20
Als ich zurück nach oben ging, guckte ich
zuerst nach Mae. Sie lag zusammengerollt auf der Seite, hielt ein
Kopfkissen im Arm, die Locken fielen ihr in die Augen, die Wangen
waren vom Schlaf leicht gerötet.
Ich sah auf die Uhr. Halb neun. Was ihre Mutter bei der vielen
Arbeit an Schlaf einbüsste, Mae holte es auf jeden Fall nach. Ich
machte die Tür zu, ging in die Küche und schlug mich mit drei
Anrufen von empörten Nachbarn herum, die wissen wollten, warum in
aller Welt ich morgens um acht mit einer Feuerwaffe herumschiessen
würde. Ich bekam nicht heraus, worüber sie sich mehr aufregten,
über den Schuss oder die frühe Uhrzeit, fragte aber auch nicht
weiter nach. Ich entschuldigte mich, worauf zwei einfach auflegten,
während der dritte mir riet, professionelle Hilfe in Anspruch zu
nehmen.
Nach dem dritten Anruf meldete ich mich bei Bubba.
„Was ist los?“
„Hast du Zeit, ein paar Tage lang Leute zu beschatten?“
„Wen?“
„Kevin Hurlihy und Grace.“
„Sicher. Die beiden sehen aber nicht gerade so aus, als würden sie
in den gleichen Kreisen verkehren.“
„Tun sie auch nicht. Aber er will vielleicht irgendwas mit ihr
anstellen, um an mich ranzukommen, deshalb muss ich wissen, wo sich
die beiden aufhalten. Ist ein Job für zwei Leute.“
Er gähnte. „Ich nehme Nelson.“
Nelson Ferrare war ein Typ aus unserem Stadtteil, der Bubba bei
seinen Waffengeschäften half, wenn er einen zusätzlichen Schützen
oder Fahrer brauchte. Nelson war klein, höchstens ein Meter
sechzig, und ich hatte ihn noch nie laut reden oder mehr als fünf
Wörter an einem Tag sprechen hören. Nelson war ein genauso
verrückter Spinner wie Bubba, hatte aber zusätzlich einen
Napoleon-Komplex. Wie Bubba konnte er seine Psychose so lange unter
Kontrolle halten, wie er mit irgend etwas beschäftigt war. „Okay.
Und, Bubba! Wenn mir in der nächsten Woche irgendwas passieren
sollte, sagen wir, ich habe einen Unfall, tust du mir dann einen
Gefallen?“
„Was denn?“
„Versteck Mae und Grace an einem sicheren Ort…“
„Klar.“
„… und mach Hurlihy kalt!“
„Kein Problem. Ist das alles?“
„Das ist alles.“
„Okee-doke. Bis bald.“
„Hoffen wir’s.“
Ich legte auf und bemerkte, dass sich das Zittern in meinen
Handgelenken gelegt hatte, das mich seit dem Schuss auf Kevins
Autofenster begleitet hatte.
Als nächstes rief ich Devin an.
„Agent Bolton will mit dir reden!“
„Kann ich mir denken.“
„Es gefällt ihm nicht, dass du mit zwei von vier Toten in
Verbindung gebracht wirst.“
„Vier?“
„Wir glauben, dass er gestern Abend wieder zugeschlagen hat. Kann
jetzt aber nicht darüber reden. Kommst du vorbei, oder muss Bolton
bei dir vorbeikommen?“
„Ich komme vorbei.“
„Wann?“
„Gleich. Übrigens hat mir Kevin Hurlihy gerade einen Besuch
abgestattet und mir geraten, mich aus der Sache rauszuhalten.“ „Wir
lassen ihn seit Tagen überwachen. Er ist nicht der Mörder.“ „Das
hab ich auch nicht gedacht. Für das, was dieser Typ abzieht, fehlt
ihm die Phantasie. Aber irgendwas hat er damit zu tun.“ „Ist schon
komisch, das gebe ich zu. Also, beweg deinen Arsch rüber zum
FBI-Hauptquartier. Bolton ist soweit, dass er alle einbuchtet,
dich, Gerry Glynn, Jack Rouse, Fat Freddy und jeden, der irgendwann
in die Nähe der Opfer gekommen ist.“
„Vielen Dank für den Tipp.“
Ich legte auf, und in dem Moment wurde meine Wohnung von
Countrymusik in ohrenbetäubender Lautstärke erschüttert, die durch
das offene Küchenfenster hereinfegte. Klar: Um neun Uhr legt Waylon
los.
Ich blickte auf die Uhr. Punkt neun.
Sofort lief ich nach draußen auf die rückwärtige Veranda. Lyle
arbeitete am Haus nebenan und drehte das Radio leiser, als er mich
sah.
„Hey, Patrick, wie geht’s dir, Junge?“
„Lyle“, sagte ich, „die Tochter von meiner Freundin schläft heute
bei mir. Könntest du es vielleicht so leise lassen?“
„Na klar, mein Junge. Sicher.“
„Danke“, erwiderte ich. „Wir kratzen bald die Kurve, dann kannst du
die Musik ja wieder aufdrehen.“
Er zuckte mit den Achseln. „Bin heute selber nur ein paar Stunden
hier. Hab ‘nen kaputten Zahn, der mich die ganze Nacht wach
gehalten hat.“
„Zum Zahnarzt?“ fragte ich und kniff die Augen zusammen. „Jawohl“,
bestätigte er trübe. „Ich hasse diese Schweine, letzte Nacht habe
ich selbst versucht, den Zahn mit einer Zange rauszuziehen, aber
das Miststück hat sich nur ‘n bisschen bewegt. Außerdem wurde die
Zange ganz glitschig von dem ganzen Blut und, na ja…“
„Viel Glück beim Zahnarzt, Lyle!“
„Danke“, gab er zurück. „Eins sag ich dir, der Hund gibt mir keine
Betäubungsspritze. Der alte Lyle kippt sofort um, wenn er ‘ne Nadel
sieht. Ganz schöner Feigling, was?“
Klar, Lyle, dachte ich. Ein Riesenschißer. Zieh dir doch noch ein
paar mehr Zähne mit der Zange, und niemand wird noch von was
anderem reden als davon, was für ein Schlappschwanz du bist. Ich
ging zurück ins Schlafzimmer. Mae war weg.
Der Schnuller lag am Fußende meines Bettes, und Miss Lilly, ihre
Puppe, lag oben auf dem Reisebett und starrte mich mit toten
Puppenaugen an.
Dann hörte ich die Toilettenspülung. Als ich in den Gang trat, kam
Mae gerade aus dem Badezimmer und rieb sich die Augen. Mein Herz
klopfte mir bis zum Hals. Am liebsten wäre ich auf die Knie
gefallen vor Erleichterung.
„Ich hab Hunger, Patrick!“ sagte sie und ging in ihrem
MickymausSchlafanzug mit den angenähten Füssen in die
Küche.
„Apple Jacks oder Sugar Pops?“ brachte ich heraus.
„Sugar Pops.“
„Okay, dann gibt es Sugar Pops.“
Während sich Mae im Badezimmer anzog und die Zähne putzte, rief ich
Angie an.
„Hey“, sagte sie.
„Wie geht’s?“
„Ach… ganz gut. Rede mir immer noch ein, dass wir alles getan
haben, um Jason zu schützen. Hast du was über Eric herausgefunden?“
erkundigte ich mich.
„Ein bisschen. Vor fünf Jahren, als Eric noch Teilzeit an der Uni
von Massachusetts in Boston unterrichtete, zog ein Stadtrat von
Jamaica Plain namens Paul Hobson gegen die Uni und Eric vor
Gericht.“ „Weswegen?“
„Keine Ahnung. Alle die Sache betreffenden Dokumente sind
versiegelt. Sieht nach einer aussergerichtlichen Einigung aus,
woraufhin alle Redeverbot bekommen haben. Aber Eric hat die Uni von
Massachusetts danach verlassen.“
„Sonst noch was?“
„Bis jetzt nicht, aber ich suche weiter.“
Ich erzählte ihr von meiner Begegnung mit Kevin.
„Du hast ihm das Autofenster eingeschossen, Patrick? O Gott!“ „Ich
war ein bisschen durcheinander.“
„Ja, aber ihm gleich das Fenster zerschießen?“
„Angie“, erklärte ich, „er hat Mae und Grace bedroht! Wenn er das
nächste Mal wieder so was Dummes sagt, vergesse ich vielleicht
einfach das Auto und schieße auf ihn.“
„Das wird Rache geben“, prophezeite sie.
„Darüber bin ich mir im klaren.“ Ich seufzte und fühlte den Druck
hinter meinen Augen, spürte den Geruch von Angst in meinem Hemd.
„Bolton hat mich zum JFK-Gebäude bestellt.“
„Mich auch?“
„Von dir war nicht die Rede.“ „Gut.“
„Ich weiß nicht, was ich mit Mae machen soll.“ „Ich kann sie
nehmen“, schlug Angie vor. „Echt?“
„Ja, gerne. Bring sie vorbei. Ich gehe mit ihr auf den Spielplatz
auf der anderen Straßenseite.“
Ich rief Grace an und erzählte ihr, dass bei mir etwas
dazwischengekommen sei. Sie fand es eine gute Idee, dass Mae mit
Angie spielte, solange es Angie nichts ausmachte.
„Sie freut sich drauf, glaub mir.“
„Toll. Wie geht’s dir?“
„Gut. Warum?“
„Weiß nicht“, erwiderte sie. „Du klingst etwas unsicher.“
Das kommt von Menschen wie Kevin, dachte ich.
„Mir geht’s gut. Wir sehen uns später.“
Als ich auflegte, kam Mae in die Küche.
„Hey, Kumpel“, rief ich, „gehen wir auf den Spielplatz?“
Sie lachte. Es war das Lächeln ihrer Mutter: arglos, offen und
direkt. „Spielplatz? Gibt’s da Schaukeln?“
„Klar gibt’s da Schaukeln. Sonst war’s ja kein richtiger
Spielplatz.“ „Gibt’s da auch ein Klettergerüst?“
„Ja, das gibt’s da auch.“
„Gibt’s da auch ‘ne Achterbahn?“
„Noch nicht“, antwortete ich, „aber ich mache dem Management einen
Vorschlag.“
Sie schlüpfte in die Turnschuhe, kletterte gegenüber von mir auf
den Stuhl und legte ihre Beine auf meinen Stuhl. „Gut“, sagte sie.
„Mae“, sprach ich sie an, während ich ihr die Schuhe
band, „ich muss mich aber mit einem Freund treffen und kann dich
nicht mitnehmen.“
Der Anflug von Verwirrung und Verlassenheit in ihren Augen brach
mir das Herz.
„Aber“, fuhr ich eilig fort, „du kennst doch meine Freundin Angie?
Sie möchte gerne mit dir spielen.“
„Wieso?“
„Sie mag dich. Und sie mag Spielplätze.“
„Sie hat schöne Haare.“
„Ja, das stimmt.“
„Schön schwarz und schön lockig, die find ich toll.“
„Ich werd’s ihr sagen, Mae.“
„Patrick, warum hast du angehalten?“ fragte Mae.
Wir standen an der Ecke Dorchester Avenue und Howes Street. Auf der
anderen Straßenseite sah man den Ryan-Spielplatz. Die Howes Street
abwärts war Angies Haus zu sehen.
Und Angie, die davorstand. Die in diesem Moment ihren Exmann Phil
auf die Wange küsste.
Ich merkte, wie sich etwas in meiner Brust für einen Augenblick
zusammenkrampfte.
„Angie!“ rief Mae.
Angie drehte sich um, und Phil tat es ihr nach. Ich kam mir wie ein
Spanner vor. Ein wütender Spanner mit gewalttätigen Gedanken. Die
beiden überquerten die Strasse und kamen zusammen zur Kreuzung. Sie
sah wie immer wunderbar aus in ihrer Jeans, dem lila T-Shirt und
der über die Schulter geworfenen schwarzen Lederjacke. Ihr Haar war
noch nass, und eine einzelne Strähne hatte sich hinter ihrem Ohr
gelöst und umspielte nun ihren Wangenknochen. Sie schob sie zurück,
während sie näher kam und Mae zuwinkte. Leider sah Phil ebenfalls
gut aus. Angie hatte mir erzählt, dass er zu trinken aufgehört
hatte, und das zeigte inzwischen Wirkung. Seit unserem letzten
Treffen hatte er mindestens zwanzig Kilo abgenommen, sein Gesicht
war glatt und straff, die Augen nicht mehr verquollen, wie sie es
die letzten fünf Jahre gewesen waren. Er bewegte sich locker in
einem weißen Hemd und einer gebügelten anthrazitfarbenen Hose, die
zu seinem aus der Stirn gekämmten Haar passte. Er sah fünfzehn
Jahre jünger aus, seine Pupillen leuchteten so wie damals, als er
ein Kind war.
„Hey, Patrick!“ grüsste er.
Er blieb an der Bordsteinkante stehen und legte die Hand aufs
Herz.
„Ist sie das?“ fragte er. „Ist sie das? Ist das die große,
unvergessliche, weltberühmte Mae?“
Er hockte sich neben sie, und sie lächelte breit.
„Ich bin Mae“, sagte sie schüchtern.
„Es ist mir ein Vergnügen, Mae!“ erwiderte er und schüttelte ihr
förmlich die Hand. „Ich wette, du verwandelst jeden Tag Frösche in
Prinzen. Du bist ja wirklich was ganz Besonderes.“
Sie blickte neugierig und leicht verwirrt zu mir hoch, doch an
ihrem geröteten Gesicht und ihren funkelnden Augen konnte ich
erkennen, dass Phil sie bereits verzaubert hatte.
„Ich bin Mae“, sagte sie erneut.
„Und ich bin Phillip“, stellte er sich vor. „Passt der Typ
ordentlich auf dich auf? „
„Das ist mein Freund“, sagte Mae. „Das ist Patrick.“
„‘nen besseren Freund gibt’s gar nicht“, erwiderte Phil.
Man musste Phil gar nicht von früher kennen, um sein
Einfühlungsvermögen in Menschen jeder Altersklasse zu erkennen.
Selbst als er so viel trank und seine Frau verprügelte, war diese
Fähigkeit nicht verschwunden. Seit Phil aus dem Kinderbett
geklettert war, hatte er diese Gabe besessen. Sie war nicht
aufgesetzt oder bewusst gesteuert. Er besaß die einfache, aber
seltene Fähigkeit, seinem Gesprächspartner das Gefühl zu
vermitteln, dass er der einzige Mensch auf diesem Planeten sei, der
seine Aufmerksamkeit verdient habe, dass seine Ohren nur dazu
bestimmt seien, den Worten seines Gegenübers zu lauschen, dass
seine Augen nur die eine Aufgabe hatten, diesen einen Menschen zu
sehen. Phil gab jedem Menschen das Gefühl, Phils einziger
Daseinsgrund auf dieser Welt sei diese ganz besondere Begegnung mit
einem selbst. Das fiel mir erst wieder ein, als ich ihn mit Mae
sah. Es war viel leichter, sich ihn als betrunkenes Arschloch
vorzustellen, das es irgendwie geschafft hatte, Angie zu
heiraten.
Doch Angie war zwölf Jahre lang mit ihm verheiratet gewesen. Auch
als er sie schlug. Und dafür hatte es keinen Grund gegeben. Auch
wenn Phil ein furchtbares, unverzeihliches Ungeheuer geworden war,
so gab es doch immer noch – irgendwo tief in ihm – den anderen
Phil, der sich nun neben Mae erhob. Angie fragte: „Wie geht’s dir,
kleine Süße?“
„Gut.“ Mae griff nach Angies Haar.
„Sie mag dein Haar“, erklärte ich.
„Was, dieses Durcheinander?“ Angie kniete sich hin, während Mae ihr
mit der Hand durchs Haar fuhr.
„Du hast so viele Locken“, bemerkte Mae.
„Das sagt mein Frisör auch.“
„Wie geht’s dir, Patrick?“ Phil streckte mir die Hand
hin.
Ich dachte drüber nach. An einem strahlenden Herbstmorgen mit so
frischer Luft und den von den orangen Blättern zurückgeworfenen
Sonnenstrahlen kam es mir albern vor, nicht mit der ganzen Welt in
Frieden zu leben.
Mein Zögern sprach wohl für sich, dann ergriff ich die
mir dargebotene Hand und schüttelte sie. „Nicht schlecht, Phil. Und
dir?“
„Gut“, antwortete er. „Muss ja jeden Tag weitergehen, aber du weißt
ja, wie das ist, bei jedem steht das Leben mal ‘ne Weile still.“
„Stimmt.“ Ich sah einem der Gründe für den Stillstand in meinem
eigenen Leben ins Gesicht.
„Tja, also…“ Er sah über die Schulter zu seiner Exfrau und dem Kind
hinüber, die sich gegenseitig in den Haaren herumwuschelten. „Sie
ist klasse.“
„Welche von beiden?“ fragte ich.
Er lächelte wehmütig. „Beide, würde ich sagen. Aber im Moment
meinte ich die Vierjährige.“
Ich nickte. „Ja, sie ist toll.“
Angie kam zu uns, hielt Mae an der Hand. „Wann musst du zur
Arbeit?“
„Heute mittag“, erwiderte er. Er sah mich an. „Der Typ, bei dem ich
momentan arbeite, ist ein Künstler in der Back Bay. Ich musste sein
gesamtes Zweifamilienhaus Auseinandernehmen, das ganze Parkett aus
dem neunzehnten Jahrhundert rausreißen, damit wir es jetzt durch
schwarzen -schwarzen! – Marmor ersetzen. Kannst du das glauben?“ Er
seufzte und fuhr sich durch das Haar.
„Ich hab mir gedacht“, begann Angie, „ob du vielleicht Lust
hättest, ein bisschen mit Mae und mir zu schaukeln?“
„Ach, ich weiß nicht“, sagte er und schaute Mae an, „mein Arm tut
etwas weh.“
„Stell dich nicht so an!“ meckerte Mae.
„Das kann ich nicht auf mir sitzenlassen, oder?“ Phil nahm die
Kleine mit einem Arm hoch und setzte sie sich auf die Hüfte. Dann
überquerten die drei die Strasse und gingen zum Spielplatz. Bevor
sie die Treppe hochstiegen und auf die Schaukeln zusteuerten,
winkten sie mir noch einmal zu.