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Die Räume des soziologischen, psychologischen
und kriminologischen Instituts von Bryce befanden sich in der
ersten und zweiten Etage von Mclrwin Hall, darunter auch das von
Eric Gault. Im Erdgeschoss waren die Seminarräume, und in einem von
ihnen hielt sich momentan Jason Warren auf. Glaubte man dem
Vorlesungsverzeichnis von Bryce, so nahm er dort an dem Seminar
„Die Hölle als soziologisches Konzept“ teil und untersuchte die
„sozialen und politischen Motive hinter dem patriarchalischen
Konstrukt einer Bestrafungsinstanz von den Sumerern über die
Akkadier bis zum christlichen Riecht in Amerika.“ Wir hatten alle
Lehrer von Jason überprüft und dabei nur festgestellt, dass Ingrid
Uver-Kett vor kurzer Zeit aus einer Ortsgruppe der
Frauenrechtsorganisation NOW ausgeschlossen worden war, weil sie
Ansichten vertrat, neben denen die Radikalfeministin Andrea Dworkin
wirklich gemäßigt wirkte. Ihr Kurs dauerte dreieinhalb Stunden ohne
Pause und fand zweimal pro Woche statt. Ms. Uver-Kett kam für den
Unterricht montags und donnerstags aus Portland, Maine, herüber und
verbrachte, soweit für uns ersichtlich, den Rest ihrer Zeit damit,
hasserfüllte Briefe an den liberalen Talkmaster Rush Limbaugh zu
verfassen. Angie und ich kamen überein, dass Ms. Uver-Kett viel zu
sehr damit beschäftigt war, sich selbst in Gefahr zu bringen, als
dass sie eine Gefahr für Jason darstellte. Daher strichen wir sie
von unserer Liste.
Mclrwin Hall war ein weißes, im georgianischen Stil erbautes
Gebäude, das vor einem kleinen Wäldchen aus Birken und leuchtend
rotem Ahorn stand. Ein kleiner Weg aus Kopfsteinpflaster führte auf
das Haus zu. Jason war in einer Horde von Studenten verschwunden,
die sich durch die Eingangstüren gedrängt hatten. Dann hörten wir
Schritte und Pfiffe, und plötzlich trat eine fast vollkommene
Stille ein.
Wir frühstückten und kehrten dann zurück, um uns mit Eric zu
unterhalten. Zu dem Zeitpunkt war ein vergessener Stift am Fußende
der Treppe der einzige Hinweis darauf, dass an diesem Morgen
Hunderte von Studenten durch diese Türen geströmt waren. Das Foyer
roch nach Ammoniak, Desinfektionsreiniger und zweihundert Jahren
intellektueller Transpiration auf der Suche nach Erkenntnis, nach
weltbewegenden Entwürfen im staubschweren Licht der Sonnenstrahlen,
die durch die Bleiglasscheiben gebrochen wurden.
Rechts von uns befand sich eine Empfangstheke, doch saß niemand
dahinter. Hier in Bryce wurde offenbar erwartet, dass man sein Ziel
kannte.
Angie zog ihr Jeanshemd aus und zerrte am Saum ihres T-Shirts, weil
es am Körper klebte. „Allein um der Atmosphäre willen möchte man
hier studieren!“
„Hättest du in der High-School besser nicht Geometrie
geschwänzt!“
„Autsch!“ rief ich aus.
Wir stiegen eine geschwungene Mahagonitreppe hinauf, deren Wände
mit Bildern ehemaliger Bryce-Rektoren überladen waren. Allesamt
mürrisch dreinblickende Männer
mit bedrückten, angespannten Mienen, weil sie so viele geniale
graue Zellen mit sich herumtrugen. Erics Büro befand sich am Ende
des Ganges. Wir klopften einmal und hörten ein unterdrücktes:
„Herein!“ von der anderen Seite der Milchglasscheibe.
Der lange, graumelierte Pferdeschwanz fiel Eric über die rechte
Schulter. Er trug eine blau-braune Strickjacke, darunter ein
jeansblaues Oxfordhemd und eine handbemalte dunkelblaue Krawatte,
von der uns ein Robbenbaby herzzerreißend anstarrte.
Ich warf einen skeptischen Blick auf die Krawatte und setzte mich.
„Wirst du mich vor Gericht bringen, weil ich jede Mode mitmache?“
fragte Eric. Er machte es sich auf seinem Stuhl bequem und wies auf
das geöffnete Fenster. „Tolles Wetter, was?“
„Tolles Wetter“, stimmte ich zu.
Er seufzte und rieb sich die Augen. „Und? Was macht Jason?“ „Er ist
ein vielbeschäftigter junger Mann“, erwiderte Angie. l „Als Kind
war er ein Einzelgänger, ob ihr’s glaubt oder nicht“, lachte Eric.
„Immer brav und lieb, hat Diandra nie auch nur den geringsten Ärger
gemacht, aber er war von Anfang an introvertiert.“ „Jetzt nicht
mehr.“
Eric nickte. „Seitdem er hier ist, ist er richtig aufgeblüht. Klar,
es ist normal, dass Kinder, die auf der High-School mit den
Sportskanonen und den Schickimickis nichts zu tun hatten, na ja,
wenn die sich ein bisschen austoben an der Uni.“
„Jason tobt sich gründlich aus“, bekräftigte ich.
„Er wirkt einsam“, fügte Angie hinzu.
Eric nickte. „Das kann ich verstehen. Dass der Vater ihn verlassen
hat, als er noch ganz klein war, erklärt das vielleicht ein
bisschen, aber trotzdem gab es immer diese… Distanz. Wenn ich das
nur erklären könnte. Wenn man ihn mit seinem ganzen…“ – er
lächelte
– „Harem sieht und er nicht weiß, dass er beobachtet wird, dann ist
er ein ganz anderer Mensch als der schüchterne Junge, der er früher
war.“
„Was hält Diandra davon?“ wollte ich wissen.
„Sie bekommt es nicht mit. Die beiden stehen sich sehr nahe; wenn
er mit jemandem über etwas Persönliches sprechen will, geht er zu
ihr. Aber er bringt keine Mädchen mit nach Hause, er verliert kein
einziges Wort über seinen Lebensstil hier. Sie weiß wohl, dass er
etwas vor ihr verheimlicht, aber sie sagt sich, dass er halt gerne
seine Ansichten für sich behält, und das respektiert sie.“ „Aber du
bist anderer Meinung“, warf Angie ein.
Er zuckte mit den Achseln und blickte kurz aus dem Fenster. „Als
ich so alt war wie er, wohnte ich im gleichen Zimmer hier auf dem
Campus und war vorher auch ein ziemlich in mich gekehrtes Kind
gewesen und kam hier, genau wie Jason, das erste Mal aus mir
heraus. Ich meine, so ist die Uni. Man lernt, trinkt, raucht Gras,
pennt mit Leuten, die man nicht kennt, hält sein Mittagsschläfchen.
Das ist doch normal, wenn man mit achtzehn an so einen Ort
kommt.“
„Du hast mit Leuten, die du nicht kanntest, geschlafen?“ fragte
ich. „Ich bin schockiert!“
„Und das ist mir heute peinlich. Wirklich. Na gut, ich war ja auch
kein Heiliger, aber bei Jason ist diese radikale Wendung hin zu
Exzessen von den Ausmaßen eines Marquis de Sade doch ein bisschen
drastisch.“
„Marquis de Sade?“ wiederholte ich. „Ihr Intellektuellen, also
wirklich, ihr redet immer ultracool!“
„Woher kommt also diese Veränderung? Was will er beweisen?“ fragte
Angie.
„Ich weiß es nicht genau.“ Eric neigte den Kopf zur Seite, so dass
er mich, wie schon so oft, an eine Kobra erinnerte. „Jason ist ein
guter Junge. Ich persönlich kann mir nicht vorstellen, dass er in
etwas verwickelt ist, das ihn oder seine Mutter in Gefahr bringt,
aber na ja, obwohl ich ihn von klein auf kenne, wäre ich nie auf
die Idee gekommen, dass er einmal einen Don-Juan-Komplex entwickeln
würde. Habt ihr die Mafia-Connection verworfen?“
„Eigentlich ja“, antwortete ich.
Er verzog die Lippen und atmete langsam aus. „Dann weiß ich auch
nicht weiter. Was ich über Jason weiß, habe ich euch erzählt. Ich
wüsste auch gerne mit absoluter Sicherheit, wer er ist oder nicht
ist, aber ich bin jetzt schon lange genug dabei, um begriffen zu
haben, dass man niemanden wirklich kennt.“ Er wies auf seine
Bücherregale, die mit Werken zur Kriminologie und Psychologie
vollgestopft waren. „Wenn ich in den ganzen Jahren an der Uni etwas
gelernt habe, dann das.“
„Tiefschürfend“, merkte ich an.
Eric lockerte seine Krawatte. „Du hast mich nach meiner Meinung
über Jason gefragt, und ich hab sie dir erzählt, aber über allem
steht meine Überzeugung, dass alle Menschen ihre kleinen
Geheimnisse haben.“
„Und was ist deins, Eric?“
Er zwinkerte. „Das wüsstest du gerne, hm?“
Als wir wieder nach draußen in den Sonnenschein traten, hakte sich
Angie bei mir ein. Dann setzten wir uns auf die Wiese unter einen
Baum und beobachteten die Eingangstür, durch die Jason in wenigen
Minuten treten sollte. Bei der Verfolgung einer Person ein
Liebespaar zu spielen gehört zu
unseren alten Tricks; wenn jemand einen von uns an irgendeinem Ort
auffällig findet, würdigt er uns keines Blickes mehr, wenn wir als
Paar auftauchen. Aus irgendeinem Grund öffnen sich manche Türen für
Liebende, die für Einzelpersonen verschlossen bleiben. Sie sah zu
dem Gewirr von Blättern und Zweigen im Baum über uns auf. Die
feuchte Luft wehte gelbe Blätter über trockene Grashalme, und Angie
lehnte den Kopf an meine Schulter und ließ ihn eine ganze Weile
dort.
„Alles in Ordnung?“ fragte ich.
Sie drückte mir mit der Hand den Arm.
„Ange?“
„Ich habe gestern die Papiere unterschrieben.“
„Was für Papiere?“
„Die Scheidungspapiere“, antwortete sie sanft. „Die lagen schon
seit über zwölf Monaten bei mir zu Hause herum. Ich hab sie
unterschrieben und bei meinem Anwalt abgegeben. Einfach so.“ Sie
bewegte leicht den Kopf und legte ihn dann wieder an meine
Schulter. „Als ich meinen Namen druntersetzte, hatte ich das
Gefühl, es würde nun alles irgendwie viel klarer.“ Ihre Stimme war
belegt. „War das bei dir auch so?“
Ich dachte darüber nach, wie ich mich gefühlt hatte, als ich im
klimatisierten Zimmer eines Anwalts saß und meine kurze, armselige,
fehlgeschlagene Ehe abhakte, indem ich auf einer gestrichelten
Linie unterschrieb, die Papiere dreimal sauber faltete und in einen
Umschlag schob. Auch wenn es therapeutisch wirken kann, die
Vergangenheit einzupacken und eine Schleife drumzubinden, es hat
doch etwas Erbarmungsloses an sich.
Meine Ehe mit Renee hatte keine zwei Jahre gedauert, und ich war in
vielerlei Hinsicht in weniger als zwei Monaten darüber
hinweggewesen. Aber Angie war über zwölf
Jahre lang mit Phil verheiratet gewesen. Ich hatte keine
Vorstellung davon, wie es sein mochte, zwölf Jahre hinter sich zu
lassen, auch wenn der Grossteil davon noch so schlecht gewesen sein
mochte. „Ist dadurch alles klarer und besser geworden?“ wollte sie
wissen. „Nein“, erwiderte ich und zog sie an mich. „Kein
bisschen.“