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Schon bevor mein Vater sich für den Stadtrat
aufstellen ließ, hatte er sich in der Lokalpolitik engagiert. Er
tat seine Meinung auf Protestschildern kund und ging von Haus zu
Haus, und alle Chevys, die wir in meiner Kindheit und Jugend
besessen hatten, trugen immer unzählige Aufkleber auf der
Stossstange, die von der Parteizugehörigkeit meines Vaters
kündeten. Für ihn hatte Politik nichts mit gesellschaftlichem
Wandel zu tun, auch war es ihm scheißegal, was die meisten
Politiker öffentlich versprachen. Was ihn interessierte, waren
Beziehungen. Die Politik war das letzte richtige Baumhaus im Leben,
und wenn man darin mit den besten Kindern aus der Gegend saß,
konnte man die Leiter einziehen, und die anderen waren die
Dummen.
Mein Vater hatte Stan Timpson unterstützt, als dieser noch neu in
der Staatsanwaltschaft war und frisch von der Uni für den Stadtrat
kandidierte. Schließlich kam Timpson aus unserem Stadtteil, er war
der kommende Mann, und wenn alles nach Plan verlief, würde er bald
derjenige sein, den man anrufen musste, wenn eine Strasse gesperrt,
lärmende Nachbarn verwarnt oder der Cousin auf die Gehaltsliste der
Gewerkschaften gesetzt werden sollte.
Aus meiner Kindheit habe ich nur vage Erinnerungen an Timpson, doch
konnte ich nicht sagen, inwiefern meine eigenen Erinnerungen von
dem Bild Timpsons beeinflusst worden waren, das mir im Fernsehen
geboten wurde. Als ich dann seine Stimme gefiltert durch meinen
Hörer vernahm, klang sie seltsam körperlos, als sei sie vorher
aufgezeichnet worden.
„Pat Kenzie?“ fragte er freundlich.
„Patrick, Mr. Timpson.“ /
„Wie geht’s dir, Patrick?“
„Ganz gut, Sir. Und Ihnen?“
„Bestens, wirklich. Könnte nicht besser sein.“ Er lachte warmherzig
wie über einen gemeinsamen Scherz, der mir leider entgangen war.
„Diandra sagte, du wolltest mir ein paar Fragen stellen?“ „Ja, das
stimmt.“
„Na, dann schieß mal los, mein Junge.“
Timpson war vielleicht zehn oder zwölf Jahre älter als ich. Keine
Ahnung, wieso ich da sein Junge sein konnte.
„Hat Diandra Ihnen von dem Foto von Jason erzählt, das ihr
zugeschickt wurde?“
„Klar hat sie das, Patrick. Und ich muss dir sagen, es kommt mir
etwas komisch vor.“
„Also, tja…“
„Ich persönlich glaube, da spielt ihr jemand einen Streich.“ „Ganz
schön aufwendiger Streich.“
„Sie sagte, die Mafia-Connection hättest du verworfen?“ „Momentan
ja.“
„Tja, ich weiß nicht, was ich dir erzählen soll, Pat.“
„Arbeitet die Staatsanwaltschaft vielleicht an einem Fall, Sir, der
jemand veranlasst haben könnte, Ihre Exfrau und Ihren Sohn zu
bedrohen?“
„Das ist doch nur in Filmen so, Pat.“
„Patrick.“
„Ich meine, vielleicht führt man in Bogota private Rachefeldzüge
gegen Staatsanwälte. Aber in Boston? Ach komm, mein Junge, mehr
fällt dir nicht ein?“ Noch ein herzlicher Lacher.
„Sir, das Leben Ihres Sohnes ist vielleicht in Gefahr und…“ „Dann
schütze ihn, Pat.“
„Das versuche ich ja, Sir. Aber das kann ich nicht, wenn…“ „Weißt
du, was ich von der ganzen Sache halte? Ich sag’s dir: Das ist
einer von Diandras Verrückten. Hat vergessen, seine Tabletten zu
nehmen, und möchte ihr jetzt richtig Angst einjagen. Geh einfach
mal ihre Patientenliste durch, mein Junge! Das ist mein Vorschlag.“
„Sir, wenn Sie mir nur…“
„Pat, hör mir mal zu! Ich bin jetzt schon seit fast zwanzig Jahren
nicht mehr mit Diandra verheiratet. Als sie gestern Abend anrief,
war das das erste Mal nach sechs Jahren. Keiner weiß, dass wir mal
verheiratet waren. Keiner weiß von Jason. Beim letzten Wahlkampf,
kannst du mir glauben, haben wir damit gerechnet, dass die Sache
hochkommt: dass ich meine erste Frau samt kleinem Sohn verlassen
und mich in der ganzen Zeit nicht groß um sie gekümmert habe. Und
was glaubst du, Pat? Niemand kam damit an. Ein schmutziger
Wahlkampf in einer schmutzigen Stadt, doch keiner kam damit an.
Keiner weiß, dass zwischen mir und Diandra und Jason eine
Verbindung besteht.“
„Was ist mit…“
„War schön, mit dir zu sprechen, Pat. Sag deinem Vater, Stan
Timpson lässt ihn grüssen! Fehlt mir, der alte Junge. Wo treibt er
sich denn im Moment herum?“
„Auf dem Cedar Grove Friedhof.“
„Ach, hat er einen Job als Friedhofswächter angenommen? Gut, ich
muss Schluss machen. Alles Gute, Pat.“
„Dieser Junge“, stöhnte Angie, „vögelt noch schlimmer herum als du
zu deinen besten Zeiten.“
„Hey!“ mahnte ich.
Den vierten Tag lang beobachteten wir nun Jason Warren, und langsam
kam es uns vor, als verfolgten wir den jungen Rudolph Valentino.
Diandra hatte darauf bestanden, dass Jason nicht wissen sollte,
dass er beobachtet wurde, und hatte sich dabei auf die Abneigung
von jungen Männern berufen, das eigene Leben von jemand anderem
kontrollieren oder beeinflussen zu lassen, sowie auf Jansons
ausgeprägtes Bedürfnis nach Privatsphäre<, wie sie sich
ausdrückte.
Mir wäre meine Privatsphäre auch wichtig, wenn ich auf drei Frauen
in drei Tagen käme.
„Ein Hattrick“, bemerkte ich.
„Was?“ fragte Angie.
„Am Mittwoch hat der Junge einen Hattrick geschossen. Damit kommt
er in die Hall of Farne für Superrammler.“
„Männer sind Schweine!“
„Das stimmt“, bestätigte ich.
„Dann grins nicht so dreckig!“
Wenn Jason glaubte, ihm schleiche jemand hinterher, so war das mit
größter Wahrscheinlichkeit eine gekränkte Geliebte, eine junge
Frau, der es nicht sonderlich gefiel, eine von vielen oder Nummer
zwei von dreien zu sein. Aber wir hatten ihn nun fast nonstop über
achtzig Stunden beobachtet und niemand anders auf seiner Fährte
gesehen. Auch war er nicht schwer zu finden. Tagsüber ging Jason in
seine Seminare, verabredete sich danach zu einem Schäferstündchen
in seiner Studentenbude (das schien er mit seinem Zimmerkollegen,
einem Drogenfreak aus Oregon, abgesprochen zu haben, der jeden
Abend um sieben seine Haschparties abhielt, wenn Jason nicht da
war), lernte dann bis Sonnenuntergang draußen auf dem Rasen, aß mit
einem ganzen Tisch voller Frauen, aber ohne Männer in der Cafeteria
zu Abend und machte danach die Bars in der Umgebung von Bryce
unsicher.
Die Frauen, mit denen er schlief (wenigstens die drei, die wir
gesehen hatten), schienen voneinander zu wissen und nicht
eifersüchtig zu sein. Sie waren alle ungefähr der gleiche Typ: Sie
kleideten sich modisch, meistens schwarze Sachen, die an allen
möglichen Stellen ultracool eingerissen waren. Da sie gute Autos
fuhren und ihre Stiefel, Jacken und Rucksäcke aus teurem, weichem
Leder waren, trugen sie den unverkennbaren Modeschmuck wohl mit
Absicht. Der war schon wieder so peinlich, dass es cool war, nehme
ich an – eine ironische postmoderne Geste gegenüber einer Welt, die
keine Bodenhaftung mehr hatte. Oder so ähnlich. Keine von ihnen
hatte einen festen Freund.
Alle drei waren in der Geisteswissenschaftlichen Fakultät
eingeschrieben. Gabrielle studierte im Hauptfach Literatur, Lauren
beschäftigte sich mit Kunstgeschichte, spielte aber hauptsächlich
Gitarre in einer Frauenpunkband, deren Vorbilder Courtney 7Love und
Kim Deal zu sein schienen. Und Jade – klein, schlank und
selbstsicher mit großer Klappe – war Malerin.
Keine der Frauen schien allzu oft zu duschen. Für mich wäre das ein
Problem gewesen, Jason jedoch schien es nicht zu stören. Er duschte
auch nicht gerade oft. Was meinen Frauengeschmack angeht, bin ich
alles andere als konservativ, aber es gibt bei mir ein
ungeschriebenes Gesetz, was Duschgewohnheiten und Genitalschmuck
anbetrifft, da
bin ich gnadenlos. Macht mich bei den Grunge-Leuten zum absoluten
Liebestöter, schätze ich mal.
Doch dafür tat Jason sein Bestes. Er war offensichtlich so was wie
die männliche Campusnutte. Am Mittwoch Abend stieg er mit Jade aus
dem Bett und ging mit ihr zu einer Bar namens Harper’s Ferry, wo
sie Gabrielle trafen. Jade blieb in der Bar, und Jason zog sich mit
Gabrielle in ihren BMW zurück. Dort hatten sie oralgenitalen
Kontakt, was ich leider beobachten musste. Als sie zurückkamen,
gingen Gabrielle und Jade zusammen zur Toilette, wo sie, wie Angie
behauptete, fröhlich ihre Erfahrungen austauschten. „Es war von
einer Boa Constrictor die Rede“, erzählte Angie. „Es kommt nicht
auf die Größe an…“
„Red dir das ruhig ein, Patrick, vielleicht glaubst du’s dann eines
Tages.“
Dann machten die beiden Frauen mit ihrem lebendigen Spielzeug das
Bear’s Place am Central Square unsicher, wo Lauren mit ihrer Band,
allesamt offensichtlich stocktaube Möchtegern-Punks, spielte. Nach
dem Auftritt fuhr Jason mit Lauren nach Hause. Sie gingen in ihr
Zimmer, zündeten Räucherstäbchen an und rammelten wie die Karnickel
bis kurz vor Morgengrauen zu alten Patty-Smith-CDs. Am zweiten
Abend stieß ich mit ihm in einer Bar in North Harvard zusammen, als
ich von der Toilette kam. Ich versuchte, Angie in der Menschenmenge
zu finden, und bemerkte Jason deshalb erst, als ich ihn schon
angerempelt hatte.
„Suchst du jemanden?“
„Was?“ fragte ich.
Der Schalk blitzte ihm aus den Augen, aber nicht bösartig. Sie
leuchteten hellgrün in dem Licht, das von der Bühne herunterfiel.
„Ich hab gefragt, ob du jemanden suchst!“ Er zündete sich eine
Zigarette an und nahm sie in die Hand, in der er schon ein
Scotchglas hielt.
„Ja, meine Freundin“, erklärte ich. „Sorry, ich hab nicht
aufgepasst!“ „Kein Problem“, schrie er mir zu, um die langweiligen
Gitarrenriffs der Band zu übertönen. „Du sahst nur ‘n bisschen
verloren aus. Viel Glück!“
„Wobei?“
„Viel Glück“, schrie er mir ins Ohr, „dass du deine Freundin
findest oder so!“
„Danke.“
Ich bahnte mir einen Weg durch die Menge, und er wandte sich wieder
Jade zu und sagte ihr etwas ins Ohr, worüber sie lachen
musste.
„Zuerst hat’s ja Spaß gemacht“, bemerkte Angie am vierten Tag.
„Was?“
„Der Voyeurismus.“
„Sag nichts gegen Voyeurismus. Ohne den gäbe es die amerikanische
Kultur nicht.“
„Tu ich ja nicht“, lenkte sie ein, „aber langsam wird es, na ja,
langweilig, diesem Jüngelchen dabei zuzugucken, wie er alles bumst,
was nicht niet- und nagelfest ist. Verstehst du?“
Ich nickte.
„Sie wirken einsam.“
„Wer?“ fragte ich.
„Sie alle. Jason, Gabrielle, Jade, Lauren.“
„Einsam. Hm. Dann sind sie aber ziemlich gut darin, das vor dem
Rest der Welt zu verstecken.“
„Das hast du ja auch ziemlich lange geschafft, Patrick. Du auch.“
„Autsch!“ rief ich.
Am Ende des vierten Tages teilten wir uns die Arbeit. Für jemanden,
der so viele Frauen und Bars an einem Tag abklapperte, war Jason
sehr diszipliniert. Man konnte fast minutiös vorhersagen, wo er
sich zu einem bestimmten Zeitpunkt aufhalten würde. An dem Abend
ging ich nach Hause, während Angie sein Zimmer
beobachtete.
Sie rief an, als ich mir gerade mein Abendessen machte, und
erzählte mir, Jason schien es sich für die Nacht in seinem Zimmer
mit Gabrielle gemütlich gemacht zu haben. Angie wollte sich noch
ein bisschen Schlaf gönnen und ihm am nächsten Morgen wieder zur
Uni folgen.
Nach dem Essen setzte ich mich draußen auf die Veranda und blickte
auf die Strasse. Schnell wurde es dunkel und kühl. Die Temperatur
sank. Der Mond hing wie /eine Scheibe kalten Eises am Himmel, und
die Luft roch wie nach einem abendlichen Footballspiel an der
High-School. Über die Strasse wehte eine steife Brise, fegte durch
die Bäume und nagte an trockenen Blatträndern. Ich ging gerade
herein, als Devin anrief.
„Was ist passiert?“ wollte ich wissen.
„Wie meinst du das?“
„Du rufst doch nicht einfach so an, Dev! Das ist nicht deine Art.“
„Vielleicht ist das meine neue Art.“
„Nee.“
Er grummelte: „Na gut. Wir müssen reden.“
„Warum?“
„Weil auf dem Meeting House Hill gerade ein Mädchen
erledigt wurde, und die hatte keinen Ausweis bei sich, und ich
wüsste gerne, wer sie ist.“
„Und was genau hat das mit mir zu tun?“
„Vielleicht nichts. Aber sie hatte deine Visitenkarte in der Hand,
als sie starb.“
„Meine Karte?“
„Genau. Meeting House Hill. Wir treffen uns in zehn Minuten.“ Er
legte auf. Ich saß da mit dem Hörer am Ohr und legte ihn selbst
dann nicht zur Seite, als das Besetztzeichen erklang. Ich saß da,
hörte auf den Ton und wartete darauf, dass er mir sagte, das tote
Mädchen auf dem Meeting House Hill sei nicht Kara Rider, wartete
darauf, dass der Ton mir irgend etwas sagte. Ganz egal was.