. Das war einfach albern. Stan wollte mich davon überzeugen, wie gut das in seinem Lebenslauf aussehen würde, aber er war nicht besser als die anderen: Man gründe eine Straßengang und nenne das Ganze Nachbarschaftshilfe.“
Bolton mischte sich ein: „Aus unseren Aufzeichnungen geht hervor, dass Sie im November 1974 die Scheidung von Mr. Timpson beantragten. Warum?“
Sie zuckte mit den Achseln und gähnte hinter vorgehaltener Hand. „Dr. Warren?“
„Mein Gott!“ stieß sie aus. „Mein Gott.“ Dann blickte sie zu uns auf, und einen kurzen Moment lang kehrte das Leben in ihr Gesicht zurück, doch genauso schnell war es wieder verschwunden. Sie ließ den Kopf in die Hände sinken, Haarsträhnen lösten sich und fielen ihr über die Finger.
„In dem Sommer zeigte Stanley sein wahres Gesicht. Im Grunde seines Herzens war er ein Katholik, überzeugt von seiner moralischen Überlegenheit. Er kam mit Blut an den Schuhen nach Hause, weil er einen armen Autodieb getreten hatte, und wollte mir erzählen, das wäre Gerechtigkeit. Er wurde abstoßend… in sexueller Hinsicht, behandelte mich nicht mehr wie seine Ehefrau, sondern wie eine Sklavin. Aus einem eigentlich anständigen Mann, der ein bisschen Schwierigkeiten mit seiner Männlichkeit hatte, wurde ein SA-Offizier.“
Sie tippte auf das Bild. „Und dieser Verein war schuld daran! Diese alberne, verrückte Gruppe von Spinnern!“
„Gab es irgendeinen besonderen Vorfall, an den Sie sich erinnern, Dr. Warren?“
„In welcher Hinsicht?“
„Hat er Ihnen Geschichten von der Front erzählt?“ half Devin. „Nein. Nicht mehr, nachdem wir uns über das Blut an seinem Schuh gestritten hatten.“
„Und Sie sind sicher, dass es das Blut von einem Autodieb war?“ Sie nickte.
„Dr. Warren“, sprach ich sie an, und sie wandte sich mir zu, „wenn Sie und Timpson sich so entfremdet hatten,
warum haben Sie der Staatsanwaltschaft dann im HardimanProzess geholfen?“
„Stan hatte mit dem Fall nichts zu tun. Damals arbeitete er beim Schnellgericht und verfolgte Prostituierte. Ich hatte der Staatsanwaltschaft schon einmal geholfen, als ein Angeklagter auf Unzurechnungsfähigkeit plädierte, und sie waren mit meinem Gutachten zufrieden, deshalb wurde ich gebeten, Alec Hardiman zu untersuchen. Meiner Ansicht nach war er sozial gestört, paranoid und neigte zu Größenwahn, aber gesetzlich gesehen war er gesund. Er kannte den Unterschied zwischen richtig und falsch sehr gut.“ „Gab es eine Verbindung zwischen dem EES und Alec Hardiman?“ fragte Oscar.
Sie schüttelte den Kopf. „Nicht dass ich wüsste.“
„Warum löste sich der EES auf?“
Sie zuckte mit den Schultern. „Wahrscheinlich wurde das Ganze langweilig. Ich weiß es wirklich nicht. Damals wohnte ich schon nicht mehr da. Stan zog ein paar Monate später fort.“
„Sonst können Sie sich an nichts erinnern?“
Lange starrte sie auf das Foto.
„Ich weiß noch“, antwortete sie müde, „dass ich schwanger war, als ich das Foto machte, und dass mir an dem Tag richtig schlecht war. Ich redete mir ein, das käme von der Hitze und von dem Kind, das in mir wuchs. Aber das war es nicht. Es kam von ihnen.“ Sie schob die Aufnahme fort. „Diese Gruppe hatte etwas Krankes an sich, etwas Verdorbenes. Als ich das Foto machte, hatte ich das Gefühl, dass sie irgend jemandem eines Tages schweres Leid zufügen würden. Und dass sie daran Spaß haben würden.“
Im Einsatzwagen nahm Fields die Kopfhörer ab und sah Bolton an. „Der Gefängnispsychologe, dieser Dr. Dolquist,
versucht, Mr. Kenzie zu erreichen. Soll ich ihn durchstellen?“ Bolton nickte und sagte zu mir: „Machen Sie den Lautsprecher an.“ Beim ersten Klingeln hob ich ab.
„Mr. Kenzie? Ron Dolquist.“
„Dr. Dolquist“, meldete ich mich, „darf ich den Lautsprecher anstellen?“
„Ja, sicher.“
Seine Stimme bekam einen metallischen Klang.
„Mr. Kenzie, ich bin jetzt stundenlang die ganzen Aufzeichnungen durchgegangen, die ich mir im Laufe der Jahre von meinen Sitzungen mit Alec Hardiman gemacht habe, und ich glaube, ich bin da auf etwas gestoßen. Der Wachmann Lief hat mir erzählt, Sie sind der Meinung, Evandro Arujo arbeite draußen auf Hardimans Befehl?“
„Das stimmt.“
„Haben Sie die Möglichkeit in Erwägung gezogen, dass Evandro einen Partner haben könnte?“
Die acht Menschen im Wagen blickten alle gleichzeitig auf den Lautsprecher.
„Wie kommen Sie darauf, Dr. Dolquist?“
„Hm, ich hatte das inzwischen vergessen, aber in den ersten Jahren sprach Alec sehr oft von einem Mann namens John.“
„John?“
„Ja. Damals wollte Alec, dass das Urteil revidiert würde, und er zog alle Register, um die Psychiatrische Abteilung davon zu überzeugen, dass er größenwahnsinnig, paranoid, schizophren oder was sonst auch immer sei. Dieser John, glaubte ich damals, sei ein Versuch von ihm, ein Multiple-Persönlichkeits-Syndrom vorzutäuschen. Nach 1979 hat er nie wieder von ihm gesprochen.“
Bolton beugte sich über meine Schulter. „Warum sind Sie jetzt anderer Ansicht, Doktor?“
„Agent Bolton? Ach. Na ja, damals hielt ich es für möglich, dass John eine Manifestation seiner eigenen Persönlichkeit sei, ein Phantasie-Alec sozusagen, der durch Wände gehen, im Nebel verschwinden konnte und so weiter. Aber als ich gestern nacht die Aufzeichnungen durchsah, stieß ich immer wieder auf Hinweise auf seine Trinität, und da fiel mir wieder ein, dass er zu Ihnen, Mr. Kenzie, gesagt hat, Sie würden zu einem Mann mit Einfluss gemacht werden, und zwar von…“ „
„Dem Vater, dem Sohn und dem Heiligen Geist“, erinnerte ich mich. „Ja. Oft, wenn Alec von diesem John sprach, nannte er ihn Vater John. Alec wäre dann der Sohn. Und der Geist…“
„Ist Arujo“, ergänzte ich. „Er verschwindet im Nebel.“
„Genau. Alecs Verständnis von der Bedeutung der Heiligen Dreifaltigkeit lässt einiges zu wünschen übrig, aber das macht er mit vielen mythologischen und religiösen Bildern so: Er nimmt das, was er braucht, und verschmilzt es so, dass es für seine Zwecke passt. Den Rest wirft er raus.“
„Erzählen Sie uns mehr von John, Doktor!“
„Ja, ja. Wenn man Alec glaubt, gibt sich John als das genaue Gegenteil von dem, was er wirklich ist. Nur vor seinen Opfern und seinen Vertrauten – Hardiman, Rugglestone und jetzt Arujo – nimmt er die Maske herunter und zeigt ihnen >sein wahres Gesicht, den reinen Zorn<, wie Alec sich ausdrückte. Wenn man John sieht, dann erkennt man nur das, was man in einem Menschen sehen will; man sieht Güte, Weisheit und Freundlichkeit. Aber John ist ganz und gar nicht so. Alec zufolge ist John ein >Wissenschaftler<, der menschliches Leiden aus erster Hand
studiert, damit er Hinweise auf den Grund der Schöpfung erhält.“ „Den Grund der Schöpfung?“ fragte ich.
„Ich lese Ihnen mal aus den Aufzeichnungen vor, die ich während einer Sitzung mit Alec im September ‘78 machte, kurz bevor er aufhörte, von John zu sprechen. Ich zitiere Alec Hardiman: >Wenn Gott gütig ist, warum besitzen wir dann die Fähigkeit, Schmerz zu empfinden? Unsere Nerven sollen uns auf Gefahren aufmerksam machen; das ist der biologische Grund für Schmerzen. Aber wir empfinden Schmerz weit über den Grad hinaus, der zur Warnung vor Gefahr notwendig ist. Wir können Schmerzen in einem Masse empfinden, das sich jeder Beschreibung entzieht. Und wir besitzen nicht nur diese Fähigkeit, die ja auch alle Tiere haben, sondern zusätzlich noch die geistige Fähigkeit, das Erlittene emotional und psychisch wieder und wieder zu durchleben. Diese Fähigkeit besitzt kein anderes Tier. Hasst Gott uns so sehr? Oder liebt er uns so sehr? Oder ist das ein absichtlicher Fehler in unserer DNA, und wenn ja, ist dann der Grund für all die Schmerzen, dass wir abgehärtet werden sollen? Dass uns das Leid anderer Menschen gleichgültig lassen soll, so wie ihn? Und sollten wir ihn dann nicht nachahmen, so wie John es tut? Sollten wir dann nicht den Schmerz und die Methoden, anderen Schmerz zuzufügen, hochachten und ständig weiterentwickeln? Das versteht John unter Reinheit. <„ Dolquist räusperte sich. „Zitatende.“
„Doktor?“ fragte Bolton.
„Ja?“
„Schildern Sie uns einfach mal Ihre Vorstellung von John!“ „Er ist ein kräftiger Mann, und das kann man erkennen, wenn man ihn sieht, aber es ist nicht zu offenkundig. Er ist
kein Bodybuilder, verstehen Sie, einfach ein starker Mann. Auf andere wirkt er ziemlich normal und vernünftig, vielleicht sogar weise. Ich würde vermuten, dass er in seiner Umgebung geschätzt wird, er tut Gutes in kleinem Rahmen.“
„Ist er verheiratet?“ erkundigte sich Bolton.
„Das glaube ich nicht. Selbst er wüsste, dass eine Frau und Kinder seine Veranlagung spüren würden, auch wenn er sich noch so gut verstellte. Vielleicht war er mal verheiratet, aber jetzt nicht mehr.“ „Was noch?“
„Ich bin der Meinung, dass er nicht in der Lage war, das Töten in den letzten zwanzig Jahren seinzulassen. Das brächte er nicht fertig. Ich glaube, er hat die Morde nur nicht öffentlich werden lassen.“ Alle blickten Angie an, die sich an einen nicht vorhandenen Hut tippte.
„Und sonst, Dr. Dolquist?“
„Der größte Nervenkitzel sind für ihn die Morde. Aber am zweitwichtigsten ist die Erregung, hinter einer Maske zu leben. Getarnt beobachtet John die anderen und lacht sie im Schütze der Maske aus. Das ist für ihn ein sexueller Akt, und deshalb muss er die Maske jetzt nach so vielen Jahren abnehmen.“
„Ich kann Ihnen nicht folgen“, wandte ich ein.
„Stellen Sie sich eine Dauererektion vor, wenn Sie wollen. John wartet nun seit über zwanzig Jahren auf den Höhepunkt. Sosehr er seine Erektion genießt, wird der Drang zu ejakulieren doch immer stärker.“
„Er will gefasst werden?“
„Er will sich zeigen. Das ist nicht dasselbe. Er will seine Maske abnehmen und Ihnen ins Gesicht spucken, wenn Sie ihm in seine wahren Augen sehen, aber das heißt nicht, dass er sich widerstandslos in Handschellen abführen lässt.“
„Sonst noch etwas, Doktor?“
„Ja. Ich denke, dass er Mr. Kenzie kennt. Und zwar nicht so, dass er schon von ihm gehört hat. Nein, er kennt ihn schon sehr lange. Sie haben miteinander gesprochen. Von Angesicht zu Angesicht.“ „Warum glauben Sie das?“
„Ein Mensch wie er baut seltsame Beziehungen auf, aber auch wenn sie sehr seltsam sind, sind sie ihm ungeheuer wichtig. Es ist für ihn von größter Wichtigkeit, dass er einen seiner Verfolger kennt. Aus irgendeinem Grund hat er Sie ausgesucht, Mr. Kenzie. Und das ließ er Sie wissen, indem Hardiman ein Gespräch mit Ihnen verlangte. Sie und John kennen sich, Mr. Kenzie. Darauf wette ich.“
„Vielen Dank, Doktor!“ sagte Bolton. „Ich nehme an, Sie haben uns aus Ihren Aufzeichnungen vorgelesen, weil Sie nicht die Absicht haben, sie uns zu überlassen.“
„Nicht ohne gerichtliche Anordnung“, antwortete Dolquist, „und selbst dann gäbe es großen Ärger. Wenn ich hier noch etwas finde, was die Morde vielleicht aufhalten kann, melde ich mich auf der Stelle. Mr. Kenzie?“
„Ja?“
„Kann ich kurz mit Ihnen alleine sprechen?“
Bolton zuckte mit den Achseln, so dass ich den Lautsprecher ausschaltete und mir den Hörer ans Ohr drückte. „Ja, bitte, Doktor?“ „Alec hat sich geirrt.“
„Womit?“
„Mit meiner Frau. Er hatte unrecht.“
„Das freut mich zu hören“, erwiderte ich.
„Ich wollte nur…. dass Sie das wissen. Er hatte unrecht“, wiederholte Dolquist. „Auf Wiedersehen, Mr. Kenzie.“
„Auf Wiedersehen, Doktor.“
„Stan Timpson ist in Cancun“, meldete Erdham.
„Was?“ rief Bolton.
„Das ist korrekt, Sir. Vor drei Tagen ist er für eine kleine Erholungsreise mit Frau und Kindern runtergeflogen.“
„Eine kleine Erholungsreise“, wiederholte Bolton. „Er ist der Staatsanwalt des Verwaltungsbezirks Suffolk, wo gerade ein Serienmörder umgeht. Da fliegt er nach Mexiko?“ Er schüttelte den Kopf. „Holt ihn her!“
„Wie bitte? Ich bin doch kein Feldjäger!“
Bolton zeigte mit dem Finger auf ihn. „Dann schickt welche runter. Schickt zwei Agenten hinter ihm her und holt ihn zurück!“ „In Haft, Sir?“
„Zur Vernehmung. Wo wohnt er?“
„Seine Sekretärin sagt, er wohne im Marriott.“
„Jetzt kommt gleich ein Aber. Ich kann es spüren.“
Erdham nickte. „Er hat dort nicht eingecheckt.“
„Vier Agenten“, verbesserte sich Bolton. „Ich will vier Agenten ins nächste Flugzeug nach Cancun! Und holt mir seine Sekretärin her.“ „Ja, Sir.“ Erdham griff nach dem Telefon, während der Wagen auf die Schnellstrasse fuhr.
„Die sind alle untergetaucht, was?“ warf ich ein.
Bolton seufzte. „Sieht so aus. Jack Rouse und Kevin Hurlihy sind nicht aufzufinden. Diedre Rider ist seit der Beerdigung ihrer Tochter nicht mehr gesichtet worden.“
„Was ist mit Burns und Climstich?“ fragte Angie.
„Beide tot. Paul Burns war Bäcker. ‘77 hat er den Kopf in einen seiner Öfen gesteckt. Climstich starb ‘83 an einem Herzinfarkt. Keine Hinterbliebenen.“ Er ließ das Foto auf seinen Schoss fallen und sah es an. „Sie sehen Ihrem Vater sehr ähnlich, Mr. Kenzie.“ „Ich weiß“, erwiderte ich.
„Sie haben gesagt, er sei ein Tyrann gewesen. War das alles?“ „Wie meinen Sie das?“
„Ich muss wissen, wozu der Mann fähig war.“
„Der war zu allem fähig, Agent Bolton.“
Bolton nickte und blätterte durch seine Akten. „Emma Hurlihy wurde ‘75 ins Della-Vorstin-Heim eingeliefert. Davor gab es in ihrer Familie keine Hinweise auf Geisteskrankheit, auch ihre psychischen Störungen begannen erst Ende ‘74. Diedre Riders erste Festnahme wegen Trunkenheit und Erregung öffentlichen Ärgernisses war im Februar ‘75. Von da an wurde sie regelmäßig von der Polizei aufgegriffen. Jack Rouse wandelte sich innerhalb von fünf Jahren von einem kleinen korrupten Ladenbesitzer zum Kopf der irischen Mafia. In den Berichten, die ich vom Amt für Organisiertes Verbrechen und von der Abteilung für Schwerstkriminalität der Bostoner Polizei bekommen habe, heißt es, Rouse’ Aufstieg an die Spitze der irischen Mafia sei der blutigste in der Geschichte von Boston gewesen. Er brachte einfach jeden um, der ihm im Weg war. Wie konnte das gehen? Woher bekam ein unbedeutendes kleines Würstchen den Mumm, sich über Nacht zur Nummer eins aufzuschwingen?“ Bolton sah uns an, doch wir schüttelten den Kopf.
Wieder blätterte er um. „Staatsanwalt Stanley Timpson, ja, das ist ein interessanter Fall. Hat in Harvard fast als Jahrgangsletzter abgeschlossen. Hat seine Jura-Ausbildung in Suffolk nur bis zur Hälfte geschafft. Ist zweimal durchgefallen, bevor er die Zulassung als Anwalt bekam. Er ist überhaupt nur zur Staatsanwaltschaft gekommen, weil Diandra Warrens Vater seine Beziehungen spielen ließ, und anfangs hatte er keinen besonders guten Ruf. Dann, 1975, wird er plötzlich zu einem Tiger. Er verdient sich Respekt,
und das beim Schnellgericht, weil er sich weigert, inoffizielle Absprachen zu treffen. Er steigt auf in die nächste Instanz, da geht es so weiter. Langsam haben die Leute Angst vor ihm, und die Staatsanwaltschaft übergibt ihm immer mehr Schwerverbrechen, doch sein Stern steigt weiter. 1984 gilt er als gefürchtetster Staatsanwalt von ganz Neuengland. Noch einmal: Wie konnte das gehen?“ Der Lieferwagen bog von der Schnellstrasse ab und fuhr in Richtung St.-Bart’s-Kirche, wo Bolton seine allmorgendliche Einsatzbesprechung abhielt.
„Ihr Vater, Mr. Kenzie, ließ sich ‘78 für den Stadtrat aufstellen. Im Amt scheint er nichts anderes zu tun, als einer erbarmungslosen Machtgier zu frönen, die selbst Lyndon Johnson die Schamesröte ins Gesicht getrieben hätte. Allen Quellen zufolge ist er ein miserabler Staatsdiener, aber ein hervorragender Politiker. Wieder haben wir eine unauffällige Person – mein Gott, ein Feuerwehrmann –, die weit über das hinauswächst, was man von ihr erwartet hätte.“ „Was ist mit Climstich?“ fragte Angie. „Burns hat sich umgebracht, aber gab es bei Climstich irgendwelche Anzeichen einer Veränderung?“
„Mr. Climstich wurde zu einer Art Einsiedler. Seine Frau verließ ihn im Herbst ‘75. Die eidesstattlichen Erklärungen der Scheidung zeigen, dass sich Mrs. Climstich auf unversöhnliche Differenzen nach achtundzwanzig Ehejahren berief. Sie gab an, ihr Ehemann habe sich zurückgezogen, sei krank und der Pornographie verfallen. Außerdem gab sie an, besagte Pornographie sei von besonders abartiger Natur, Mr. Climstich sei von Sodomie besessen.“
„Worauf wollen Sie mit diesen ganzen Sachen hinaus, Agent Bolton?“ fragte Angie.
„Ich meine, dass all diesen Menschen etwas ganz Seltsames passiert ist. Entweder wurden sie sehr erfolgreich und
übertrafen alle Erwartungen hinsichtlich ihrer Lebensziele, oder aber“, er fuhr mit dem Finger über Emma Hurlihy und Paul Burns, „sie kamen mit dem Leben nicht mehr zurecht und implodierten.“ Er sah Angie an, als wüsste sie die Antwort. „Irgend etwas hat diese Leute verändert, Ms. Gennaro. Irgend etwas hat sie verwandelt.“ Der Wagen hielt hinter der Kirche, und Angie sah sich das Foto an und fragte noch einmal: „Was haben diese Leute gemacht?“ „Ich weiß es nicht“, erwiderte Bolton und grinste gequält in meine Richtung. „Aber wie Alec Hardiman sagen würde, es hatte auf jeden Fall einen großen Einfluss.“