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Kurz nachdem Grace gegangen war, rief Diandra
an. Stan Timpson würde mir um elf Uhr fünf Minuten am Telefon
gewähren. „Ganze fünf Minuten“, staunte ich.
„Für Stans Verhältnisse ist das großzügig. Ich habe ihm Ihre Nummer
gegeben. Er wird sich um Punkt elf bei Ihnen melden. Stanley ist
pünktlich.“
Dann diktierte sie mir Jasons Stundenplan und gab mir die Nummer
seines Zimmers im Studentenwohnheim auf dem Campus. Ich schrieb
alles auf, während ihre Stimme vor Angst klein und brüchig wurde.
Kurz vor dem Auflegen bemerkte sie: „Ich bin so nervös. Ich hasse
das.“
„Machen Sie sich keine Sorgen, Dr. Warren! Das klärt sich schon
alles auf.“
„Wirklich?“
Ich rief Angie an, die sich schon nach dem zweiten Klingeln
meldete. Bevor ich ihre Stimme vernahm, war ein Rascheln zu hören,
als würde das Telefon von einer Hand zur nächsten weitergereicht,
dann flüsterte sie: „Ja, ich hab’s!“
Ihre schläfrige Stimme klang rauh und schleppend. „Ja?“
„Morgen!“
„Aha“, stöhnte sie, „du bist es.“ Dann war wieder ein
Rascheln zu hören, das Entwirren von Bettzeug, das Ächzen einer
Bettfeder. „Was ist, Patrick?“
Ich fasste meine Unterhaltung mit Diandra und Eric zusammen. „Also
war es auf gar keinen Fall Kevin, der Sie angerufen hat.“ Sie
sprach immer, noch sehr langsam. „Das ergibt doch keinen Sinn!“
„Nee. Hast du einen Stift?“
„Irgendwo schon. Ich suche eben einen.“
Noch mehr Geraschel. Ich wusste, dass sie das Telefon hatte aufs
Bett fallen lassen, während sie nach dem Stift suchte. Angies Küche
ist keimfrei, weil sie sie noch nie benutzt hat; auch ihr
Badezimmer glänzt, weil sie Schmutz verabscheut, doch ihr
Schlafzimmer sieht immer aus, als habe sie inmitten eines
Wirbelsturms einen riesigen Koffer ausgepackt. Aus geöffneten
Schubladen quellen Socken und Unterwäsche hervor, saubere Jeans,
Hemden und Leggings liegen auf dem Fußboden verstreut oder hängen
an Türgriffen oder am Kopfende des Bettes. Solang ich sie kenne,
hat sie tagsüber noch nie das getragen, was sie morgens als erstes
in der Hand hielt. In all dem Durcheinander lugen Bücher und
Zeitschriften mit geknickten Seiten oder zerrissenem Rücken In
Angies Schlafzimmer sind schon ganze Fahrräder verlorengegangen –
und jetzt suchte sie nach einem Stift.
Nachdem mehrere Schubladen aufgezogen, Kleingeld, Feuerzeuge und
Ohrringe auf den Nachtschränken hin-und hergeschoben worden waren,
sagte eine Stimme: „Was suchst du?“
„Einen Stift.“
„Hier! „
Sie kam wieder ans Telefon. „Hab einen Stift.“
„Papier?“ fragte ich.
„Oh, Scheiße.“
Das nahm eine weitere Minute in Anspruch.
„Schiess los!“
Ich gab ihr Jason Warrens Stundenplan und Zimmernummer. Sie sollte
ihn beobachten, während ich auf Stan Timpsons Anruf
wartete.
„In Ordnung“, meldete sie. „Scheiße, ich muss in die Gänge
kommen.“
Ich warf einen Blick auf die Uhr. „Sein erstes Seminar fängt doch
erst um halb elf an. Du hast Zeit.“
„Nee. Hab noch einen Termin um halb zehn.“
„Bei wem?“
Sie atmete nun etwas schwerer, ich nahm an, sie schlüpfte in ihre
Jeans. „Bei meinem Anwalt. Wir sehen uns dann in Bryce.“ Sie legte
auf, und ich blickte nach unten auf die Strasse. Sie glich einem
Canyon, so klar war die Luft. Wie ein gefrorener Fluss setzte sich
der Asphalt deutlich von den zweistöckigen Häusern aus Backstein
ab. Die Windschutzscheiben der Autos waren von der Sonne
ausgebleicht und versengt.
Beim Anwalt? In den letzten drei berauschenden Monaten mit Grace
war mir manchmal mit großem Erstaunen eingefallen, dass meine
Kollegin da draußen ihr eigenes Leben führte. Das mit meinem nichts
zu tun hatte. Ein Leben mit Rechtsanwälten, kurzen Affären,
Minidramen und Männern, die ihr morgens um halb neun im
Schlafzimmer einen Stift reichten.
Wer war dieser Anwalt? Und wer war der Typ, der ihr den Stift
gegeben hatte? Und warum interessierte mich das überhaupt? Und was,
zum Teufel, hieß „bald“?
Ich musste ungefähr eineinhalb Stunden totschlagen, bis Timpson
anrufen würde. Nachdem ich meine Übungen absolviert hatte, blieb
immer noch mehr als eine Stunde übrig. Ich suchte in meinem
Kühlschrank nach etwas anderem als Bier oder Wasser, fand aber
nichts, so dass ich auf einen Kaffee zum Laden um die Ecke ging.
Ich nahm die Tasse mit auf die Strasse und lehnte mich für einen
Moment gegen eine Straßenlaterne, genoss den Tag und schlürfte
meinen Kaffee, während der Verkehr an mir vorbeirollte und
Fußgänger zur U-Bahn-Haltestelle am Ende der Crescent Street
eilten. Hinter mir konnte ich den Gestank von abgestandenem Bier
und ins Holz eingezogenem Whiskey riechen, der aus der Black
Emerald Tavern herüberwehte. Der Emerald öffnete morgens um acht
für die Heimkehrer aus der zweiten Nachtschicht, und jetzt, um kurz
vor zehn, klang es dort schon genauso wie Freitag abends; man hörte
ein Durcheinander von genuschelten, trägen Stimmen, das hin und
wieder von einem Grölen oder dem kurzen Klacken eines Billardqueues
unterbrochen wurde.
„Hallo, Fremder!“
Ich drehte mich um und blickte in das Gesicht einer zierlichen Frau
mit einem vagen, verschwommenen Gesicht. Mit der Hand schirmte sie
die Augen vor der Sonne ab. Ich brauchte eine ganze Minute, um sie
zu erkennen, denn sie trug andere Kleidung als sonst und einen
anderen Haarschnitt, und selbst ihre Stimme war tiefer geworden,
seit ich sie zum letzten Mal gesehen hatte. Doch noch immer klang
ihre Stimme leicht und vergänglich, so als verfliege sie mit dem
Wind, bevor man sich die Worte einprägen konnte. „Hi, Kara! Seit
wann bist du denn wieder hier?“
Sie zuckte die Achseln. „Schon ‘ne ganze Zeit. Wie geht’s dir,
Patrick?“
„Gut.“
Kara wippte vor und zurück und verdrehte die Augen, ihr Lächeln
umspielte sanft die linke Gesichtshälfte – sofort war sie mir
wieder vertraut.
Sie war ein Kind mit sonnigem Gemüt, aber eine Einzelgängerin.
Während die anderen Ball spielten, schrieb oder malte sie in ihr
Notizbuch. Als sie älter wurde und die Ecke, von der aus man den
Blake Yard überblicken konnte, zu ihrem Platz auserkoren hatte, als
ihre Altersgruppe den Platz einnahm, den meine Kameraden zehn Jahre
zuvor verlassen hatten, sah man sie abseits an einen Zaun oder
Verandapfeiler gelehnt sitzen, einen Fruchtwein trinken und auf die
Strasse gucken, als käme sie ihr plötzlich fremd vor. Sie war eine
Außenseiterin und als seltsam verschrien, weil sie schön war,
mindestens doppelt so schön wie die anderen Mädchen, und Schönheit
galt in dieser Gegend mehr als jedes andere Gut, weil sie noch
stärker vom Zufall abhängig war als ein Lottogewinn. Schon als sie
laufen lernte, wusste jeder, dass sie niemals hierbleiben würde.
Die Schönen waren nicht zu halten, ihnen stand der Abschied im
Gesicht geschrieben. Wenn man mit ihr sprach, war immer ein Teil
von ihr in Bewegung, der Kopf, die Arme oder die zappelnden Beine,
so als ließe dieses Körperteil den Gesprächspartner und alle
anderen bereits hinter sich und bewege sich auf den Ort zu, den sie
in der Ferne wähnte.
Wenn sie unter ihren Freunden auch eine Ausnahme war, so tauchte
doch alle fünf Jahre eine wie Kara auf. Zu meiner Zeit war das
Angie gewesen. Und soweit ich weiß, ist sie die einzige, die die
seltsam verdrehte Logik dieses Ortes durchbrach und blieb. Vor
Angie war es Eileen Mack, die noch im Universitätstalar in den Zug
stieg und einige Jahre später in Starsky
und Hutch zu sehen war. Innerhalb von sechsundzwanzig Minuten
lernte sie Starsky kennen, schlief mit ihm, erwarb sich die
Anerkennung von Hutch (obwohl das eine Weile ganz und gar nicht so
schien) und nahm Starskys gestotterten Heiratsantrag an. Nach der
nächsten Werbepause war sie bereits tot, und Starsky tobte herum,
fand ihren Mörder und erschoss ihn mit einem wilden,
selbstgerechten Gesichtsausdruck. Die Folge endete damit, dass er
im Regen vor ihrem Grab stand, und wir Zuschauer wussten, dass er
nie darüber hinwegkommen würde.
In der nächsten Folge hatte er eine neue Freundin, und Eileen ward
nie wieder gesehen, weder von Starsky noch von Hutch oder irgend
jemand aus unserer Gegend.
Kara ging nach einem Jahr an der Universität von Massachusetts nach
New York – das war das letzte, was ich von ihr gehört hatte. Angie
und ich hatten sie sogar in den Bus steigen sehen, als wir eines
Nachmittags aus dem Pub kamen. Es war Hochsommer, und Kara stand
auf der anderen Straßenseite an der Bushaltestelle. Ihre natürliche
Haarfarbe war weizenblond, die dünnen Strähnen wehten ihr in die
Augen, während sie den Träger ihres hellen Strandkleides
zurechtrückte. Sie winkte uns zu, und wir winkten zurück. Als dann
der Bus hielt, griff sie nach ihrem Koffer, stieg ein und war wie
vom Erdboden verschluckt.
Jetzt war ihr Haar blauschwarz gefärbt, kurz geschnitten und stand
vom Kopf ab. Ihre Haut war kreidebleich. Sie trug ein ärmelloses
schwarzes Oberteil mit Rollkragen, das sie in eine bemalte schwarze
Jeans gestopft hatte. Jeden ihrer Sätze beendete sie mit einem
nervösen, halb keuchenden Laut, der wie ein Schluckauf klang.
„Schöner Tag, hm?“
„Ja, wirklich. Letztes Jahr hatten wir im Oktober schon Schnee.“
„In New York auch.“ Sie kicherte, nickte sich zu und blickte auf
ihre abgelaufenen Stiefel hinunter. „Hm. Ja.“
Ich nahm einen Schluck Kaffee. „Wie geht’s dir, Kara?“
Sie legte wieder die Hand über die Augen und sah sich den durch die
Strasse kriechenden morgendlichen Berufsverkehr an. Grelles
Sonnenlicht wurde von den Windschutzscheiben zurückgeworfen und
blitzte durch ihr stacheliges Haar. „Mir geht’s gut, Patrick.
Wirklich gut. Und was ist mit dir?“
„Kann nicht klagen.“ Ich blickte nun auch die Strasse hinunter, und
als ich mich ihr wieder zuwandte, betrachtete sie aufmerksam mein
Gesicht, als denke sie gerade darüber nach, ob sie es anziehend
oder abstoßend fände.
Sie schwankte leicht hin und her, eine fast nicht wahrnehmbare
Bewegung, und durch die offene Tür des Black Emerald hörte ich zwei
Männer etwas von fünf Dollar und einem Baseballspiel rufen. Sie
fragte: „Immer noch Detektiv?“
„Aham.“
„Ist es in Ordnung?“
„Manchmal schon“, erwiderte ich.
„Meine Mom hat letztes Jahr in einem Brief was von dir geschrieben;
dass du in allen Zeitungen warst. Riesensache damals.“ Es
überraschte mich, dass Karas Mutter in der Lage war, das Scotchglas
so lange zur Seite zu stellen, um eine Zeitung zu lesen, ganz zu
schweigen davon, ihrer Tochter einen Brief über dieses
Erfolgserlebnis zu schreiben.
„Gab sonst nicht viel zu schreiben.“
Sie warf einen Blick zur Bar hinüber und fuhr sich dann mit dem
Finger über das Ohr, als streiche sie eine nicht vorhandene
Haarsträhne nach hinten. „Wieviel nimmst du?“
„Hängt vom Fall ab. Brauchst du einen Detektiv, Kara?“
Einen Moment lang wirkten ihre Lippen schmal und einsam, so als
hätte sie beim Küssen die Augen geschlossen und danach wieder
geöffnet, aber der Geliebte war verschwunden. „Nein.“ Sie lachte
und gluckste dann wieder. „Ich ziehe bald nach L. A. Hab eine Rolle
in Zeit der Sehnsucht. „„„Echt? Hey, Glückwunsch…“
„Nur als Statistin“, schüttelte sie den Kopf. „Ich bin die
Krankenschwester, die immer mit den Papieren herumfuchtelt hinter
der Schwester, die an der Anmeldung steht.“
„Na ja“, lenkte ich ein, „ist ein Anfang.“
Ein Mann streckte den Kopf aus der Bar, sah nach rechts, dann nach
links und erkannte uns schließlich mit verschwommenen Augen. Es war
Micky Doog, nebenberuflich Bauarbeiter, hauptberuflich Koksdealer,
früher der Herzensbrecher in Karas Clique, der trotz
zurückweichendem Haaransatz und schwindenden Muskeln immer noch
versuchte, jugendlich zu wirken. Als er mich sah, blinzelte er,
dann zog er den Kopf wieder zurück.
Karas Nacken spannte sich an, als hätte sie Micky hinter sich
gespürt. Dann beugte sie sich mir entgegen, und ich spürte den
scharfen Geruch von Rum aus ihrem Mund, und das um zehn Uhr
morgens.
„Ganz schön verrückt, was?“ Ihre Pupillen blitzten wie
Rasierklingen.
„Hm… ja“, bestätigte ich. „Brauchst du Hilfe, Kara?“
Wieder lachte sie Und gluckste.
„Nein, nein. Nein, ich wollte dir nur hallo sagen, Patrick. Du
warst für unsere Clique so was wie der große Bruder.“ Sie wies mit
dem Kopf in Richtung Bar, so dass ich sah, wohin es ihre „Clique“
heute morgen verschlagen hatte. „Ich wollte nur, du weißt schon,
dir einfach hallo sagen.“
Ich nickte und sah, dass ihr kleine Schauer über die Haut an ihren
Armen liefen. Sie beobachtete weiter mein Gesicht, als könne sie
darin etwas lesen, wandte den Blick dann enttäuscht ab, nur um mich
eine Sekunde später wieder anzusehen. Ich musste an ein armes Kind
denken, das zusammen mit anderen, reichen Kindern vor einem
Eiswagen steht. Es war so, als sähe sie zu, wie die Eistüten und
Schokoladeneclairs über ihren Kopf hinweg den Besitzer wechselten,
und ein Teil von ihr wüsste, dass sie nichts bekommen würde, der
andere Teil aber immer noch hoffte, der Eismann könnte ihr
irrtümlich oder aus Mitleid doch etwas geben. Sie litt, weil sie
sich schämte, etwas zu begehren.
Ich zog meine Brieftasche hervor und entnahm ihr eine Visitenkarte.
Sie runzelte die Stirn und sah mich an. Dann lächelte sie
sarkastisch, es wirkte ein bisschen hässlich.
„Mir geht’s gut, Patrick.“
„Du bist um zehn Uhr morgens schon halb voll, Kara!“
Sie zuckte die Achseln. „Irgendwo ist es schon Mittag.“
„Hier aber noch nicht.“
Micky Doog steckte wieder den Kopf aus der Tür. Er blickte mich
direkt an, jetzt waren seine Augen nicht mehr so verschwommen,
sondern waren durch eine Prise Koks, oder was immer er momentan
verkaufte, mutig geworden.
„Hey Kara, kommst du wieder rein?“
Sie machte eine kleine Bewegung mit den Schultern, meine
Visitenkarte in ihrer Hand wurde feucht. „Bin sofort wieder da,
Mick.“ Mickey schien noch mehr sagen zu wollen, trommelte jedoch
gegen die Tür, nickte und verschwand.
Kara blickte die Strasse hinunter und starrte lange die Autos an.
„Wenn man irgendwo weggeht“, stellte sie fest, „glaubt man, dass
alles kleiner aussieht, wenn man zurückkommt.“ Sie schüttelte den
Kopf und seufzte.
„Tut es nicht?“
Wieder schüttelte sie den Kopf. „Sieht genauso beschissen aus wie
zuvor.“
Sie ging ein paar Schritte/rückwärts und tippte sich mit meiner
Karte auf die Hüfte. Als sie mich wieder ansah, hatte sie große
Augen. „Alles Gute, Patrick!“
„Dir auch, Kara.“
Sie hielt meine Karte hoch. „Hey, jetzt wo ich die hier habe, hm?“
Sie schob die Karte in die Gesäßtasche ihrer Jeans und wandte sich
der offenen Tür des Black Emerald zu. Dann hielt sie inne, drehte
sich um und lächelte mir zu. Es war ein breites, hübsches Lächeln,
doch schien ihr Gesicht nicht daran gewöhnt zu sein: Die Wangen
zitterten angestrengt.
„Pass auf, Patrick, ja?“
„Worauf?“
„Auf alles, Patrick. Auf alles.“
Ich warf ihr einen verständnislosen Blick zu, und sie nickte mir
zu, so als teilten wir ein Geheimnis, dann ging sie in die Bar und
war verschwunden.