7

Kurz nachdem Grace gegangen war, rief Diandra an. Stan Timpson würde mir um elf Uhr fünf Minuten am Telefon gewähren. „Ganze fünf Minuten“, staunte ich.
„Für Stans Verhältnisse ist das großzügig. Ich habe ihm Ihre Nummer gegeben. Er wird sich um Punkt elf bei Ihnen melden. Stanley ist pünktlich.“
Dann diktierte sie mir Jasons Stundenplan und gab mir die Nummer seines Zimmers im Studentenwohnheim auf dem Campus. Ich schrieb alles auf, während ihre Stimme vor Angst klein und brüchig wurde. Kurz vor dem Auflegen bemerkte sie: „Ich bin so nervös. Ich hasse das.“
„Machen Sie sich keine Sorgen, Dr. Warren! Das klärt sich schon alles auf.“
„Wirklich?“
Ich rief Angie an, die sich schon nach dem zweiten Klingeln meldete. Bevor ich ihre Stimme vernahm, war ein Rascheln zu hören, als würde das Telefon von einer Hand zur nächsten weitergereicht, dann flüsterte sie: „Ja, ich hab’s!“
Ihre schläfrige Stimme klang rauh und schleppend. „Ja?“ „Morgen!“
„Aha“, stöhnte sie, „du bist es.“ Dann war wieder ein
Rascheln zu hören, das Entwirren von Bettzeug, das Ächzen einer Bettfeder. „Was ist, Patrick?“
Ich fasste meine Unterhaltung mit Diandra und Eric zusammen. „Also war es auf gar keinen Fall Kevin, der Sie angerufen hat.“ Sie sprach immer, noch sehr langsam. „Das ergibt doch keinen Sinn!“ „Nee. Hast du einen Stift?“
„Irgendwo schon. Ich suche eben einen.“
Noch mehr Geraschel. Ich wusste, dass sie das Telefon hatte aufs Bett fallen lassen, während sie nach dem Stift suchte. Angies Küche ist keimfrei, weil sie sie noch nie benutzt hat; auch ihr Badezimmer glänzt, weil sie Schmutz verabscheut, doch ihr Schlafzimmer sieht immer aus, als habe sie inmitten eines Wirbelsturms einen riesigen Koffer ausgepackt. Aus geöffneten Schubladen quellen Socken und Unterwäsche hervor, saubere Jeans, Hemden und Leggings liegen auf dem Fußboden verstreut oder hängen an Türgriffen oder am Kopfende des Bettes. Solang ich sie kenne, hat sie tagsüber noch nie das getragen, was sie morgens als erstes in der Hand hielt. In all dem Durcheinander lugen Bücher und Zeitschriften mit geknickten Seiten oder zerrissenem Rücken In Angies Schlafzimmer sind schon ganze Fahrräder verlorengegangen – und jetzt suchte sie nach einem Stift.
Nachdem mehrere Schubladen aufgezogen, Kleingeld, Feuerzeuge und Ohrringe auf den Nachtschränken hin-und hergeschoben worden waren, sagte eine Stimme: „Was suchst du?“
„Einen Stift.“
„Hier! „
Sie kam wieder ans Telefon. „Hab einen Stift.“
„Papier?“ fragte ich.
„Oh, Scheiße.“
Das nahm eine weitere Minute in Anspruch.
„Schiess los!“
Ich gab ihr Jason Warrens Stundenplan und Zimmernummer. Sie sollte ihn beobachten, während ich auf Stan Timpsons Anruf wartete.
„In Ordnung“, meldete sie. „Scheiße, ich muss in die Gänge kommen.“
Ich warf einen Blick auf die Uhr. „Sein erstes Seminar fängt doch erst um halb elf an. Du hast Zeit.“
„Nee. Hab noch einen Termin um halb zehn.“
„Bei wem?“
Sie atmete nun etwas schwerer, ich nahm an, sie schlüpfte in ihre Jeans. „Bei meinem Anwalt. Wir sehen uns dann in Bryce.“ Sie legte auf, und ich blickte nach unten auf die Strasse. Sie glich einem Canyon, so klar war die Luft. Wie ein gefrorener Fluss setzte sich der Asphalt deutlich von den zweistöckigen Häusern aus Backstein ab. Die Windschutzscheiben der Autos waren von der Sonne ausgebleicht und versengt.
Beim Anwalt? In den letzten drei berauschenden Monaten mit Grace war mir manchmal mit großem Erstaunen eingefallen, dass meine Kollegin da draußen ihr eigenes Leben führte. Das mit meinem nichts zu tun hatte. Ein Leben mit Rechtsanwälten, kurzen Affären, Minidramen und Männern, die ihr morgens um halb neun im Schlafzimmer einen Stift reichten.
Wer war dieser Anwalt? Und wer war der Typ, der ihr den Stift gegeben hatte? Und warum interessierte mich das überhaupt? Und was, zum Teufel, hieß „bald“?
Ich musste ungefähr eineinhalb Stunden totschlagen, bis Timpson anrufen würde. Nachdem ich meine Übungen absolviert hatte, blieb immer noch mehr als eine Stunde übrig. Ich suchte in meinem Kühlschrank nach etwas anderem als Bier oder Wasser, fand aber nichts, so dass ich auf einen Kaffee zum Laden um die Ecke ging. Ich nahm die Tasse mit auf die Strasse und lehnte mich für einen Moment gegen eine Straßenlaterne, genoss den Tag und schlürfte meinen Kaffee, während der Verkehr an mir vorbeirollte und Fußgänger zur U-Bahn-Haltestelle am Ende der Crescent Street eilten. Hinter mir konnte ich den Gestank von abgestandenem Bier und ins Holz eingezogenem Whiskey riechen, der aus der Black Emerald Tavern herüberwehte. Der Emerald öffnete morgens um acht für die Heimkehrer aus der zweiten Nachtschicht, und jetzt, um kurz vor zehn, klang es dort schon genauso wie Freitag abends; man hörte ein Durcheinander von genuschelten, trägen Stimmen, das hin und wieder von einem Grölen oder dem kurzen Klacken eines Billardqueues unterbrochen wurde.
„Hallo, Fremder!“
Ich drehte mich um und blickte in das Gesicht einer zierlichen Frau mit einem vagen, verschwommenen Gesicht. Mit der Hand schirmte sie die Augen vor der Sonne ab. Ich brauchte eine ganze Minute, um sie zu erkennen, denn sie trug andere Kleidung als sonst und einen anderen Haarschnitt, und selbst ihre Stimme war tiefer geworden, seit ich sie zum letzten Mal gesehen hatte. Doch noch immer klang ihre Stimme leicht und vergänglich, so als verfliege sie mit dem Wind, bevor man sich die Worte einprägen konnte. „Hi, Kara! Seit wann bist du denn wieder hier?“
Sie zuckte die Achseln. „Schon ‘ne ganze Zeit. Wie geht’s dir, Patrick?“
„Gut.“
Kara wippte vor und zurück und verdrehte die Augen, ihr Lächeln umspielte sanft die linke Gesichtshälfte – sofort war sie mir wieder vertraut.
Sie war ein Kind mit sonnigem Gemüt, aber eine Einzelgängerin. Während die anderen Ball spielten, schrieb oder malte sie in ihr Notizbuch. Als sie älter wurde und die Ecke, von der aus man den Blake Yard überblicken konnte, zu ihrem Platz auserkoren hatte, als ihre Altersgruppe den Platz einnahm, den meine Kameraden zehn Jahre zuvor verlassen hatten, sah man sie abseits an einen Zaun oder Verandapfeiler gelehnt sitzen, einen Fruchtwein trinken und auf die Strasse gucken, als käme sie ihr plötzlich fremd vor. Sie war eine Außenseiterin und als seltsam verschrien, weil sie schön war, mindestens doppelt so schön wie die anderen Mädchen, und Schönheit galt in dieser Gegend mehr als jedes andere Gut, weil sie noch stärker vom Zufall abhängig war als ein Lottogewinn. Schon als sie laufen lernte, wusste jeder, dass sie niemals hierbleiben würde. Die Schönen waren nicht zu halten, ihnen stand der Abschied im Gesicht geschrieben. Wenn man mit ihr sprach, war immer ein Teil von ihr in Bewegung, der Kopf, die Arme oder die zappelnden Beine, so als ließe dieses Körperteil den Gesprächspartner und alle anderen bereits hinter sich und bewege sich auf den Ort zu, den sie in der Ferne wähnte.
Wenn sie unter ihren Freunden auch eine Ausnahme war, so tauchte doch alle fünf Jahre eine wie Kara auf. Zu meiner Zeit war das Angie gewesen. Und soweit ich weiß, ist sie die einzige, die die seltsam verdrehte Logik dieses Ortes durchbrach und blieb. Vor Angie war es Eileen Mack, die noch im Universitätstalar in den Zug stieg und einige Jahre später in Starsky
und Hutch zu sehen war. Innerhalb von sechsundzwanzig Minuten lernte sie Starsky kennen, schlief mit ihm, erwarb sich die Anerkennung von Hutch (obwohl das eine Weile ganz und gar nicht so schien) und nahm Starskys gestotterten Heiratsantrag an. Nach der nächsten Werbepause war sie bereits tot, und Starsky tobte herum, fand ihren Mörder und erschoss ihn mit einem wilden, selbstgerechten Gesichtsausdruck. Die Folge endete damit, dass er im Regen vor ihrem Grab stand, und wir Zuschauer wussten, dass er nie darüber hinwegkommen würde.
In der nächsten Folge hatte er eine neue Freundin, und Eileen ward nie wieder gesehen, weder von Starsky noch von Hutch oder irgend jemand aus unserer Gegend.
Kara ging nach einem Jahr an der Universität von Massachusetts nach New York – das war das letzte, was ich von ihr gehört hatte. Angie und ich hatten sie sogar in den Bus steigen sehen, als wir eines Nachmittags aus dem Pub kamen. Es war Hochsommer, und Kara stand auf der anderen Straßenseite an der Bushaltestelle. Ihre natürliche Haarfarbe war weizenblond, die dünnen Strähnen wehten ihr in die Augen, während sie den Träger ihres hellen Strandkleides zurechtrückte. Sie winkte uns zu, und wir winkten zurück. Als dann der Bus hielt, griff sie nach ihrem Koffer, stieg ein und war wie vom Erdboden verschluckt.
Jetzt war ihr Haar blauschwarz gefärbt, kurz geschnitten und stand vom Kopf ab. Ihre Haut war kreidebleich. Sie trug ein ärmelloses schwarzes Oberteil mit Rollkragen, das sie in eine bemalte schwarze Jeans gestopft hatte. Jeden ihrer Sätze beendete sie mit einem nervösen, halb keuchenden Laut, der wie ein Schluckauf klang. „Schöner Tag, hm?“
„Ja, wirklich. Letztes Jahr hatten wir im Oktober schon Schnee.“ „In New York auch.“ Sie kicherte, nickte sich zu und blickte auf ihre abgelaufenen Stiefel hinunter. „Hm. Ja.“
Ich nahm einen Schluck Kaffee. „Wie geht’s dir, Kara?“
Sie legte wieder die Hand über die Augen und sah sich den durch die Strasse kriechenden morgendlichen Berufsverkehr an. Grelles Sonnenlicht wurde von den Windschutzscheiben zurückgeworfen und blitzte durch ihr stacheliges Haar. „Mir geht’s gut, Patrick. Wirklich gut. Und was ist mit dir?“
„Kann nicht klagen.“ Ich blickte nun auch die Strasse hinunter, und als ich mich ihr wieder zuwandte, betrachtete sie aufmerksam mein Gesicht, als denke sie gerade darüber nach, ob sie es anziehend oder abstoßend fände.
Sie schwankte leicht hin und her, eine fast nicht wahrnehmbare Bewegung, und durch die offene Tür des Black Emerald hörte ich zwei Männer etwas von fünf Dollar und einem Baseballspiel rufen. Sie fragte: „Immer noch Detektiv?“
„Aham.“
„Ist es in Ordnung?“
„Manchmal schon“, erwiderte ich.
„Meine Mom hat letztes Jahr in einem Brief was von dir geschrieben; dass du in allen Zeitungen warst. Riesensache damals.“ Es überraschte mich, dass Karas Mutter in der Lage war, das Scotchglas so lange zur Seite zu stellen, um eine Zeitung zu lesen, ganz zu schweigen davon, ihrer Tochter einen Brief über dieses Erfolgserlebnis zu schreiben.
„Gab sonst nicht viel zu schreiben.“
Sie warf einen Blick zur Bar hinüber und fuhr sich dann mit dem Finger über das Ohr, als streiche sie eine nicht vorhandene Haarsträhne nach hinten. „Wieviel nimmst du?“
„Hängt vom Fall ab. Brauchst du einen Detektiv, Kara?“
Einen Moment lang wirkten ihre Lippen schmal und einsam, so als hätte sie beim Küssen die Augen geschlossen und danach wieder geöffnet, aber der Geliebte war verschwunden. „Nein.“ Sie lachte und gluckste dann wieder. „Ich ziehe bald nach L. A. Hab eine Rolle in Zeit der Sehnsucht. „„„Echt? Hey, Glückwunsch…“
„Nur als Statistin“, schüttelte sie den Kopf. „Ich bin die Krankenschwester, die immer mit den Papieren herumfuchtelt hinter der Schwester, die an der Anmeldung steht.“
„Na ja“, lenkte ich ein, „ist ein Anfang.“
Ein Mann streckte den Kopf aus der Bar, sah nach rechts, dann nach links und erkannte uns schließlich mit verschwommenen Augen. Es war Micky Doog, nebenberuflich Bauarbeiter, hauptberuflich Koksdealer, früher der Herzensbrecher in Karas Clique, der trotz zurückweichendem Haaransatz und schwindenden Muskeln immer noch versuchte, jugendlich zu wirken. Als er mich sah, blinzelte er, dann zog er den Kopf wieder zurück.
Karas Nacken spannte sich an, als hätte sie Micky hinter sich gespürt. Dann beugte sie sich mir entgegen, und ich spürte den scharfen Geruch von Rum aus ihrem Mund, und das um zehn Uhr morgens.
„Ganz schön verrückt, was?“ Ihre Pupillen blitzten wie Rasierklingen.
„Hm… ja“, bestätigte ich. „Brauchst du Hilfe, Kara?“
Wieder lachte sie Und gluckste.
„Nein, nein. Nein, ich wollte dir nur hallo sagen, Patrick. Du warst für unsere Clique so was wie der große Bruder.“ Sie wies mit dem Kopf in Richtung Bar, so dass ich sah, wohin es ihre „Clique“ heute morgen verschlagen hatte. „Ich wollte nur, du weißt schon, dir einfach hallo sagen.“
Ich nickte und sah, dass ihr kleine Schauer über die Haut an ihren Armen liefen. Sie beobachtete weiter mein Gesicht, als könne sie darin etwas lesen, wandte den Blick dann enttäuscht ab, nur um mich eine Sekunde später wieder anzusehen. Ich musste an ein armes Kind denken, das zusammen mit anderen, reichen Kindern vor einem Eiswagen steht. Es war so, als sähe sie zu, wie die Eistüten und Schokoladeneclairs über ihren Kopf hinweg den Besitzer wechselten, und ein Teil von ihr wüsste, dass sie nichts bekommen würde, der andere Teil aber immer noch hoffte, der Eismann könnte ihr irrtümlich oder aus Mitleid doch etwas geben. Sie litt, weil sie sich schämte, etwas zu begehren.
Ich zog meine Brieftasche hervor und entnahm ihr eine Visitenkarte. Sie runzelte die Stirn und sah mich an. Dann lächelte sie sarkastisch, es wirkte ein bisschen hässlich.
„Mir geht’s gut, Patrick.“
„Du bist um zehn Uhr morgens schon halb voll, Kara!“
Sie zuckte die Achseln. „Irgendwo ist es schon Mittag.“
„Hier aber noch nicht.“
Micky Doog steckte wieder den Kopf aus der Tür. Er blickte mich direkt an, jetzt waren seine Augen nicht mehr so verschwommen, sondern waren durch eine Prise Koks, oder was immer er momentan verkaufte, mutig geworden.
„Hey Kara, kommst du wieder rein?“
Sie machte eine kleine Bewegung mit den Schultern, meine Visitenkarte in ihrer Hand wurde feucht. „Bin sofort wieder da, Mick.“ Mickey schien noch mehr sagen zu wollen, trommelte jedoch gegen die Tür, nickte und verschwand.
Kara blickte die Strasse hinunter und starrte lange die Autos an. „Wenn man irgendwo weggeht“, stellte sie fest, „glaubt man, dass alles kleiner aussieht, wenn man zurückkommt.“ Sie schüttelte den Kopf und seufzte.
„Tut es nicht?“
Wieder schüttelte sie den Kopf. „Sieht genauso beschissen aus wie zuvor.“
Sie ging ein paar Schritte/rückwärts und tippte sich mit meiner Karte auf die Hüfte. Als sie mich wieder ansah, hatte sie große Augen. „Alles Gute, Patrick!“
„Dir auch, Kara.“
Sie hielt meine Karte hoch. „Hey, jetzt wo ich die hier habe, hm?“ Sie schob die Karte in die Gesäßtasche ihrer Jeans und wandte sich der offenen Tür des Black Emerald zu. Dann hielt sie inne, drehte sich um und lächelte mir zu. Es war ein breites, hübsches Lächeln, doch schien ihr Gesicht nicht daran gewöhnt zu sein: Die Wangen zitterten angestrengt.
„Pass auf, Patrick, ja?“
„Worauf?“
„Auf alles, Patrick. Auf alles.“
Ich warf ihr einen verständnislosen Blick zu, und sie nickte mir zu, so als teilten wir ein Geheimnis, dann ging sie in die Bar und war verschwunden.