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South Street 411 war das einzige leerstehende
Gebäude auf einer Strasse voller Künstlerateliers, Teppichmacher,
Theaterschneider, Secondhandläden und Privatgalerien. Zwei
Häuserblöcke lang SoHo-Feeling in Boston.
Das Haus war vier Stockwerke hoch und früher ein Parkhaus gewesen,
als es davon noch genügend in der Stadt gab. In den späten
Vierzigern wurde es verkauft, und der neue Besitzer machte es zu
einem Unterhaltungskomplex für Seeleute. Im Erdgeschoss befanden
sich eine Bar und Billardräume, in der ersten Etage war ein Casino
und in der zweiten ein Bordell.
Fast mein ganzes Leben lang hatte das Haus leergestanden, so dass
mir nie klar war, wofür der dritte Stock benutzt wurde, bis mein
Porsche nun in einem uralten Autolift an den unteren dunklen Etagen
vorbei nach oben fuhr und sich die Türen auf düstere, muffige
Bowlingbahnen öffneten.
Von einer gewölbten Decke hingen hier und dort Lampenfassungen
herunter, mehrere der Bahnen waren zu Schutthalden verkommen. In
den Kugelfangrinnen lagen weiße Haufen zerbrochener Bowlingkegel,
die Vorrichtungen zum Trocknen der Hände waren schon vor langer
Zeit aus dem Boden gerissen und wahrscheinlich separat verkauft
worden. Doch in einigen Haltern lagen noch Bowlingkugeln, und bei
manchen Bahnen konnte ich unter dem Staub und Schmutz noch die
Markierungen erkennen.
Wir stiegen aus dem Auto und verließen den Aufzug.
Bubba saß in einem Clubsessel neben der mittleren Bahn. Unten am
Stuhl waren noch Schrauben zu sehen, irgendwo hatte er ihn aus dem
Boden gerissen. Der Lederbezug war zerschlissen, aus den Löchern
quoll Schaumstoff hervor und lag neben Bubbas Füssen auf dem
Boden.
„Wem gehört dieser Laden?“ fragte ich.
„Freddy.“ Er nahm einen Schluck aus einer Flasche Wodka. Sein
Gesicht war gerötet, die Augen leicht wässrig, so dass ich davon
ausging, dass er gut und gerne bei der zweiten Flasche war – kein
gutes Zeichen.
„Freddy hält sich nur zum Spaß ein leerstehendes Haus?“ Er
schüttelte den Kopf. „Die zweite und dritte Etage sehen nur vom
Aufzug scheiße aus. In Wirklichkeit sind sie ganz nett. Freddy
feiert da manchmal kleine Partys mit seinen Leuten und so.“ Ohne
jede Freundlichkeit sah er Phil an. „Was willst du denn hier, du
Wichser?“
Phil machte einen Schritt nach hinten, hatte sich aber besser im
Griff als die meisten Leute, die auf einen völlig abgedrehten Bubba
treffen.
„Ich stecke mit in der Sache drin, Bubba. So richtig.“
Bubba grinste, und die Dunkelheit über dem hinteren Teil der Bahnen
schien sich auszubreiten. „Na dann“, gab er zurück, „wie schön für
dich. Hast einen geärgert, der Angie ins Krankenhaus geschickt hat,
und diesmal bist du es nicht selbst gewesen? Arbeitet da noch einer
auf deinem Fachgebiet, Tücke?“
Phil rückte einen Schritt näher an mich heran. „Das hat nichts mit
dem, was zwischen uns ist, zu tun, Bubba.“
Bubba sah mich mit hochgezogenen Augenbrauen an. „Hat der plötzlich
Mumm bekommen, oder ist der einfach nur dumm?“ Ich hatte Bubba
schon ein paarmal in diesem Zustand erlebt; für meinen Geschmack
war er ein bisschen zu nah am Wahnsinn. Nach meiner korrigierten
Schätzung musste er inzwischen drei Flaschen Wodka intus haben, man
konnte nicht sagen, ob er seinen niederen Instinkten die Führung
überlassen würde.
Bubba machte sich überhaupt nur aus zwei Menschen etwas: aus Angie
und aus mir. Und Phil hatte Angie im Laufe der Jahre einfach zu oft
verletzt, als dass Bubba jetzt etwas anderes empfinden konnte als
puren Hass. Für jemanden ein Hassobjekt zu sein ist relativ. Wenn
dich ein Werbefuzzi hasst, dessen schicken Schlitten du auf der
Autobahn geschnitten hast, kann man wahrscheinlich ganz gut damit
leben. Aber wenn Bubba einen hasst, ist es keine schlechte Idee,
den Kontinent zu wechseln.
„Bubba“, versuchte ich es.
Langsam wandte er den Kopf, um mich anzusehen. Sein Blick war
verschwommen.
„Phil ist bei dieser Sache auf unserer Seite. Mehr brauchst du im
Moment nicht zu wissen. Er macht mit, egal was wir tun.“ Er zeigte
keine Reaktion, wandte sich nur wieder Phil zu und fixierte ihn mit
verschwommenem Blick.
Phil hielt ihm so lange wie möglich stand, der Schweiß lief ihm an
den Schläfen herunter, doch schließlich schaute er zu Boden. „Okay,
Penner“, sagte Bubba. „Wir lassen dich ein paar Runden zugucken,
wenn du das wiedergutmachen willst, was du deiner Frau angetan
hast, oder was für einen Dünnschiss du dir jetzt einredest.“ Er
stand auf und stellte sich
vor Phil, bis dieser aufsah. „Nur damit es keine Missverständnisse
gibt: Patrick vergibt. Angie vergibt. Ich nicht. Irgendwann werde
ich dir weh tun.“
Phil nickte. „Ich weiß, Bubba.“
Mit dem Zeigefinger hob Bubba Phils Kinn an. „Und wenn irgendwas
von dem, was hier heute passiert, nach draußen kommt, dann weiß
ich, dass es nicht von Patrick war. Was bedeutet, dass ich dich
umbringe, Phil. Kapiert?“
Phil wollte nicken, doch Bubbas Finger hinderte ihn daran. „Ja“,
stieß Phil durch die zusammengepressten Zähne hervor. Bubba sah zu
einer dunklen Wand hinter dem Aufzug herüber. „Licht!“ befahl
er.
Hinter der Wand legte jemand den Schalter um, und in den wenigen
verbliebenen Lampenfassungen über dem hinteren Teil der Bahnen
flackerte ein mattes grünweißes Neonlicht auf. Ein erneutes
Flackern, und mehrere dunstiggelbe Lichtstreifen fielen auf die
Bowlinggruben.
Bubba hob die Arme, drehte sich um und machte eine ausladende
Handbewegung, wie Moses, der das Rote Meer teilt. Wir blickten die
Bahnen hinunter, während eine Ratte die Kugelrinne entlang in
Sicherheit huschte.
„Heilige Scheiße!“ stieß Phil hervor.
„Was gesagt?“ fragte Bubba.
„Nein. Nichts“, brachte Phil heraus.
Genau mir gegenüber kniete am hinteren Ende der Bahn Kevin Hurlihy
in der Bowlinggrube. Seine Hände waren auf dem Rücken gefesselt,
die Beine an den Knöcheln zusammengebunden, um den Hals hatte er
eine Schlinge, die mit einem Nagel an der Wand über der Grube
befestigt war. Sein Gesicht war geschwollen und glänzte nur so von
blutigen Striemen. Bubba hatte ihm die Nase gebrochen; Ich ließ
Bubba und Phil stehen und ging die Bahn hinunter auf Kevin zu. Er
sah mich kommen, was ihm Stärke zu verleihen schien. Vielleicht
hielt er mich für die Schwachstelle.
Als Grace mir erzählt hatte, dass er auf ihren Tisch zugekommen
war, hatte ich geantwortet, ich brächte ihn um. Wenn er damals vor
mir gestanden hätte, hätte ich das auch getan. Das war blinde Wut.
Dies hier nannte man Folter.
Als ich mich ihm näherte, holte er Luft und schüttelte den Kopf,
als wolle er klar werden, dann heftete er seine ausdruckslosen
Augen auf mich.
Kevin foltert auch, flüsterte eine Stimme in meinem Kopf. Er tötet
Menschen. Es macht ihm Spaß. Er hätte kein Mitleid mit dir. Du
brauchst auch keines mit ihm zu haben.
„Kevin“, sprach ich ihn an und hockte mich vor ihm auf die Knie,
„dies ist ‘ne schlimme Sache. Das weißt du genau. Wenn du mir nicht
sagst, was ich wissen will, spielt Bubba Spanische Inquisition mit
dir.“
„Fick dich!“ brachte er mit brüchiger Stimme durch die verdrahteten
Zähne hervor. „Fick dich, Kenzie, verstanden?“
„Nein, Kevin. Nein. Wenn du mir jetzt nicht hilfst, machen wir dich
fertig, auf alle nur möglichen Arten. Fat Freddy hat mir freie Hand
bei dir gegeben. Und bei Jack.“
Seine linke Gesichtshälfte sackte leicht ab.
„Das ist die Wahrheit, Kevin.“
„Blödsinn!“
„Glaubst du, wir wären sonst hier? Du hast zugelassen, dass auf
Vincent Patrisos Enkeltochter geschossen wurde.“
„Ich hab nicht…“
Ich schüttelte den Kopf. „So sieht er es aber. Egal, was du jetzt
sagst.“
Mit roten, hervorquellenden Augen schüttelte er den Kopf und sah zu
mir hoch.
„Kevin“, sagte ich leise, „erzähl mir, was zwischen dem EES und
Hardiman und Rugglestone vorgefallen ist. Wer ist der dritte
Mann?“
„Frag doch Jack!“
„Das tue ich auch, aber zuerst frage ich dich.“
Er nickte, und die Schlinge schnitt ihm in den Hals, so dass er
gurgelnde Geräusche von sich gab. Ich lockerte das Seil an seinem
Adamsapfel, und er seufzte, die Augen auf den Boden gerichtet.
Störrisch schüttelte er den Kopf, und ich wusste, dass er nichts
sagen würde.
„Achtung!“ rief Bubba.
Kevins Augen weiteten sich, sein Hals in der Schlinge zuckte
zurück, und ich trat einen Schritt zur Seite, als die Bowlingkugel
immer schneller die Bahn entlanggeschossen kam, über die Splitter
in dem alten Boden hüpfte und schließlich gegen Kevin Hurlihys
Leiste prallte.
Er heulte auf, riss an der Schlinge, doch ich hielt ihn an den
Schultern zurück, damit er sich nicht erwürgte. Tränen liefen über
seine Wangen.
„Nur ein Spare!“ rief Bubba.
„Hey, Bubba“, sagte ich, „warte mal!“
Aber Bubba war schon mittendrin. Ein Bein vor das andere gekreuzt,
stand er an der Abwurflinie und warf die Kugel. Sie flog in einem
Bogen über die Pfeilmarkierungen und traf die Bahn mit einem
kleinen Rückwärtsdrall, dann raste sie über das Holz und zerbrach
Kevins linkes Knie.
„O Gott!“ jaulte Kevin und zuckte nach rechts.
„Jetzt bist du dran, Jack!“ Bubba nahm eine neue Kugel und betrat
die nächste Bahn.
„Ich sterbe, Bubba.“ Jack sprach leise und resigniert, so dass
Bubba kurz innehielt.
„Nicht wenn du redest, Jack“, erklärte er.
Jack sah mich an, als bemerke er mich erst jetzt. „Weißt du, was
der Unterschied zwischen dir und deinem Vater ist, Patrick?“ Ich
schüttelte den Kopf.
„Dein Alter hätte die Bowlingkugel selbst geworfen. Aber du, du
lässt die anderen quälen, das machst du nicht selber. Du bist der
letzte Dreck!“
Ich blickte ihn an und verspürte plötzlich dieselbe wahnsinnige Wut
wie bei Grace zu Hause. Dieser irische Mafia-Killer, dieses Stück
Scheiße, wollte mir Vorträge halten? Während Grace und Mae irgendwo
in Nebraska oder sonstwo in einem FBI-Bunker hockten und Grace’
Karriere ruiniert war? Während Kara Rider gekreuzigt, Jason Warren
in Einzelteile zerlegt worden war, Angie im Krankenhaus lag und Tim
Dünn ausgezogen und nackt in eine Tonne gesteckt worden
war?
Wochenlang hatte ich zugesehen, wie Menschen wie Evandro, sein
Partner, Hardiman, Jack Rouse und Kevin Hurlihy aus Spaß Gewalt an
Unschuldigen ausübten. Weil sie die Schmerzen anderer genossen.
Weil sie stärker waren.
Da war ich plötzlich nicht mehr nur wütend auf Jack, Kevin oder
Hardiman, sondern auf jeden Menschen, der willentlich gewalttätig
wurde. Auf Menschen, die Abtreibungskliniken in die Luft jagten,
Bomben in Flugzeugen hochgehen ließen, ganze Familien
abschlachteten, U-Bahn-Tunnel vergasten, Geiseln erschossen und
Frauen umbrachten, nur weil sie vielleicht der Frau ähnelten, die
sie einst verschmäht hatte.
Alles unter dem Vorwand verletzter Gefühle. Oder ihrer Prinzipien.
Oder ihres Vorteils.
Ich hatte ihre Gewalt, ihren Hass und meine Moralvorstellungen
einfach satt, weil sie im vergangenen Monat Menschen das Leben
gekostet hatten.
Trotzig starrte Jack zu mir hoch, und ich fühlte das Blut in meinen
Ohren rauschen und hörte immer noch Kevin vor Schmerzen durch die
zusammengedrahteten Zähne zischen. Ich sah Bubba in die Augen und
bemerkte darin ein Leuchten, das mich anspornte. Ich fühlte mich
allmächtig.
Die Augen auf Jack gerichtet, zog ich die Pistole hervor und
drückte den Lauf gegen Kevins knirschende Zähne.
Voller Angst stieß er einen ungläubigen Schrei aus.
Ich packte in sein fettiges, öliges Haar, wobei ich Jack nicht aus
den Augen ließ, setzte ihm den Lauf an die Schläfe und spannte den
Hahn.
„Mach den Mund auf, Jack, wenn dir dieser Typ irgendwas
bedeutet!“
Jack sah Kevin an, und ich merkte, dass es ihn berührte. Wieder
einmal wunderte ich mich darüber, dass zwischen Menschen, die so
wenig Liebe kennengelernt hatten, eine solche Bindung bestehen
konnte.
Jack öffnete den Mund und sah plötzlich uralt aus.
„Du hast fünf Sekunden, Jack. Eins, zwei, drei…“
Kevin stöhnte, die gebrochenen Zähne klapperten gegen den Draht in
seinem Mund.
„Vier.“
„Dein Vater“, sagte Jack leise, „hat Rugglestone vier Stunden lang
von Kopf bis Fuß verbrannt.“
„Das weiß ich. Wer war noch dabei?“
Wieder öffnete er den Mund und sah Kevin an.
„Wer noch, Jack? Oder ich fange wieder an zu zählen. Aber diesmal
bei vier.“
„Wir alle. Timpson. Kevins Mutter. Diedre Rider. Burns. Climstich.
Ich.“
„Was passierte?“
„Wir fanden Hardiman und Rugglestone versteckt in diesem Lagerhaus.
Wir hatten die ganze Nacht lang nach dem Wagen gesucht und fanden
ihn am Morgen, direkt bei uns um die Ecke.“ Jack fuhr sich mit
einer fast weißen Zunge über die Oberlippe. „Dein Vater hatte die
Idee, Hardiman auf einen Stuhl zu fesseln und ihn zugucken zu
lassen, während wir Rugglestone erledigten. Zuerst wollten wir
eigentlich alle auf ihn schießen, dann Hardiman Fertigmachen und
dann die Polizei rufen.“
„Warum habt ihr das nicht gemacht?“
„Keine Ahnung. Irgendwas ging in uns vor da drinnen. Dein Vater
fand eine Kiste unter den Bodenbrettern versteckt. Sie war in einem
Kühlgerät und steckte voller Körperteile.“ Jack sah mich wild an.
„Körperteile. Von Kindern. Von Erwachsenen auch, aber, Mann, da war
ein Kinderfuß drin, Kenzie. Der steckte noch in einem kleinen roten
Turnschuh mit blauen Punkten drauf. O Gott! Als wir den sahen, war
es vorbei mit uns. Dein Vater holte das Benzin. Und wir nahmen die
Eispickel und die Rasierklingen.“
Ich winkte ab, weil ich nichts mehr über die braven Bürger vom EES
und davon, wie systematisch sie Charles Rugglestone erledigten,
hören wollte.
„Wer tötet jetzt für Hardiman?“
Jack guckte verwirrt. „Wie heißt der noch mal? Arujo. Den deine
Kollegin gestern nacht erledigt hat. Oder?“
„Arujo hat einen Partner. Weißt du, wer das ist, Jack?“
„Nein“, antwortete er. „Weiß ich nicht. Kenzie, wir haben einen
Fehler gemacht damals. Wir haben Hardiman am Leben gelassen,
aber…“
„Warum?“
„Warum was?“
„Warum habt ihr ihn am Leben gelassen?“
„Weil das unsere einzige Möglichkeit war, nachdem G. uns entdeckt
hatte. Das haben wir mit ihm ausgemacht.“
„G.? Von wem redest du, verdammt noch mal?“
Er seufzte. „Wir wurden entdeckt, Patrick. Als wir um Rugglestone
herumstanden und zuguckten, wie sein Körper in Flammen aufging.
Alle voller Blut.“
„Wer hat euch entdeckt?“
„G. Hab ich dir doch gesagt.“
„Wer ist G. Jack?“
Er runzelte die Stirn. „Gerry Glynn, Kenzie.“
Plötzlich wurde mir schwindelig, als hätte ich noch eine Zigarette
geraucht.
„Und er hat euch nicht festgenommen?“ fragte ich Jack. Jack nickte
leicht. „Er meinte, es sei verständlich. Er meinte, die meisten
Leute hätten so reagiert wie wir.“
„Das hat Gerry gesagt?“
„Über wen rede ich hier denn die ganze Zeit, verdammt noch mal? Ja.
Gerry. Er stellte klar, dass wir ihm nun alle was schuldeten, dann
hat er uns weggeschickt und Alec Hardiman festgenommen.“ „Was
meinst du damit, ihr schuldetet ihm was?“
„Wir mussten ihm ein paar Gefallen tun und so was, für den Rest
unseres Lebens. Dein Vater ließ seine Beziehungen spielen und hat
ihm die Konzession und die Alkohollizenz für seine Kneipe
beschafft. Ich habe ihm ein bisschen Geld besorgt. Die anderen
haben wieder was anderes gemacht. Wir durften nicht miteinander
sprechen, deshalb weiß ich nicht, wer ihm was gegeben hat, außer
von mir und deinem Alten.“
„Wer hat euch verboten, miteinander zu sprechen? Gerry?“ „Ja,
sicher!“ Er starrte mich an, die Adern an seinem Hals traten
hellblau hervor. „Du hast keine Ahnung, was für einer Gerry
wirklich ist, stimmt’s? O Gott!“ Er lachte laut. „Heilige Scheiße!
Du hast ihm den ganzen Scheiß mit dem Freund und Helfer abgekauft,
nicht?“ Er zerrte an seiner Halsschlinge. „Kenzie, Gerry Glynn ist
ein verdammtes Monster. Daneben seh ich wie ein Gemeinedepfarrer
aus!“ Wieder lachte er, doch klang es schrecklich schrill. „Glaubst
du etwa, dieses alte Taxi bei ihm vor der Tür bringt die Leute
immer dahin, wo sie hinwollen?“
Ich erinnerte mich an die Nacht in der Kneipe, an den betrunkenen
Jungen, den Gerry mit zehn Dollar zum Taxi geschickt hatte. War er
jemals zu Hause angekommen? Und wer war der Taxifahrer gewesen?
Evandro?
Bubba und Phil waren inzwischen zu mir gekommen, und ich sah sie
an, während ich die Pistole herunternahm.
„Wusstet ihr das?“
Phil schüttelte den Kopf.
Bubba meinte: „Ich wusste, dass Gerry ‘n bisschen undurchsichtig
ist, dass er hin und wieder Stoff verkauft und ‘n paar Nutten
laufen hat und so, aber das war’s auch schon.“
„Er hat euch allen was vorgemacht“, sagte Jack, „eurer ganzen
Generation. Jungejunge!“
„Etwas genauer, bitte!“ wies ich ihn an. „Bitte etwas genauer,
Jack!“ Er grinste uns an, seine alten Augen flatterten. „Gerry
Glynn ist eines der fiesesten Schweine, die diese Gegend je
hervorgebracht hat. Sein Sohn ist tot. Wusstest du das?“
„Er hatte einen Sohn?“
„Klar hatte er einen Scheißsohn! Brendan. Ist ‘65 gestorben. Hatte
so ‘ne seltsame Blutung am Stammhirn. Konnte nie einer erklären.
War erst vier Jahre alt und packt sich
plötzlich an den Kopf und fällt tot um in Gerrys Hofeinfahrt, als
er mit Gerrys Frau am Spielen ist. Gerry ist ausgerastet. Hat seine
Frau umgebracht.“
„Schwachsinn!“ erwiderte Bubba. „Der Typ war ein Bulle!“ „Ja, und?
Gerry hatte die fixe Idee, dass sie schuld daran war. Dass sie ihn
betrogen hatte und Gott sie bestraft hatte, indem er das Kind
sterben ließ. Er hat sie totgeschlagen und es irgend ‘nem Bimbo in
die Schuhe geschoben. Der Nigger wurde eine Woche nach seiner
Vernehmung in Dedham abgestochen. Fall erledigt.“
„Wie kommt Gerry denn an einen Typ, der hinter Gittern sitzt?“
„Gerry hat in Dedham gearbeitet. Damals durften Bullen noch zwei
Jobs haben. Irgendein Zeuge, ein Knastbruder, hatte angeblich
gehört, dass Gerry seine Finger im Spiel hatte. Eine Woche, nachdem
der entlassen wurde, hat Gerry ihn am Scollay Square
totgeprügelt.“
Jamal Cooper. Opfer Nummer eins. O Gott.
„Gerry gehört zu den unheimlichsten Typen auf diesem Planeten, du
hohle Birne!“
„Und dir ist kein einziges Mal in den Sinn gekommen, dass er
Hardimans Partner sein könnte?“ fragte ich.
Alle sahen mich an.
„Hardimans…?“ Wieder stand Jack der Mund offen, die Kiefermuskeln
arbeiteten unter der Haut. „Nein, nein. Ich meine, Gerry ist
gefährlich, aber er ist doch kein…“
„Was ist er nicht, Jack?“
„Na ja, er ist doch kein verrückter Psycho-Serienmörder!“ Ich
schüttelte den Kopf. „Ganz schöne Hohlbirne!“
Jack sah mich an. „Scheiße, Kenzie, Gerry ist doch von hier! Solche
Verrückten kommen doch nicht von hier!“
Wieder schüttelte ich den Kopf. „Du bist auch von hier, Jack. Mein
Vater auch. Denk doch dran, was ihr beiden in dem Lagerhaus
abgezogen habt!“
Ich blickte mich um und sah, wie Kevin trotz der Schmerzen
versuchte, bei Bewusstsein zu bleiben. Sein Gesicht war
blutverschmiert.
„Ich hab keinen umgebracht, Jack.“
„Aber wenn ich nichts gesagt hätte, dann hättest du’s getan,
Kenzie. Dann ja!“
Ich drehte mich wieder um und ging weiter.
„Du möchtest dich wohl gerne als guten Menschen sehen, Kenzie, was?
Denk mal drüber nach, was ich gerade gesagt habe! Was du beinahe
getan hättest.“
Aus der Dunkelheit vor mir kamen Schüsse.
Ich sah das Mündungsfeuer, fühlte die erste Kugel an meiner
Schulter vorbeisausen.
Ich ließ mich fallen, als eine zweite Kugel durch die Finsternis
ins Licht sauste.
Hinter mir hörte ich zwei dunkle Geräusche von Metall auf Fleisch.
Schlürfende Geräusche.
Als Pine aus dem Dunkeln trat, drehte er den Schalldämpfer von
seiner Pistole ab. Die Hand war von Rauch umhüllt.
Ich wandte mich um und sah nach hinten.
Phil war auf die Knie gefallen und hielt die Hände über dem Kopf.
Bubba hatte den Kopf in den Nacken gelegt und ließ sich Wodka in
den Hals fließen.
Kevin Hurlihy und Jack Rouse starrten mich ausdruckslos an, beide
hatten Einschusslöcher mitten in der Stirn.
„Willkommen in meiner Welt“, sagte Pine und streckte mir die Hand
entgegen.