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Als die Polizei alles geklärt hatte, lag Angie
schon seit zwei Stunden im OP.
Gegen vier Uhr morgens durfte Phil gehen – er hatte das Krankenhaus
angerufen, aber ich musste dableiben und die ganze Sache mit vier
Polizeibeamten und einem nervösen jungen Staatsanwalt
durchkauen.
Timothy Dunns Leiche wurde, nackt in einen Mülleimer gestopft, in
der Nähe der Schaukeln auf dem Ryan-Spielplatz gefunden. Man nahm
an, dass Evandro ihn dorthin gelockt hatte, indem er Dünn durch
verdächtiges Verhalten auf sich aufmerksam machte. Man fand ein
weißes Betttuch, das von einem Basketballkorb herunterhing. Von
Dunns Streifenwagen aus musste es sich genau in seinem Blickfeld
befunden haben. Wenn ein Mann um zwei Uhr in einer eisigen Nacht
ein Betttuch an einen Basketballkorb hängt, war das wahrscheinlich
ungewöhnlich genug, um die Neugier des jungen Polizisten zu wecken,
reichte aber nicht als Grund aus, um Verstärkung
anzufordern.
Das Betttuch fror am Gestänge des Korbes fest, dort hing es nun,
ein weißer Diamant vor einem zinnfarbenen Himmel.
Dünn musste gerade die Stufen zum Spielplatz hochgestiegen sein,
als Evandro hinter ihn trat und ihm das Stilett ins rechte Ohr
jagte. Der Mann, der auf Angie geschossen hatte, war durch die
Hintertür ins Haus gekommen. Seine Fußabdrücke der Größe 8 fanden
sich überall im Hinterhof, verloren sich aber auf der Dorchester
Avenue. Die von Erdham installierten Alarmanlagen waren durch den
Stromausfall nutzlos geworden, der Mann brauchte nur noch das
drittklassige Bolzenschloss an der Hintertür knacken und war im
Haus.
Die beiden Schüsse von Angie hatten ihn verfehlt. Eine Kugel fand
sich in der Wand neben der Tür. Die andere war vom Herd abgeprallt
und im Fenster über der Spüle eingeschlagen.
Musste also nur noch das Phänomen Evandro erklärt werden. Wenn
einer der ihren ermordet wurde, werden Polizisten schnell zu
beängstigenden Zeitgenossen. Die sonst hinter ihrer Fassade
brodelnde Wut kommt zum Vorschein, so dass man das arme Schwein
bedauern muss, das sie als nächstes festnehmen.
In dieser Nacht war es noch schlimmer als sonst, weil Timothy Dünn
der Verwandte eines hochdekorierten Kollegen war. Er war jung und
unschuldig, beruflich vielversprechend, aber man hatte ihn aus
seiner blauen Uniform gerissen und in eine Mülltonne gesteckt.
Während ich in der Küche von Detective Cord verhört wurde, einem
weißhaarigen Mann mit freundlicher Stimme und gnadenlosem Blick,
umkreiste Officer Rogin, ein wahrer Riese, mit geballten Fäusten
Evandros Leiche.
Rogin kam mir wir die Sorte Mensch vor, die aus dem gleichen Grund
Bulle wird, aus dem andere Gefängniswärter werden: weil sie so,
gesellschaftlich sanktioniert, ihren sadistischen Neigungen frönen
können.
Evandros Leiche befand sich noch immer in der gleichen Haltung, die
den mir bisher bekannten Gesetzen der Anatomie und Schwerkraft
trotzte – ein Knie auf dem Boden, die Arme seitlich
herunterhängend, der Blick nach unten gerichtet.
Bald würde er in die Leichenstarre eintreten, und das schien Rogin
zu stören. Lange betrachtete er Evandro, schnaufte durch die Nase
und ballte die Fäuste, so als sei er der Meinung, wenn er nur lange
genug dastünde und bedrohlich wirkte, würde er Evandro wieder
auferwecken, um ihn erneut erschießen zu können.
Es gelang ihm nicht.
Da machte Rogin einen Schritt nach hinten und trat der Leiche mit
seinem Stahlkappenschuh ins Gesicht.
Evandros Leiche fiel auf den Rücken, die Schultern prallten auf den
Fußboden. Ein Bein knickte um, der Kopf fiel nach links, und die
Augen blickten auf den Herd.
„Rogin, was machst du da für Scheiße?“
„Nur keine Aufregung, Hughie!“
„Das gibt einen Bericht!“ stellte Detective Cord fest.
Rogin blickte ihn an. Es lag auf der Hand, dass zwischen den beiden
schon früher etwas vorgefallen war.
Rogin zuckte übertrieben mit den Schultern und spuckte Evandro ins
Gesicht.
„Jetzt hast du’s ihm aber gegeben“, bemerkte ein Beamter. „Das
Schwein hatte keinen Bock, zweimal zu sterben, Rogin!“ Dann wurde
das Haus von einer tiefen Stille ergriffen. Rogin blinzelte
unsicher in den Flur.
Den Blick auf Evandros Leiche gerichtet, betrat Devin die Küche,
das Gesicht rot vor Kälte. Oscar und Bolton folgten ihm, hielten
sich aber ein paar Schritte zurück.
Devin richtete den Blick eine volle Minute lang auf die
Leiche, niemand sagte etwas. Ich bin mir nicht einmal sicher, ob
sich jemand zu atmen traute.
„Jetzt besser?“ wandte sich Devin an Rogin.
„Wie bitte, Sergeant?“
„Geht’s Ihnen jetzt besser?“
Rogin wischte sich mit der Hand über die Hüfte. „Ich verstehe
nicht, wovon Sie reden, Sir.“
„War doch ‘ne einfache Frage“, erklärte Devin. „Sie haben gerade
eine Leiche getreten. Fühlen Sie sich jetzt besser?“
„Ahm…“ Rogin sah zu Boden. „Ja, schon.“
Devin nickte. „Gut“, sagte er freundlich. „Gut. Ich bin froh, dass
Sie das Gefühl haben, etwas geschafft zu haben, Officer Rogin. So
was ist wichtig. Was haben Sie heute Abend sonst noch geschafft?“
Rogin räusperte sich: „Ich habe den Tatort abgesichert…“ „Gut. Das
ist immer gut.“
„Und ich habe, ahm…“
„.’. einen Mann auf der Veranda zusammengeschlagen“, ergänzte
Devin. „Stimmt das?“
„Ich dachte, er wäre bewaffnet, Sir.“
„Kann man verstehen“, entgegnete Devin. „Sagen Sie mal, haben Sie
an der Suche nach dem zweiten Schützen teilgenommen?“ „Nein, Sir.
Das war…“
„Haben Sie vielleicht eine Decke für den nackten Körper von Officer
Dünn besorgt?“
„Nein.“
„Nein. Nein.“ Devin schubste Evandros Leiche mit der Schuhspitze
und starrte sie teilnahmslos an. „Haben Sie irgendwelche Schritte
unternommen, um den Aufenthaltsort des zweiten Schützen ausfindig
zu machen, haben Sie
Nachbarn befragt oder Hausdurchsuchungen vorgenommen?“ „Nein. Aber
noch mal, ich…“
„Also, außer eine Leiche zu treten, einen wehrlosen Mann
niederzuschlagen und ein bisschen gelbes Absperrungsband zu
verkleben, haben Sie nicht viel geschafft, Officer,
oder?“
Rogin starrte auf den Herd. „Nein.“
„Wie bitte?“
„Ich sagte, nein, Sir.“
Devin nickte und stieg über die Leiche, so dass er neben Rogin
stand.
Im Gegensatz zu Devin war Rogin riesig und musste sich
herunterbeugen, um Devin zu verstehen. Er senkte den Kopf, und
Devin flüsterte ihm ins Ohr.
„Verlassen Sie diesen Tatort, Officer Rogin!“ befahl Devin. Rogin
blickte ihn an.
Obwohl Devin flüsterte, konnten ihn alle in der Küche verstehen:
„Solange Ihre Arme noch am Körper hängen!“
„Wir haben es verbockt“, klagte Bolton, „besser gesagt: Ich habe es
verbockt.“
„Nein“, widersprach ich.
„Das ist alles meine Schuld.“
„Das ist alles Evandros Schuld“, korrigierte ich, „und die seines
Partners.“
Er lehnte den Kopf nach hinten gegen die Wand von Angies Flur. „Ich
war übereifrig. Sie haben einen Köder ausgelegt, und ich habe
angebissen. Ich hätte Sie niemals allein lassen dürfen.“
„Sie konnten den Stromausfall doch nicht vorhersehen, Bolton!“
„Nein?“ Er hob die Hände und ließ sie dann angewidert fallen.
„Bolton“, beruhigte ich ihn, „Grace ist in Sicherheit. Mae ist in
Sicherheit. Phil ist in Sicherheit. Sie sind unbeteiligt. Angie und
ich aber nicht.“
Ich wollte durch den Flur ins Wohnzimmer gehen.
„Kenzie!“
Ich drehte mich zu ihm um.
„Wenn Sie und Ihre Kollegin keine Unbeteiligten sind, aber auch
keine Bullen, was sind Sie dann?“
Ich zuckte mit den Schultern. „Zwei Idioten, die nicht halb so hart
sind, wie sie dachten.“
Später, im Wohnzimmer, bemerkten wir an dem trüben grauen Licht,
dass es langsam dämmerte.
„Hast du’s Theresa gesagt?“ fragte ich Devin.
Er sah aus dem Fenster. „Noch nicht. Ich fahre gleich rüber. „ „Es
tut mir leid, Devin.“ Das war nicht viel, aber etwas anderes fiel
mir nicht ein.
Oscar hustete in die Faust und sah zu Boden.
Devin fuhr mit dem Finger über das Fenstersims und betrachtete den
Staub auf seinem Finger. „Mein Sohn ist gestern fünfzehn geworden“,
stellte er fest.
Devins Exfrau Helen lebte mit ihren zwei Kindern und ihrem zweiten
Ehemann, einem Kieferorthopäden, in Chicago. Helen besaß das
Sorgerecht, Devin war vor zwei Jahren nach einem hässlichen Vorfall
an Weihnachten das Besuchsrecht entzogen worden. „Ja? Wie geht’s
Lloyd denn so?“
Er zuckte mit den Achseln. „Er hat mir vor ein paar Monaten ein
Foto geschickt. Er ist ziemlich groß und hat so lange Haare, dass
ich seine Augen nicht mal sehen konnte.“
Devin betrachtete seine schweren, vernarbten Hände. „Er spielt
Schlagzeug in so ‘ner Band. Helen meint, seine Noten leiden
drunter.“
Er blickte nach draußen auf die Strasse, das trübe Grau schien
seine Haut zu spannen. Als er wieder sprach, zitterte seine Stimme.
„Schätze, es gibt ‘ne Menge schlimmere Sachen, als ein Musiker in
einer Band zu sein. Verstehst du, Patrick?“
Ich nickte.
Phil war mit meinem Crown Victoria zum Krankenhaus gefahren,
deshalb brachte Devin mich in seinem Wagen zu der Garage, wo ich
meinen Porsche verwahrte. Um uns herum wurde es hell. Wir standen
vor der Garage, Devin lehnte sich in seinem Sitz zurück und schloss
die Augen, während die Abgase aus dem gerissenen Auspuffrohr das
Auto einhüllten.
„Arujo und sein Partner haben in einem verlassenen Haus auf Nahant
ein Telefon an ein Computermodem angeschlossen. So konnten sie von
einer Telefonzelle hier an der Strasse anrufen, und der Anruf wurde
über das Modem geleitet. Ziemlich clever.“ Ich wartete, während er
sich das Gesicht rieb und die Äugen zusammenkniff, als wehre er
eine neue Schmerzwelle ab. „Ich bin ein Cop“, erklärte er. „Etwas
anderes kann ich nicht. Ich muss meinen Job machen. Und zwar
ordentlich.“
„Ich weiß.“
„Du musst diesen Typen finden, Patrick!“
„Ja.“
„Mit allen Mitteln!“
„Bolton…“
Devin hob die Hand. „Bolton will auch, dass das alles vorbei ist.
Vermeide jedes Aufsehen! Lass dich nicht erwischen!
sehen! Von mir und Bolton aus hast du jede Freiheit. Wir gucken
weg.“ Er öffnete die Augen wieder und sah mich lange an. „Dieser
Typ darf keine Bücher im Gefängnis schreiben oder Interviews
geben!“
Ich nickte.
„Die werden bestimmt sein Gehirn untersuchen wollen.“ Devin zog an
einem losen Stück Plastik, das vom demolierten Armaturenbrett
herunterhing. „Aber das können sie nicht, wenn kein Gehirn mehr da
ist.“
Ich klopfte ihm auf den Arm und stieg aus.
Angie war immer noch im OP, als ich im Krankenhaus anrief. Ich bat
darum, mit Phil zu sprechen, und als er ans Telefon kam, klang er
völlig erschöpft.
„Was ist los?“ erkundigte ich mich.
„Sie ist immer noch da drin. Die sagen mir einfach nichts!“ „Bleib
ruhig, Phil. Sie ist zäh.“
„Kommst du rüber?“
„Gleich“, antwortete ich. „Ich muss erst noch jemanden besuchen.“
„Hey, Patrick!“ sagte er besorgt. „Bleib du auch ruhig!“
Eric war zu Hause in seiner Wohnung an der Back Bay. In einem
zerlumpten Bademantel und einer grauen Jogginghose öffnete er die
Tür. Er sah abgekämpft aus, graue Bartstoppeln wuchsen in seinem
Gesicht. Das Har war nicht wie sonst zu einem Pferdeschwanz
gebunden und machte ihn richtig alt, wie es so offen über die Ohren
auf die Schultern fiel.
„Ich muss mit dir reden, Eric!“
Er warf einen Blick auf die Waffe in meinem Hosenbund. „Lass mich
in Ruhe, Patrick! Ich bin müde.“
Hinter ihm auf dem Boden sah ich eine Zeitung liegen, in der Spüle
stapelten sich Teller und Tassen.
„Hör auf mit dem Scheiß, Eric! Ich muss mit dir reden.“
„Ich habe mich schon unterhalten.“
„Mit dem FBI, ich weiß. Aber du hast den Lügendetektor nicht
bestanden, Eric.“
Er blinzelte. „Was?“
„Du hast mich gut verstanden.“
Er kratzte sich am Bein, gähnte und blickte durch mich hindurch.
„Lügendetektoren sind vor Gericht nicht zulässig.“
„Hier geht’s nicht ums Gericht“, erklärte ich. „Hier geht’s um
Jason Warren. Und um Angie.“
„Um Angie?“
„Sie hat eine Kugel abgekriegt, Eric.“
„Sie…?“ Er streckte die Hand aus, als wüsste er nicht, was er damit
anfangen solle. „O Gott, Patrick, wird sie wieder gesund?“ „Das
weiß ich noch nicht, Eric.“
„Du musst kurz vorm Abdrehen sein.“
„Ich bin momentan nicht mehr bei Sinnen, Eric. Behalt das im
Hinterkopf!“
Er zuckte zusammen, und kurz war in seinen Augen Bitterkeit und
Hoffnungslosigkeit zu lesen.
Er wandte mir den Rücken zu, ließ die Tür offenstehen und ging in
seine Wohnung. Ich folgte ihm durch ein total verwahrlostes
Wohnzimmer voller Bücher, leerer Pizzakartons, Weinflaschen und
Bierdosen.
In der Küche goss er sich eine Tasse Kaffee ein. Die Kaffeemaschine
war völlig verschmutzt mit uralten Kaffeeflecken, die er nicht
abgewischt hatte. Außerdem war sie nicht eingesteckt. Wer weiß, wie
alt der Kaffee war.
„War Jason dein Geliebter?“ wollte ich wissen.
Er schlürfte seinen kalten Kaffee.
„Eric, warum hast du die Universität von Massachusetts verlassen?“
„Weißt du, was passiert, wenn Professoren mit Studenten schlafen?“
fragte er.
„Profs schlafen doch ständig mit Studenten“, erwiderte ich. Er
lächelte und schüttelte den Kopf. „Männliche Professoren schlafen
ständig mit weiblichen Studenten.“ Er seufzte. „Und bei der
aktuellen politischen Atmosphäre an den meisten Universitäten wird
selbst das gefährlich. In loco parentis. Dieser Ausdruck wird erst
dann bedrohlich, wenn man ihn in einem Land auf
einundzwanzigjährige Frauen und Männer anwendet, das mit allen
Mitteln zu verhindern sucht, Kinder erwachsen werden zu lassen.“
Ich fand eine saubere Stelle an der Theke und lehnte mich
dagegen.
Eric sah von seiner Kaffeetasse hoch. „Aber stimmt, Patrick, im
allgemeinen sieht es so aus, dass männliche Profs mit weiblichen
Studenten schlafen können, solange diese Studentinnen nicht den
Unterricht dieser Dozenten besuchen.“
„Wo ist dann das Problem?“
„Das Problem sind schwule Profs und schwule Studenten. Diese Art
von Beziehung, schwöre ich dir, wird immer noch missbilligt.“
„Eric“, sagte ich, „warte mal kurz! Wir sprechen hier doch vom
akademischen Leben in Boston. Der stärksten Bastion des
Liberalismus in Amerika!“
Er lachte leise. „Das glaubst du tatsächlich, was?“ Wieder
schüttelte er den Kopf, um seine dünnen Lippen spielte ein
seltsames Lächeln. „Wenn du eine Tochter hättest,
Patrick, und sagen wir mal, sie war so um die Zwanzig, sie war
intelligent und ginge nach Harvard, Bryce oder zur Boston
University, und du bekämst heraus, dass sie mit ihrem Professor
bumst, was würdest du denken?“
Ich sah in seine leeren Augen. „Ich behaupte nicht, dass ich es
toll fände, Eric, aber ich würde mich nicht wundern. Ich würde mir
denken, sie ist erwachsen, es ist ihre Sache.“
Er nickte. „Jetzt das gleiche Szenario, aber es ist dein Sohn, und
er bumst mit einem Professor?“
Das brachte mich zum Nachdenken. Es berührte einen verdrängten,
eher puritanischen als katholischen Teil von mir, und das Bild in
meinem Kopf – ein junger Mann zusammen mit Eric in einem winzigen
Bett – stieß mich ab, bevor ich es kontrollieren und mich von ihm
distanzieren konnte, bevor ich es mit Hilfe meines intelligenten
sozialen Liberalismus wieder in den Griff bekam.
„Ich würde…“
„Siehst du?“ Er grinste breit, doch war sein Blick noch immer leer
und verwirrt. „Die Vorstellung stößt dich ab, oder?“
„Eric, ich…“
„Hat sie oder hat sie nicht?“
„Ja“, sagte ich leise. Und fragte mich, warum mich das zu einem
Reaktionär machte.
Er hielt die Hand hoch. „Schon gut, Patrick. Ich kenne dich seit
zehn Jahren, und du bist einer der am wenigsten homophoben Heteros,
die ich kenne. Aber ein bisschen homophon bist du doch.“ „Aber
nicht in Bezug auf…“
„… mich und meine schwulen Freunde“, ergänzte er. „Das findest du
okay. Das glaube ich dir. Aber wenn du die Möglichkeit in Betracht
ziehen musst, dass dein Sohn und seine schwulen Freunde…“
Ich zuckte mit den Achseln. „Vielleicht.“
„Jason und ich hatten eine Affäre“, gestand er und goss den Kaffee
in die Spüle.
„Wann?“ fragte ich.
„Letztes Jahr. Dann war’s vorbei. Sie dauerte überhaupt nur einen
Monat. Ich war ein Freund der Familie und hatte deshalb das Gefühl,
Diandra zu hintergehen. Jason einerseits wollte, glaube ich,
jemanden in seinem Alter haben, außerdem wirkte er noch mächtig
anziehend auf Frauen. Wir trennten uns in aller Freundschaft.“
„Hast du das dem FBI erzählt?“
„Nein.“
„Eric, um Gottes willen, warum nicht?“
„Dann ist meine Karriere am Ende“, erwiderte er. „Denk an deine
Reaktion auf meine hypothetische Frage. Auch wenn du glaubst, an
der Uni war man so liberal, in den Aufsichtsräten der meisten
Colleges sitzen weiße Heteros. Oder deren Frauen aus der
Oberschicht. Sobald sie den Verdacht hegen, ein schwuler Prof polt
ihre Kinder oder deren Freunde zu schwulen Studenten um, machen sie
dich fertig. Darauf kannst du wetten.“
„Eric, es kommt auf jeden Fall heraus! Das FBI, Eric! Das FBI! Sie
durchforsten dein Leben mit der Lupe. Früher oder später gucken sie
in der richtigen Ecke nach.“
„Ich kann es nicht zulassen, Patrick. Es geht nicht.“
„Was ist mit Evandro Arujo? Hast du ihn gekannt?“
Er schüttelte den Kopf. „Nein. Jason hatte Angst, Diandra hatte
Angst, deshalb habe ich dich angerufen.“
Ich glaubte ihm. „Eric, überleg dir bitte, ob du nicht doch mit den
Agenten redest.“
„Erzählst du ihnen, was ich gesagt habe?“
Ich schüttelte den Kopf. „So was mache ich nicht. Ich erzähle
ihnen, dass ich dich nicht für einen Verdächtigen
halte, aber ich glaube nicht, dass sie sich ohne Beweise überzeugen
lassen.“
Er nickte und ging zur Wohnungstür zurück. „Danke, dass du
vorbeigekommen bist, Patrick.“
Im Flur zögerte ich kurz. „Erzähl es ihnen, Eric!“
Er legte mir die Hand auf die Schulter und lächelte mich an,
versuchte mutig auszusehen. „In der Nacht, als Jason ermordet
wurde, war ich mit einem Studenten zusammen. Meinem Freund. Dessen
Vater ist ein einflussreicher Staatsanwalt aus North Carolina und
hochrangiges Mitglied der Christian Coalition. Was glaubst du, was
der macht, wenn er das herausbekommt?“
Ich blickte auf den staubigen Teppich herunter.
„Ich kann nichts anderes als unterrichten, Patrick. Das ist mein
ein und alles. Ohne das kann ich aufgeben.“
Ich sah ihn an, und es schien mir, als ob er sich schon längst
aufgegeben hatte.
Auf dem Weg zum Krankenhaus hielt ich kurz beim Black Emerald an,
doch war die Kneipe geschlossen. Ich blickte zu Gerrys Wohnung im
ersten Stock hinauf. Die Rollläden waren heruntergelassen. Ich
suchte nach Gerrys Auto, das normalerweise vor dem Haus geparkt
war. Es war nicht da.
Wenn der Täter mich seit Anfang der Mordserie wirklich getroffen
hatte, wie Dolquist vermutete, dann war das Feld der Verdächtigen
deutlich eingeschränkt. Das FBI hielt sowohl Eric als auch Gerry
für verdächtig. Und Gerry war auf jeden Fall körperlich dazu in der
Lage.
Aber was für ein Motiv konnte er haben?
Ich kannte Gerry schon, solange ich lebte. Konnte er töten? Wir
alle sind dazu fähig, flüsterte eine Stimme in meinem Kopf. Jeder
einzelne.
„Mr. Kenzie!“
Ich drehte mich um und entdeckte Agent Fields, der Abhörgeräte in
den Kofferraum eines dunklen Plymouth packte. „Mr. Glynn ist
sauber.“
„Wieso?“
„Wir haben sein Haus gestern Abend beobachtet. Glynn ging um eins
nach oben in seine Wohnung, guckte bis drei Uhr Fernsehen und ging
dann ins Bett. Wir sind die ganze Nacht geblieben, aber es hat sich
nichts mehr getan. Er ist nicht unser Mann, Mr. Kenzie. Tut mir
leid.“
Ich nickte, teils erleichtert, teils mit einem Schuldgefühl, dass
ich Gerry überhaupt verdächtigt hatte.
Aber ein anderer Teil von mir war enttäuscht. Vielleicht hatte ich
sogar gewollt, dass es Glynn war.
Nur damit es endlich vorbei war.
„Die Kugel hat großen Schaden angerichtet“, erklärte uns Dr.
Barnett. „Sie hat ein Loch in die Leber gerissen, beide Nieren
gestreift und ist im Dünndarm steckengeblieben. Zweimal hätten wir
sie fast aufgegeben, Mr. Kenzie.“
„Wie geht es ihr jetzt?“
„Sie ist noch nicht über den Berg“, antwortete er. „Ist sie eine
starke Frau? Hat sie ein starkes Herz?“
„Ja“, bestätigte ich.
„Dann hat sie eine ganz gute Chance. Mehr kann ich Ihnen im Moment
leider nicht sagen.“
Nach eineinhalb Stunden im Aufwachraum wurde sie um halb neun auf
die Intensivstation gebracht.
Sie sah aus, als hätte sie 25 Kilo abgenommen, ihr Körper schien im
Bett zu verschwinden.
Phil und ich standen neben dem Bett, während eine Krankenschwester
die Infusionen aufhängte und einen
Monitor anschaltete, der die Lebensfunktionen überwachte. „Wozu ist
der denn da?“ fragte Phil. „Ich denke, sie ist jetzt okay. Oder
nicht?“
„Sie hat zweimal wieder zu bluten angefangen, Mr. Dimassi. Wir
überwachen sie, um aufzupassen, falls es noch mal passiert.“ Phil
nahm Angies Hand in seine, sie sah so klein aus.
„Ange?“ fragte er.
„Sie wird heute den ganzen Tag schlafen“, erklärte die
Krankenschwester. „Sie können jetzt nicht viel für sie tun, Mr.
Dimassi.“ „Ich lasse sie nicht allein“, beharrte Phil.
Die Krankenschwester sah mich an, aber ich starrte ausdruckslos
zurück.
Um zehn verließ ich die Intensivstation und entdeckte Bubba im
Wartezimmer.
„Wie geht’s ihr?“
„Die Ärzte glauben, dass sie’s schafft.“
Bubba nickte.
„Ich schätze, wir wissen mehr, wenn sie aufwacht.“
„Und wann ist das?“ wollte er wissen.
„Heute nachmittag“, entgegnete ich. „Vielleicht heute Abend.“ „Kann
ich irgendwas tun?“
Ich beugte mich über den Wasserspender und trank wie jemand, der
gerade aus der Wüste kam.
„Ich muss unbedingt mit Fat Freddy sprechen“, sagte ich. „Okay.
Warum?“
„Ich muss Jack Rouse und Kevin Hurlihy finden und ihnen ein paar
Fragen stellen.“
„Ich glaube nicht, dass Freddy damit ein Problem hat.“
„Wenn sie mir nicht antworten, brauche ich die Erlaubnis, so lange
auf sie zu schießen, bis sie’s mir sagen.“
Jetzt beugte sich Bubba ebenfalls über den Wasserspender und sah
mich ungläubig an: „Meinst du das ernst?“
„Bubba, sag Freddy, dass ich es so oder so mache, auch ohne seine
Erlaubnis.“
„Jetzt aber richtig, was?“ entgegnete er.
Phil und ich wechselten uns ab.
Wenn einer von uns zur Toilette musste oder sich etwas zu trinken
holte, hielt der andere Angies Hand. Den ganzen Tag lang hielt
jemand ihre Hand.
Am Mittag suchte Phil nach einer Cafeteria, und ich führte Angies
Hand an meine Lippen und schloss die Augen.
Als ich sie zum ersten Mal sah, fehlten ihr die beiden oberen
Schneidezähne, und ihr kurzes Haar war so fürchterlich geschnitten,
dass ich sie für einen Jungen hielt. Wir waren in der Turnhalle des
Little-House-Freizeitzentrums auf der East Cottage Street, einer
Betreuungseinrichtung für Sechsjährige. Damals gab es in unserer
Gegend noch nicht viele Horte, die nach der Schule auf die Kinder
aufpassten, aber im Little House konnten die Eltern ihre Kleinen
für fünf Dollar pro Woche jeden Nachmittag drei Stunden abgeben.
Die Betreuer ließen die Zügel ziemlich locker, solange wir nichts
kaputtmachten.
An jenem Tag lagen kastanienbraune Gymnastikbälle, orangefarbene
Softbälle, harte Plastikfootbälle, Hallenhockeyschläger, Pucks und
Basketbälle auf dem Boden der Turnhalle umher. Dazwischen rannten
ungefähr fünfundzwanzig Sechsjährige durcheinander und schrieen wie
am Spieß.
Von den Pucks waren immer zuwenig da, und ich nahm mir einen
Hockeyschläger und verfolgte das kleine Kind mit dem furchtbaren
Haarschnitt, das unbeholfen einen Puck an der Wand der Turnhalle
entlangführte. Ich schlich mich dahinter, hob seinen Schläger mit
meinem an und nahm ihm den Puck weg.
Daraufhin schubste Angie mich, schlug mir auf den Kopf und holte
sich den Puck zurück.
Hier auf der Intensivstation, mit ihrer Hand an meiner Wange, war
mir der Tag so präsent wie kein anderer.
Ich beugte mich vor und legte meine Wange an ihre, drückte ihre
Hand fest an meine Brust und schloss die Augen.
Als Phil zurückkam, schnorrte ich eine Zigarette von ihm und ging
zum Rauchen nach draußen auf den Parkplatz.
Seit sieben Jahren hatte ich nicht mehr geraucht, doch beim
Anzünden roch der Tabak wie Parfüm, und der Rauch in meinen Lungen
fühlte sich in der eisigen Luft sauber und rein an.
„Der Porsche da ist ein toller Schlitten“, sagte jemand rechts von
mir. „‘66?“
„‘63“, erwiderte ich und drehte mich um.
Pine trug einen Kamelhaarmantel und eine bordeauxrote Baumwollhose,
dazu einen schwarzen Kaschmirpullover. Die schwarzen Handschuhe
saßen wie eine zweite Haut.
„Wie haben Sie den bezahlt?“ wollte er wissen.
„Ich habe eigentlich nur den Rahmen gekauft“, erklärte ich. „Die
Einzelteile hab ich im Laufe der Jahre gesammelt. „
„Gehören Sie zu den Typen, die Ihr Auto mehr lieben als Frau und
Kinder?“
Ich hielt ihm die Schlüssel hin. „Das ist nichts als Chrom, Blech
und Gummi, Pine. Im Augenblick ist es mir vollkommen egal. Wenn Sie
ihn haben wollen, bitte!“
Er schüttelte den Kopf. „Viel zu auffällig für meinen Geschmack.
Ich fahre einen Honda.“
Ich zog ein zweites Mal an der Zigarette und fühlte mich sofort
beschwichtigt. Vor mir begann die Luft zu tanzen.
„Auf Vincent Patrisos einzige Enkeltochter zu schießen war eine
extrem uncoole Sache“, bemerkte er.
„Stimmt.“
„Mr. Constantine wurde informiert, dass zwei Herren nicht seiner
Anweisung gehorcht haben, Ihnen bei Ihren Ermittlungen zu
helfen.“
„Das stimmt auch.“
„Und jetzt liegt Ms. Gennaro auf der Intensivstation.“
„Ja.“
„Mr. Constantine lässt Sie wissen, dass Sie freie Hand haben, was
die Identifizierung und Ergreifung des Mannes angeht, der auf Ms.
Gennaro geschossen hat.“
„Freie Hand?“
„Freie Hand, Mr. Kenzie. Wenn Mr. Hurlihy und Mr. Rouse nicht mehr
auftauchen sollten, versichert Mr. Constantine Ihnen, dass weder er
noch seine Geschäftspartner jemals den Wunsch verspüren werden,
nach ihnen zu suchen. Verstehen Sie?“
Ich nickte.
Er reichte mir eine Karte. Auf der einen Seite stand eine Adresse
geschrieben: South Street 411, 4. Etage. Auf der anderen Seite
stand eine Nummer, die ich als Bubbas Handynummer erkannte.
„Treffen Sie sich dort so schnell wie möglich mit Mr. Rogowski.“
„Danke!“
Er zuckte mit den Achseln und sah auf meine Zigarette. „Sie sollten
besser nicht rauchen, Mr. Kenzie.“
Er verließ den Parkplatz, und ich drückte die Zigarette aus und
ging wieder hinein.
Um Viertel vor drei öffnete Angie die Augen.
„Schatz?“ fragte Phil.
Sie blinzelte und versuchte zu sprechen, doch war ihr Mund zu
trocken.
Wie uns die Krankenschwester vorher angewiesen hatte, reichten wir
Angie zerstoßenes Eis, aber kein Wasser. Sie nickte dankbar. „Ich
bin nicht dein Schatz!“ krächzte sie. „Wie oft muss ich dir das
noch sagen, Phillip?“
Phil lachte und küsste sie auf die Stirn, ich küsste sie auf die
Wange, und sie schlug schwach nach uns.
Wir lehnten uns zurück.
„Wie geht es dir?“ erkundigte ich mich.
„Was für eine bekloppte Frage!“ war die Antwort.
Dr. Barnett ließ Stethoskop und Taschenlampe wieder in seine Tasche
verschwinden und sagte zu Angie: „Sie werden bis morgen auf der
Intensivstation bleiben, damit wir gut auf Sie aufpassen können,
aber es sieht so aus, als schafften Sie es ganz gut.“ „Das tut
schweineweh!“ stöhnte sie.
Er grinste. „Das denke ich mir. Die Kugel hat einen hässlichen Weg
eingeschlagen, Ms. Gennaro. Wir unterhalten uns später darüber, was
sie angerichtet hat. Ich kann Ihnen jetzt schon versprechen, dass
es eine Menge Nahrungsmittel gibt, die Sie nie wieder essen können.
Auch jede Flüssigkeit außer Wasser ist für die nächste Zeit
tabu.“
„Scheiße!“ fluchte sie.
„Es gibt noch andere Dinge, in denen Sie sich einschränken müssen,
aber…“
„Was ist mit…?“ Sie warf einen Blick auf Phil und mich, dann sah
sie weg.
„Ja?“ fragte Barnett.
„Na ja“, meinte sie, „die Kugel ist irgendwie da unten in meinem
Unterleib herumgesaust und…“
„Ihre Fortpflanzungsorgane wurden nicht in Mitleidenschaft gezogen,
Ms. Gennaro.“
„Oh!“ machte sie und warf mir einen zornigen Blick zu, als sie mich
lächeln sah. „Halt bloß die Schnauze, Patrick!“
Gegen fünf Uhr kam der Schmerz mit aller Macht zurück, und man
spritzte ihr so viel Schmerzmittel, dass selbst ein bengalischer
Tiger narkotisiert gewesen wäre.
Ich strich ihr mit der Hand über die Wange, während sie von der
Droge betäubt blinzelte.
„Der auf mich geschossen hat?“ brachte sie mit schwerer Zunge
hervor.
„Ja?“
„Weißt du schon, wer’s ist?“
„Nein.“
„Aber bald, oder?“
„Klar!“
„Also, dann…“
„Was?“
„Hol ihn dir, Patrick“, sagte sie. „Und mach ihn fertig!“