Epilog

Einen Monat nach Gerry Glynns Tod wurde sein Beutelager in der ehemaligen Cafeteria der seit langem geschlossenen Strafvollzugsanstalt Dedham entdeckt. Abgesehen von vielen Körperteilen seiner Opfer, die er in einem halben Dutzend Kühltruhen aufbewahrte, fand die Polizei auch eine von Gerry erstellte Liste aller Menschen, die er seit 1965 umgebracht hatte. Mit siebenundzwanzig ermordete Gerry seine Frau, bei seinem Tod war er achtundfünfzig Jahre alt. In den dazwischenliegenden einunddreißig Jahren tötete er entweder alleine oder mit der Hilfe von Charles Rugglestone, Alec Hardiman und Evandro Arujo vierunddreißig Menschen.
Ein Polizeipsychologe vermutete allerdings, die tatsächliche Zahl könne noch höher liegen. Jemand mit Gerrys Ego, argumentierte er, würde ohne weiteres zwischen „minderwertigen“ und „hochwertigen“ Opfern unterscheiden.
Unter den vierunddreißig Opfern befanden sich sechzehn vermisste Jugendliche, einer in Lubbock, Texas, und ein Mädchen aus dem nicht eingemeindeten County Dade in Florida, genau wie Bolton vermutet hatte.
Dreieinhalb Wochen nach Gerrys Tod veröffentlichte Cox Publishers ein Buch mit dem reißerischen Titel Die
Hacker von Boston, geschrieben von einem Reporter der News. Zwei Tage lang verkaufte es sich gut, dann wurde das Lager in Dedham entdeckt, und die Menschen verloren das Interesse an dem Krimi, denn das Buch konnte nicht mit der Realität Schritt halten.
Eine interne Untersuchung der Polizei ergab, dass die Beamten und Agenten bei Gerry Glynns Tod „notwendige extreme Gewalt“ eingesetzt hätten, als Scharfschützen ihm vierzehn Kugeln in den Körper jagten, nachdem Oscar ihn mit den ersten drei Schüssen bereits getötet hatte.
Bei seiner Rückkehr aus Mexiko wurde Stanley Timpson auf dem Logan Airport verhaftet. Es wurde Anklage gegen ihn erhoben wegen Teilnahme an einer Mordverschwörung und wegen Behinderung einer bundesstaatlichen Ermittlung.
Nach erneuter Durchsicht des Falles Rugglestone entschied der Staat, die Strafverfolgung von Timpson den Bundesbehörden zu überlassen, da die einzigen Zeugen für den Mord an Rugglestone eine geisteskranke Insassin einer Irrenanstalt, eine mental zerrüttete Alkoholikerin und ein Aidskranker waren, der den Prozess nicht mehr erleben würde. Außerdem gab es keine Beweisstücke mehr. Als letztes hörte ich, Timpson plane die Eingabe eines Schuldgeständnisses für den Anklagepunkt der Justizbehinderung, damit im Gegenzug die Anklage wegen Mordes fallengelassen würde. Alec Hardimans Anwalt ersuchte den Obersten Gerichtshof um unverzügliche Annullierung des Urteils gegen seinen Klienten und unverzügliche Aufhebung der Haftstrafe aufgrund der inzwischen gegen Timpson und den EES erhobenen Vorwürfe bezüglich des Mordes an Rugglestone.
Dann erhob er eine zweite Klage vor dem Zivilgericht gegen den Staat Massachusetts, den jetzigen Gouverneur und Polizeichef sowie gegen die Männer, die diese Positionen im Jahre 1974 innegehabt hatten. Aufgrund der widerrechtlichen Haftstrafe, argumentierte der Anwalt, habe Alec Hardiman Anspruch auf 60 Millionen Dollar Schadenersatz, drei Millionen Dollar für jedes Jahr hinter Gittern. Seinem Klient, führte der Anwalt an, sei vom Staat ein weiteres Mal Schaden zugefügt worden, als er sich infolge unzureichender Bewachung seiner Mithäftlinge den Aids-Virus zuzog. Er solle unverzüglich entlassen werden, solange er noch etwas vom Leben habe.
Eine Aufhebung des Hardiman-Urteils ist momentan anhängig. Jack Rouse und Kevin Hurlihy verstecken sich angeblich auf den Kaiman-Inseln.
Ein anderes Gerücht, das aber nur selten in den Zeitungen auftauchte, besagte, sie seien auf Anordnung von Fat Freddy Constantine ermordet worden. Lieutenant John Kevosky von der Einheit für Schwerverbrechen sagte: „Negativ. Sowohl Kevin als auch Jack sind immer dann verschwunden, wenn es zu heiß wurde. Außerdem hatte Freddy keinen Grund, sie umzubringen. Sie haben ihm Geld eingebracht. Sie verstecken sich irgendwo in der Karibik. „ Oder auch nicht.
Diandra Warren gab ihre Beratertätigkeit in Bryce auf und schloss fürs erste ihre Privatpraxis.
Eric Gault unterrichtet weiterhin in Bryce, sein Geheimnis ist noch unentdeckt.
Evandro Arujos Eltern verkauften ein Tagebuch ihres Sohnes, das dieser als Jugendlicher verfasst hatte, für 20 000 Dollar an einen Privatsender. Später klagten die Produzenten auf Rückgabe des Geldes, da sich in dem Tagebuch nur die stinknormalen Aufzeichnungen eines damals noch vollkommen gesunden Hirns befanden. Die Eltern von Peter Stimovich und Pamela Stokes taten sich zu einer zweiten Gemeinschaftsklage gegen den Staat, den Gouverneur und die Strafanstalt Walpole zusammen, da diese Evandro Arujo auf freien Fuß gesetzt hatten.
Wie ein Wunder, sagten die Ärzte, trug Campbell Rawson keine bleibenden Schäden von der Überdosis Chloroform davon, die Gerry Glynn ihm verabreicht hatte. Eigentlich hätte er einen irreparablen Hirnschaden erleiden müssen, doch wachte er lediglich mit ein wenig Kopfweh auf.
Seine Mutter Danielle schickte mir eine Weihnachtskarte mit überschwenglichen Dankesbekundungen und lud mich ein, wann immer ich in Reading sei, bei ihr vorbeizukommen und die Gastfreundschaft ihrer Familie zu genießen.
Zwei Tage nach Gerrys Tod kehrten Grace und Mae aus dem abgesicherten Haus im Staat New York zurück. Grace bekam ihre Stelle im Beth-Israel-Krankenhaus zurück und rief mich an, als ich aus dem Hospital entlassen wurde.
Es war eins dieser merkwürdigen Gespräche, in denen höfliche Reserviertheit die frühere Intimität ersetzt, und als es sich seinem Ende näherte, fragte ich sie, ob sie irgendwann noch mal mit mir ausgehen würde.
„Ich glaube nicht, dass das eine gute Idee wäre, Patrick.“ „Ausgeschlossen?“ hakte ich nach.
Es folgte eine lange Pause, die schon an sich eine Antwort war. Dann sagte sie: „Du wirst mir immer etwas bedeuten.“
„Aber?“
„Aber meine Tochter kommt an erster Stelle, und ich kann sie nicht noch einmal deinem Leben aussetzen.“
Ich fühlte eine abgrundtiefe Leere in mir.
„Kann ich mit ihr sprechen? Mich von ihr verabschieden?“ „Ich glaube, das wäre nicht sehr gut. Für euch beide nicht.“ Ihre Stimme brach, sie atmete schnell, es klang wie ein feuchtes Zischen. „Manchmal ist es besser, die Dinge einfach ausklingen zu lassen.“
Ich schloss die Augen und senkte kurz den Kopf.
„Grace, ich…“
„Ich muss Schluss machen, Patrick. Pass gut auf dich auf! Das meine ich ernst. Pass auf, dass dein Job dich nicht Fertigmacht. Okay?“
„Okay.“
„Versprochen?“
„Ich verspreche es dir, Grace. Ich…“
„Tschüs, Patrick.“
„Tschüs.“
Angie verschwand einen Tag nach Phils Beerdigung.
„Er ist tot, weil er uns zu sehr liebte und wir ihn nicht genug liebten“, sagte sie.
„Wie kommst du darauf?“ Ich starrte auf das offene Grab, das in die harte, gefrorene Erde geschnitten war.
„Es war nicht sein Kampf, und trotzdem hat er mitgemacht. Für uns. Und wir haben ihn nicht genug geliebt, um ihn da rauszuhalten.“ „Ich weiß nicht, ob das so einfach ist.“
„Ist es“, versicherte sie mir und warf die Blumen auf den Sarg im Grab.
In meiner Wohnung stapelt sich die Post: Rechnungen und Anfragen von Boulevardzeitschriften, lokalen Fernsehsendern und Radiotalks. Reden, reden, reden, dachte ich bei mir, ihr könnt so viel reden, wie ihr wollt, es ändert doch nichts an der Tatsache, dass es Glynn gegeben hat. Und dass es noch viele wie ihn gibt. Das einzige, was ich aus dem Stapel gezogen und gelesen habe, ist eine Postkarte von Angie.
Sie kam vor zwei Wochen aus Rom. Vögel flattern über dem Vatikan.
Patrick,
hier ist es wunderschön. Was glaubst du, welche Pläne schmieden die Jungs in diesem Palast momentan wohl für mich? Hier kneifen einem die Typen ständig in den Arsch, bald haue ich einen um, und dann wird daraus ein internationaler Zwischenfall, ich weiß es genau. Morgen geht’s in die Toskana. Und dann – wer weiß? Renee lässt dich grüssen. Sie meint, du sollst dir keine Gedanken über den Bart machen, sie habe immer schon gedacht, dass dir einer gut stehen würde. Typisch Schwester! Pass auf dich auf!
Du fehlst mir, Ange
Du fehlst mir.
Auf Anraten von Freunden konsultierte ich in der ersten Dezemberwoche einen Psychiater.
Nach einer Stunde teilte er mir mit, ich leide an klinischer Depression.
„Das weiß ich“, gab ich zurück.
Er beugte sich vor. „Und wie können wir Ihnen da helfen?“ Ich warf einen Blick auf die Tür hinter ihm, ich nahm an, es sei ein Wandschrank.
„Haben Sie Grace oder Mae Cole da drin versteckt?“
Er drehte sich tatsächlich um. „Nein, aber…“
„Und Angie?“
„Patrick…“
„Können Sie Phil wieder auf erwecken oder die letzten Monate ungeschehen machen?“
„Nein.“
„Dann können Sie mir nicht helfen, Doktor.“
Ich stellte ihm einen Scheck aus.
„Aber, Patrick, Sie haben starke Depressionen, und Sie brauchen…“
„Ich brauche meine Freunde, Doktor. Tut mir leid, aber Sie sind ein Fremder für mich. Sie können mir viel raten, aber es bleibt der Rat eines Fremden, und den nehme ich nicht an. Das hat mir meine Mutter beigebracht.“
„Trotzdem brauchen Sie…“
„Ich brauche Angie, Doktor. So einfach ist das. Ich weiß, dass ich Depressionen habe, aber ich kann’s im Moment nicht ändern und will es auch gar nicht.“
„Warum nicht?“
„Weil es natürlich ist. Natürlich wie die Jahreszeiten. Wenn Sie erlebt hätten, was mir passiert ist, dann wären Sie verrückt, wenn Sie keine Depressionen hätten. Stimmt’s?“
Er nickte.
„Vielen Dank, dass Sie sich die Zeit genommen haben, Doktor.