35

Als die Polizei alles geklärt hatte, lag Angie schon seit zwei Stunden im OP.
Gegen vier Uhr morgens durfte Phil gehen – er hatte das Krankenhaus angerufen, aber ich musste dableiben und die ganze Sache mit vier Polizeibeamten und einem nervösen jungen Staatsanwalt durchkauen.
Timothy Dunns Leiche wurde, nackt in einen Mülleimer gestopft, in der Nähe der Schaukeln auf dem Ryan-Spielplatz gefunden. Man nahm an, dass Evandro ihn dorthin gelockt hatte, indem er Dünn durch verdächtiges Verhalten auf sich aufmerksam machte. Man fand ein weißes Betttuch, das von einem Basketballkorb herunterhing. Von Dunns Streifenwagen aus musste es sich genau in seinem Blickfeld befunden haben. Wenn ein Mann um zwei Uhr in einer eisigen Nacht ein Betttuch an einen Basketballkorb hängt, war das wahrscheinlich ungewöhnlich genug, um die Neugier des jungen Polizisten zu wecken, reichte aber nicht als Grund aus, um Verstärkung anzufordern.
Das Betttuch fror am Gestänge des Korbes fest, dort hing es nun, ein weißer Diamant vor einem zinnfarbenen Himmel.
Dünn musste gerade die Stufen zum Spielplatz hochgestiegen sein, als Evandro hinter ihn trat und ihm das Stilett ins rechte Ohr jagte. Der Mann, der auf Angie geschossen hatte, war durch die Hintertür ins Haus gekommen. Seine Fußabdrücke der Größe 8 fanden sich überall im Hinterhof, verloren sich aber auf der Dorchester Avenue. Die von Erdham installierten Alarmanlagen waren durch den Stromausfall nutzlos geworden, der Mann brauchte nur noch das drittklassige Bolzenschloss an der Hintertür knacken und war im Haus.
Die beiden Schüsse von Angie hatten ihn verfehlt. Eine Kugel fand sich in der Wand neben der Tür. Die andere war vom Herd abgeprallt und im Fenster über der Spüle eingeschlagen.
Musste also nur noch das Phänomen Evandro erklärt werden. Wenn einer der ihren ermordet wurde, werden Polizisten schnell zu beängstigenden Zeitgenossen. Die sonst hinter ihrer Fassade brodelnde Wut kommt zum Vorschein, so dass man das arme Schwein bedauern muss, das sie als nächstes festnehmen.
In dieser Nacht war es noch schlimmer als sonst, weil Timothy Dünn der Verwandte eines hochdekorierten Kollegen war. Er war jung und unschuldig, beruflich vielversprechend, aber man hatte ihn aus seiner blauen Uniform gerissen und in eine Mülltonne gesteckt. Während ich in der Küche von Detective Cord verhört wurde, einem weißhaarigen Mann mit freundlicher Stimme und gnadenlosem Blick, umkreiste Officer Rogin, ein wahrer Riese, mit geballten Fäusten Evandros Leiche.
Rogin kam mir wir die Sorte Mensch vor, die aus dem gleichen Grund Bulle wird, aus dem andere Gefängniswärter werden: weil sie so, gesellschaftlich sanktioniert, ihren sadistischen Neigungen frönen können.
Evandros Leiche befand sich noch immer in der gleichen Haltung, die den mir bisher bekannten Gesetzen der Anatomie und Schwerkraft trotzte – ein Knie auf dem Boden, die Arme seitlich herunterhängend, der Blick nach unten gerichtet.
Bald würde er in die Leichenstarre eintreten, und das schien Rogin zu stören. Lange betrachtete er Evandro, schnaufte durch die Nase und ballte die Fäuste, so als sei er der Meinung, wenn er nur lange genug dastünde und bedrohlich wirkte, würde er Evandro wieder auferwecken, um ihn erneut erschießen zu können.
Es gelang ihm nicht.
Da machte Rogin einen Schritt nach hinten und trat der Leiche mit seinem Stahlkappenschuh ins Gesicht.
Evandros Leiche fiel auf den Rücken, die Schultern prallten auf den Fußboden. Ein Bein knickte um, der Kopf fiel nach links, und die Augen blickten auf den Herd.
„Rogin, was machst du da für Scheiße?“
„Nur keine Aufregung, Hughie!“
„Das gibt einen Bericht!“ stellte Detective Cord fest.
Rogin blickte ihn an. Es lag auf der Hand, dass zwischen den beiden schon früher etwas vorgefallen war.
Rogin zuckte übertrieben mit den Schultern und spuckte Evandro ins Gesicht.
„Jetzt hast du’s ihm aber gegeben“, bemerkte ein Beamter. „Das Schwein hatte keinen Bock, zweimal zu sterben, Rogin!“ Dann wurde das Haus von einer tiefen Stille ergriffen. Rogin blinzelte unsicher in den Flur.
Den Blick auf Evandros Leiche gerichtet, betrat Devin die Küche, das Gesicht rot vor Kälte. Oscar und Bolton folgten ihm, hielten sich aber ein paar Schritte zurück.
Devin richtete den Blick eine volle Minute lang auf die
Leiche, niemand sagte etwas. Ich bin mir nicht einmal sicher, ob sich jemand zu atmen traute.
„Jetzt besser?“ wandte sich Devin an Rogin.
„Wie bitte, Sergeant?“
„Geht’s Ihnen jetzt besser?“
Rogin wischte sich mit der Hand über die Hüfte. „Ich verstehe nicht, wovon Sie reden, Sir.“
„War doch ‘ne einfache Frage“, erklärte Devin. „Sie haben gerade eine Leiche getreten. Fühlen Sie sich jetzt besser?“
„Ahm…“ Rogin sah zu Boden. „Ja, schon.“
Devin nickte. „Gut“, sagte er freundlich. „Gut. Ich bin froh, dass Sie das Gefühl haben, etwas geschafft zu haben, Officer Rogin. So was ist wichtig. Was haben Sie heute Abend sonst noch geschafft?“ Rogin räusperte sich: „Ich habe den Tatort abgesichert…“ „Gut. Das ist immer gut.“
„Und ich habe, ahm…“
„.’. einen Mann auf der Veranda zusammengeschlagen“, ergänzte Devin. „Stimmt das?“
„Ich dachte, er wäre bewaffnet, Sir.“
„Kann man verstehen“, entgegnete Devin. „Sagen Sie mal, haben Sie an der Suche nach dem zweiten Schützen teilgenommen?“ „Nein, Sir. Das war…“
„Haben Sie vielleicht eine Decke für den nackten Körper von Officer Dünn besorgt?“
„Nein.“
„Nein. Nein.“ Devin schubste Evandros Leiche mit der Schuhspitze und starrte sie teilnahmslos an. „Haben Sie irgendwelche Schritte unternommen, um den Aufenthaltsort des zweiten Schützen ausfindig zu machen, haben Sie
Nachbarn befragt oder Hausdurchsuchungen vorgenommen?“ „Nein. Aber noch mal, ich…“
„Also, außer eine Leiche zu treten, einen wehrlosen Mann niederzuschlagen und ein bisschen gelbes Absperrungsband zu verkleben, haben Sie nicht viel geschafft, Officer, oder?“
Rogin starrte auf den Herd. „Nein.“
„Wie bitte?“
„Ich sagte, nein, Sir.“
Devin nickte und stieg über die Leiche, so dass er neben Rogin stand.
Im Gegensatz zu Devin war Rogin riesig und musste sich herunterbeugen, um Devin zu verstehen. Er senkte den Kopf, und Devin flüsterte ihm ins Ohr.
„Verlassen Sie diesen Tatort, Officer Rogin!“ befahl Devin. Rogin blickte ihn an.
Obwohl Devin flüsterte, konnten ihn alle in der Küche verstehen: „Solange Ihre Arme noch am Körper hängen!“
„Wir haben es verbockt“, klagte Bolton, „besser gesagt: Ich habe es verbockt.“
„Nein“, widersprach ich.
„Das ist alles meine Schuld.“
„Das ist alles Evandros Schuld“, korrigierte ich, „und die seines Partners.“
Er lehnte den Kopf nach hinten gegen die Wand von Angies Flur. „Ich war übereifrig. Sie haben einen Köder ausgelegt, und ich habe angebissen. Ich hätte Sie niemals allein lassen dürfen.“
„Sie konnten den Stromausfall doch nicht vorhersehen, Bolton!“ „Nein?“ Er hob die Hände und ließ sie dann angewidert fallen. „Bolton“, beruhigte ich ihn, „Grace ist in Sicherheit. Mae ist in Sicherheit. Phil ist in Sicherheit. Sie sind unbeteiligt. Angie und ich aber nicht.“
Ich wollte durch den Flur ins Wohnzimmer gehen.
„Kenzie!“
Ich drehte mich zu ihm um.
„Wenn Sie und Ihre Kollegin keine Unbeteiligten sind, aber auch keine Bullen, was sind Sie dann?“
Ich zuckte mit den Schultern. „Zwei Idioten, die nicht halb so hart sind, wie sie dachten.“
Später, im Wohnzimmer, bemerkten wir an dem trüben grauen Licht, dass es langsam dämmerte.
„Hast du’s Theresa gesagt?“ fragte ich Devin.
Er sah aus dem Fenster. „Noch nicht. Ich fahre gleich rüber. „ „Es tut mir leid, Devin.“ Das war nicht viel, aber etwas anderes fiel mir nicht ein.
Oscar hustete in die Faust und sah zu Boden.
Devin fuhr mit dem Finger über das Fenstersims und betrachtete den Staub auf seinem Finger. „Mein Sohn ist gestern fünfzehn geworden“, stellte er fest.
Devins Exfrau Helen lebte mit ihren zwei Kindern und ihrem zweiten Ehemann, einem Kieferorthopäden, in Chicago. Helen besaß das Sorgerecht, Devin war vor zwei Jahren nach einem hässlichen Vorfall an Weihnachten das Besuchsrecht entzogen worden. „Ja? Wie geht’s Lloyd denn so?“
Er zuckte mit den Achseln. „Er hat mir vor ein paar Monaten ein Foto geschickt. Er ist ziemlich groß und hat so lange Haare, dass ich seine Augen nicht mal sehen konnte.“
Devin betrachtete seine schweren, vernarbten Hände. „Er spielt Schlagzeug in so ‘ner Band. Helen meint, seine Noten leiden drunter.“
Er blickte nach draußen auf die Strasse, das trübe Grau schien seine Haut zu spannen. Als er wieder sprach, zitterte seine Stimme. „Schätze, es gibt ‘ne Menge schlimmere Sachen, als ein Musiker in einer Band zu sein. Verstehst du, Patrick?“
Ich nickte.
Phil war mit meinem Crown Victoria zum Krankenhaus gefahren, deshalb brachte Devin mich in seinem Wagen zu der Garage, wo ich meinen Porsche verwahrte. Um uns herum wurde es hell. Wir standen vor der Garage, Devin lehnte sich in seinem Sitz zurück und schloss die Augen, während die Abgase aus dem gerissenen Auspuffrohr das Auto einhüllten.
„Arujo und sein Partner haben in einem verlassenen Haus auf Nahant ein Telefon an ein Computermodem angeschlossen. So konnten sie von einer Telefonzelle hier an der Strasse anrufen, und der Anruf wurde über das Modem geleitet. Ziemlich clever.“ Ich wartete, während er sich das Gesicht rieb und die Äugen zusammenkniff, als wehre er eine neue Schmerzwelle ab. „Ich bin ein Cop“, erklärte er. „Etwas anderes kann ich nicht. Ich muss meinen Job machen. Und zwar ordentlich.“
„Ich weiß.“
„Du musst diesen Typen finden, Patrick!“
„Ja.“
„Mit allen Mitteln!“
„Bolton…“
Devin hob die Hand. „Bolton will auch, dass das alles vorbei ist. Vermeide jedes Aufsehen! Lass dich nicht erwischen!
sehen! Von mir und Bolton aus hast du jede Freiheit. Wir gucken weg.“ Er öffnete die Augen wieder und sah mich lange an. „Dieser Typ darf keine Bücher im Gefängnis schreiben oder Interviews geben!“
Ich nickte.
„Die werden bestimmt sein Gehirn untersuchen wollen.“ Devin zog an einem losen Stück Plastik, das vom demolierten Armaturenbrett herunterhing. „Aber das können sie nicht, wenn kein Gehirn mehr da ist.“
Ich klopfte ihm auf den Arm und stieg aus.
Angie war immer noch im OP, als ich im Krankenhaus anrief. Ich bat darum, mit Phil zu sprechen, und als er ans Telefon kam, klang er völlig erschöpft.
„Was ist los?“ erkundigte ich mich.
„Sie ist immer noch da drin. Die sagen mir einfach nichts!“ „Bleib ruhig, Phil. Sie ist zäh.“
„Kommst du rüber?“
„Gleich“, antwortete ich. „Ich muss erst noch jemanden besuchen.“ „Hey, Patrick!“ sagte er besorgt. „Bleib du auch ruhig!“
Eric war zu Hause in seiner Wohnung an der Back Bay. In einem zerlumpten Bademantel und einer grauen Jogginghose öffnete er die Tür. Er sah abgekämpft aus, graue Bartstoppeln wuchsen in seinem Gesicht. Das Har war nicht wie sonst zu einem Pferdeschwanz gebunden und machte ihn richtig alt, wie es so offen über die Ohren auf die Schultern fiel.
„Ich muss mit dir reden, Eric!“
Er warf einen Blick auf die Waffe in meinem Hosenbund. „Lass mich in Ruhe, Patrick! Ich bin müde.“
Hinter ihm auf dem Boden sah ich eine Zeitung liegen, in der Spüle stapelten sich Teller und Tassen.
„Hör auf mit dem Scheiß, Eric! Ich muss mit dir reden.“
„Ich habe mich schon unterhalten.“
„Mit dem FBI, ich weiß. Aber du hast den Lügendetektor nicht bestanden, Eric.“
Er blinzelte. „Was?“
„Du hast mich gut verstanden.“
Er kratzte sich am Bein, gähnte und blickte durch mich hindurch. „Lügendetektoren sind vor Gericht nicht zulässig.“
„Hier geht’s nicht ums Gericht“, erklärte ich. „Hier geht’s um Jason Warren. Und um Angie.“
„Um Angie?“
„Sie hat eine Kugel abgekriegt, Eric.“
„Sie…?“ Er streckte die Hand aus, als wüsste er nicht, was er damit anfangen solle. „O Gott, Patrick, wird sie wieder gesund?“ „Das weiß ich noch nicht, Eric.“
„Du musst kurz vorm Abdrehen sein.“
„Ich bin momentan nicht mehr bei Sinnen, Eric. Behalt das im Hinterkopf!“
Er zuckte zusammen, und kurz war in seinen Augen Bitterkeit und Hoffnungslosigkeit zu lesen.
Er wandte mir den Rücken zu, ließ die Tür offenstehen und ging in seine Wohnung. Ich folgte ihm durch ein total verwahrlostes Wohnzimmer voller Bücher, leerer Pizzakartons, Weinflaschen und Bierdosen.
In der Küche goss er sich eine Tasse Kaffee ein. Die Kaffeemaschine war völlig verschmutzt mit uralten Kaffeeflecken, die er nicht abgewischt hatte. Außerdem war sie nicht eingesteckt. Wer weiß, wie alt der Kaffee war.
„War Jason dein Geliebter?“ wollte ich wissen.
Er schlürfte seinen kalten Kaffee.
„Eric, warum hast du die Universität von Massachusetts verlassen?“ „Weißt du, was passiert, wenn Professoren mit Studenten schlafen?“ fragte er.
„Profs schlafen doch ständig mit Studenten“, erwiderte ich. Er lächelte und schüttelte den Kopf. „Männliche Professoren schlafen ständig mit weiblichen Studenten.“ Er seufzte. „Und bei der aktuellen politischen Atmosphäre an den meisten Universitäten wird selbst das gefährlich. In loco parentis. Dieser Ausdruck wird erst dann bedrohlich, wenn man ihn in einem Land auf einundzwanzigjährige Frauen und Männer anwendet, das mit allen Mitteln zu verhindern sucht, Kinder erwachsen werden zu lassen.“ Ich fand eine saubere Stelle an der Theke und lehnte mich dagegen.
Eric sah von seiner Kaffeetasse hoch. „Aber stimmt, Patrick, im allgemeinen sieht es so aus, dass männliche Profs mit weiblichen Studenten schlafen können, solange diese Studentinnen nicht den Unterricht dieser Dozenten besuchen.“
„Wo ist dann das Problem?“
„Das Problem sind schwule Profs und schwule Studenten. Diese Art von Beziehung, schwöre ich dir, wird immer noch missbilligt.“ „Eric“, sagte ich, „warte mal kurz! Wir sprechen hier doch vom akademischen Leben in Boston. Der stärksten Bastion des Liberalismus in Amerika!“
Er lachte leise. „Das glaubst du tatsächlich, was?“ Wieder schüttelte er den Kopf, um seine dünnen Lippen spielte ein seltsames Lächeln. „Wenn du eine Tochter hättest,
Patrick, und sagen wir mal, sie war so um die Zwanzig, sie war intelligent und ginge nach Harvard, Bryce oder zur Boston University, und du bekämst heraus, dass sie mit ihrem Professor bumst, was würdest du denken?“
Ich sah in seine leeren Augen. „Ich behaupte nicht, dass ich es toll fände, Eric, aber ich würde mich nicht wundern. Ich würde mir denken, sie ist erwachsen, es ist ihre Sache.“
Er nickte. „Jetzt das gleiche Szenario, aber es ist dein Sohn, und er bumst mit einem Professor?“
Das brachte mich zum Nachdenken. Es berührte einen verdrängten, eher puritanischen als katholischen Teil von mir, und das Bild in meinem Kopf – ein junger Mann zusammen mit Eric in einem winzigen Bett – stieß mich ab, bevor ich es kontrollieren und mich von ihm distanzieren konnte, bevor ich es mit Hilfe meines intelligenten sozialen Liberalismus wieder in den Griff bekam.
„Ich würde…“
„Siehst du?“ Er grinste breit, doch war sein Blick noch immer leer und verwirrt. „Die Vorstellung stößt dich ab, oder?“
„Eric, ich…“
„Hat sie oder hat sie nicht?“
„Ja“, sagte ich leise. Und fragte mich, warum mich das zu einem Reaktionär machte.
Er hielt die Hand hoch. „Schon gut, Patrick. Ich kenne dich seit zehn Jahren, und du bist einer der am wenigsten homophoben Heteros, die ich kenne. Aber ein bisschen homophon bist du doch.“ „Aber nicht in Bezug auf…“
„… mich und meine schwulen Freunde“, ergänzte er. „Das findest du okay. Das glaube ich dir. Aber wenn du die Möglichkeit in Betracht ziehen musst, dass dein Sohn und seine schwulen Freunde…“
Ich zuckte mit den Achseln. „Vielleicht.“
„Jason und ich hatten eine Affäre“, gestand er und goss den Kaffee in die Spüle.
„Wann?“ fragte ich.
„Letztes Jahr. Dann war’s vorbei. Sie dauerte überhaupt nur einen Monat. Ich war ein Freund der Familie und hatte deshalb das Gefühl, Diandra zu hintergehen. Jason einerseits wollte, glaube ich, jemanden in seinem Alter haben, außerdem wirkte er noch mächtig anziehend auf Frauen. Wir trennten uns in aller Freundschaft.“ „Hast du das dem FBI erzählt?“
„Nein.“
„Eric, um Gottes willen, warum nicht?“
„Dann ist meine Karriere am Ende“, erwiderte er. „Denk an deine Reaktion auf meine hypothetische Frage. Auch wenn du glaubst, an der Uni war man so liberal, in den Aufsichtsräten der meisten Colleges sitzen weiße Heteros. Oder deren Frauen aus der Oberschicht. Sobald sie den Verdacht hegen, ein schwuler Prof polt ihre Kinder oder deren Freunde zu schwulen Studenten um, machen sie dich fertig. Darauf kannst du wetten.“
„Eric, es kommt auf jeden Fall heraus! Das FBI, Eric! Das FBI! Sie durchforsten dein Leben mit der Lupe. Früher oder später gucken sie in der richtigen Ecke nach.“
„Ich kann es nicht zulassen, Patrick. Es geht nicht.“
„Was ist mit Evandro Arujo? Hast du ihn gekannt?“
Er schüttelte den Kopf. „Nein. Jason hatte Angst, Diandra hatte Angst, deshalb habe ich dich angerufen.“
Ich glaubte ihm. „Eric, überleg dir bitte, ob du nicht doch mit den Agenten redest.“
„Erzählst du ihnen, was ich gesagt habe?“
Ich schüttelte den Kopf. „So was mache ich nicht. Ich erzähle ihnen, dass ich dich nicht für einen Verdächtigen
halte, aber ich glaube nicht, dass sie sich ohne Beweise überzeugen lassen.“
Er nickte und ging zur Wohnungstür zurück. „Danke, dass du vorbeigekommen bist, Patrick.“
Im Flur zögerte ich kurz. „Erzähl es ihnen, Eric!“
Er legte mir die Hand auf die Schulter und lächelte mich an, versuchte mutig auszusehen. „In der Nacht, als Jason ermordet wurde, war ich mit einem Studenten zusammen. Meinem Freund. Dessen Vater ist ein einflussreicher Staatsanwalt aus North Carolina und hochrangiges Mitglied der Christian Coalition. Was glaubst du, was der macht, wenn er das herausbekommt?“
Ich blickte auf den staubigen Teppich herunter.
„Ich kann nichts anderes als unterrichten, Patrick. Das ist mein ein und alles. Ohne das kann ich aufgeben.“
Ich sah ihn an, und es schien mir, als ob er sich schon längst aufgegeben hatte.
Auf dem Weg zum Krankenhaus hielt ich kurz beim Black Emerald an, doch war die Kneipe geschlossen. Ich blickte zu Gerrys Wohnung im ersten Stock hinauf. Die Rollläden waren heruntergelassen. Ich suchte nach Gerrys Auto, das normalerweise vor dem Haus geparkt war. Es war nicht da.
Wenn der Täter mich seit Anfang der Mordserie wirklich getroffen hatte, wie Dolquist vermutete, dann war das Feld der Verdächtigen deutlich eingeschränkt. Das FBI hielt sowohl Eric als auch Gerry für verdächtig. Und Gerry war auf jeden Fall körperlich dazu in der Lage.
Aber was für ein Motiv konnte er haben?
Ich kannte Gerry schon, solange ich lebte. Konnte er töten? Wir alle sind dazu fähig, flüsterte eine Stimme in meinem Kopf. Jeder einzelne.
„Mr. Kenzie!“
Ich drehte mich um und entdeckte Agent Fields, der Abhörgeräte in den Kofferraum eines dunklen Plymouth packte. „Mr. Glynn ist sauber.“
„Wieso?“
„Wir haben sein Haus gestern Abend beobachtet. Glynn ging um eins nach oben in seine Wohnung, guckte bis drei Uhr Fernsehen und ging dann ins Bett. Wir sind die ganze Nacht geblieben, aber es hat sich nichts mehr getan. Er ist nicht unser Mann, Mr. Kenzie. Tut mir leid.“
Ich nickte, teils erleichtert, teils mit einem Schuldgefühl, dass ich Gerry überhaupt verdächtigt hatte.
Aber ein anderer Teil von mir war enttäuscht. Vielleicht hatte ich sogar gewollt, dass es Glynn war.
Nur damit es endlich vorbei war.
„Die Kugel hat großen Schaden angerichtet“, erklärte uns Dr. Barnett. „Sie hat ein Loch in die Leber gerissen, beide Nieren gestreift und ist im Dünndarm steckengeblieben. Zweimal hätten wir sie fast aufgegeben, Mr. Kenzie.“
„Wie geht es ihr jetzt?“
„Sie ist noch nicht über den Berg“, antwortete er. „Ist sie eine starke Frau? Hat sie ein starkes Herz?“
„Ja“, bestätigte ich.
„Dann hat sie eine ganz gute Chance. Mehr kann ich Ihnen im Moment leider nicht sagen.“
Nach eineinhalb Stunden im Aufwachraum wurde sie um halb neun auf die Intensivstation gebracht.
Sie sah aus, als hätte sie 25 Kilo abgenommen, ihr Körper schien im Bett zu verschwinden.
Phil und ich standen neben dem Bett, während eine Krankenschwester die Infusionen aufhängte und einen
Monitor anschaltete, der die Lebensfunktionen überwachte. „Wozu ist der denn da?“ fragte Phil. „Ich denke, sie ist jetzt okay. Oder nicht?“
„Sie hat zweimal wieder zu bluten angefangen, Mr. Dimassi. Wir überwachen sie, um aufzupassen, falls es noch mal passiert.“ Phil nahm Angies Hand in seine, sie sah so klein aus.
„Ange?“ fragte er.
„Sie wird heute den ganzen Tag schlafen“, erklärte die Krankenschwester. „Sie können jetzt nicht viel für sie tun, Mr. Dimassi.“ „Ich lasse sie nicht allein“, beharrte Phil.
Die Krankenschwester sah mich an, aber ich starrte ausdruckslos zurück.
Um zehn verließ ich die Intensivstation und entdeckte Bubba im Wartezimmer.
„Wie geht’s ihr?“
„Die Ärzte glauben, dass sie’s schafft.“
Bubba nickte.
„Ich schätze, wir wissen mehr, wenn sie aufwacht.“
„Und wann ist das?“ wollte er wissen.
„Heute nachmittag“, entgegnete ich. „Vielleicht heute Abend.“ „Kann ich irgendwas tun?“
Ich beugte mich über den Wasserspender und trank wie jemand, der gerade aus der Wüste kam.
„Ich muss unbedingt mit Fat Freddy sprechen“, sagte ich. „Okay. Warum?“
„Ich muss Jack Rouse und Kevin Hurlihy finden und ihnen ein paar Fragen stellen.“
„Ich glaube nicht, dass Freddy damit ein Problem hat.“
„Wenn sie mir nicht antworten, brauche ich die Erlaubnis, so lange auf sie zu schießen, bis sie’s mir sagen.“
Jetzt beugte sich Bubba ebenfalls über den Wasserspender und sah mich ungläubig an: „Meinst du das ernst?“
„Bubba, sag Freddy, dass ich es so oder so mache, auch ohne seine Erlaubnis.“
„Jetzt aber richtig, was?“ entgegnete er.
Phil und ich wechselten uns ab.
Wenn einer von uns zur Toilette musste oder sich etwas zu trinken holte, hielt der andere Angies Hand. Den ganzen Tag lang hielt jemand ihre Hand.
Am Mittag suchte Phil nach einer Cafeteria, und ich führte Angies Hand an meine Lippen und schloss die Augen.
Als ich sie zum ersten Mal sah, fehlten ihr die beiden oberen Schneidezähne, und ihr kurzes Haar war so fürchterlich geschnitten, dass ich sie für einen Jungen hielt. Wir waren in der Turnhalle des Little-House-Freizeitzentrums auf der East Cottage Street, einer Betreuungseinrichtung für Sechsjährige. Damals gab es in unserer Gegend noch nicht viele Horte, die nach der Schule auf die Kinder aufpassten, aber im Little House konnten die Eltern ihre Kleinen für fünf Dollar pro Woche jeden Nachmittag drei Stunden abgeben. Die Betreuer ließen die Zügel ziemlich locker, solange wir nichts kaputtmachten.
An jenem Tag lagen kastanienbraune Gymnastikbälle, orangefarbene Softbälle, harte Plastikfootbälle, Hallenhockeyschläger, Pucks und Basketbälle auf dem Boden der Turnhalle umher. Dazwischen rannten ungefähr fünfundzwanzig Sechsjährige durcheinander und schrieen wie am Spieß.
Von den Pucks waren immer zuwenig da, und ich nahm mir einen Hockeyschläger und verfolgte das kleine Kind mit dem furchtbaren Haarschnitt, das unbeholfen einen Puck an der Wand der Turnhalle entlangführte. Ich schlich mich dahinter, hob seinen Schläger mit meinem an und nahm ihm den Puck weg.
Daraufhin schubste Angie mich, schlug mir auf den Kopf und holte sich den Puck zurück.
Hier auf der Intensivstation, mit ihrer Hand an meiner Wange, war mir der Tag so präsent wie kein anderer.
Ich beugte mich vor und legte meine Wange an ihre, drückte ihre Hand fest an meine Brust und schloss die Augen.
Als Phil zurückkam, schnorrte ich eine Zigarette von ihm und ging zum Rauchen nach draußen auf den Parkplatz.
Seit sieben Jahren hatte ich nicht mehr geraucht, doch beim Anzünden roch der Tabak wie Parfüm, und der Rauch in meinen Lungen fühlte sich in der eisigen Luft sauber und rein an.
„Der Porsche da ist ein toller Schlitten“, sagte jemand rechts von mir. „‘66?“
„‘63“, erwiderte ich und drehte mich um.
Pine trug einen Kamelhaarmantel und eine bordeauxrote Baumwollhose, dazu einen schwarzen Kaschmirpullover. Die schwarzen Handschuhe saßen wie eine zweite Haut.
„Wie haben Sie den bezahlt?“ wollte er wissen.
„Ich habe eigentlich nur den Rahmen gekauft“, erklärte ich. „Die Einzelteile hab ich im Laufe der Jahre gesammelt. „
„Gehören Sie zu den Typen, die Ihr Auto mehr lieben als Frau und Kinder?“
Ich hielt ihm die Schlüssel hin. „Das ist nichts als Chrom, Blech und Gummi, Pine. Im Augenblick ist es mir vollkommen egal. Wenn Sie ihn haben wollen, bitte!“
Er schüttelte den Kopf. „Viel zu auffällig für meinen Geschmack. Ich fahre einen Honda.“
Ich zog ein zweites Mal an der Zigarette und fühlte mich sofort beschwichtigt. Vor mir begann die Luft zu tanzen.
„Auf Vincent Patrisos einzige Enkeltochter zu schießen war eine extrem uncoole Sache“, bemerkte er.
„Stimmt.“
„Mr. Constantine wurde informiert, dass zwei Herren nicht seiner Anweisung gehorcht haben, Ihnen bei Ihren Ermittlungen zu helfen.“
„Das stimmt auch.“
„Und jetzt liegt Ms. Gennaro auf der Intensivstation.“
„Ja.“
„Mr. Constantine lässt Sie wissen, dass Sie freie Hand haben, was die Identifizierung und Ergreifung des Mannes angeht, der auf Ms. Gennaro geschossen hat.“
„Freie Hand?“
„Freie Hand, Mr. Kenzie. Wenn Mr. Hurlihy und Mr. Rouse nicht mehr auftauchen sollten, versichert Mr. Constantine Ihnen, dass weder er noch seine Geschäftspartner jemals den Wunsch verspüren werden, nach ihnen zu suchen. Verstehen Sie?“
Ich nickte.
Er reichte mir eine Karte. Auf der einen Seite stand eine Adresse geschrieben: South Street 411, 4. Etage. Auf der anderen Seite stand eine Nummer, die ich als Bubbas Handynummer erkannte. „Treffen Sie sich dort so schnell wie möglich mit Mr. Rogowski.“ „Danke!“
Er zuckte mit den Achseln und sah auf meine Zigarette. „Sie sollten besser nicht rauchen, Mr. Kenzie.“
Er verließ den Parkplatz, und ich drückte die Zigarette aus und ging wieder hinein.
Um Viertel vor drei öffnete Angie die Augen.
„Schatz?“ fragte Phil.
Sie blinzelte und versuchte zu sprechen, doch war ihr Mund zu trocken.
Wie uns die Krankenschwester vorher angewiesen hatte, reichten wir Angie zerstoßenes Eis, aber kein Wasser. Sie nickte dankbar. „Ich bin nicht dein Schatz!“ krächzte sie. „Wie oft muss ich dir das noch sagen, Phillip?“
Phil lachte und küsste sie auf die Stirn, ich küsste sie auf die Wange, und sie schlug schwach nach uns.
Wir lehnten uns zurück.
„Wie geht es dir?“ erkundigte ich mich.
„Was für eine bekloppte Frage!“ war die Antwort.
Dr. Barnett ließ Stethoskop und Taschenlampe wieder in seine Tasche verschwinden und sagte zu Angie: „Sie werden bis morgen auf der Intensivstation bleiben, damit wir gut auf Sie aufpassen können, aber es sieht so aus, als schafften Sie es ganz gut.“ „Das tut schweineweh!“ stöhnte sie.
Er grinste. „Das denke ich mir. Die Kugel hat einen hässlichen Weg eingeschlagen, Ms. Gennaro. Wir unterhalten uns später darüber, was sie angerichtet hat. Ich kann Ihnen jetzt schon versprechen, dass es eine Menge Nahrungsmittel gibt, die Sie nie wieder essen können. Auch jede Flüssigkeit außer Wasser ist für die nächste Zeit tabu.“
„Scheiße!“ fluchte sie.
„Es gibt noch andere Dinge, in denen Sie sich einschränken müssen, aber…“
„Was ist mit…?“ Sie warf einen Blick auf Phil und mich, dann sah sie weg.
„Ja?“ fragte Barnett.
„Na ja“, meinte sie, „die Kugel ist irgendwie da unten in meinem Unterleib herumgesaust und…“
„Ihre Fortpflanzungsorgane wurden nicht in Mitleidenschaft gezogen, Ms. Gennaro.“
„Oh!“ machte sie und warf mir einen zornigen Blick zu, als sie mich lächeln sah. „Halt bloß die Schnauze, Patrick!“
Gegen fünf Uhr kam der Schmerz mit aller Macht zurück, und man spritzte ihr so viel Schmerzmittel, dass selbst ein bengalischer Tiger narkotisiert gewesen wäre.
Ich strich ihr mit der Hand über die Wange, während sie von der Droge betäubt blinzelte.
„Der auf mich geschossen hat?“ brachte sie mit schwerer Zunge hervor.
„Ja?“
„Weißt du schon, wer’s ist?“
„Nein.“
„Aber bald, oder?“
„Klar!“
„Also, dann…“
„Was?“
„Hol ihn dir, Patrick“, sagte sie. „Und mach ihn fertig!“