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Angie und ich gingen zu einem Donut-Laden auf
der Boston Street; Devin und Oscar folgten uns
unauffällig.
Wir waren beide mehr als müde, vor meinen Augen tanzten und
zersprangen Luftblasen.
Wir sprachen kaum miteinander, während wir am Fenster standen,
unseren Kaffee tranken und in den grauen Morgen starrten. In
unserem Puzzle schienen alle Teile zusammenzupassen, doch irgendwie
wollte das Puzzle selbst keine Gestalt annehmen. Ich musste davon
ausgehen, dass der EES ein Zusammentreffen, in welcher Form auch
immer, mit Hardiman, Rugglestone oder auch mit dem dritten Mörder
gehabt hatte. Aber was für ein Zusammentreffen? Erwischten sie
Hardiman oder den Unbekannten bei etwas, das letztere für
kompromittierend hielten? Wenn ja, was konnte das gewesen sein? Und
warum haben die drei dann nicht einfach die Mitglieder des EES
damals in den Siebzigern erledigt? Warum warteten sie zwanzig
Jahre, um die Nachkommen und deren Angehörige zu
verfolgen?
„Du siehst fertig aus, Patrick.“
Ich lächelte sie müde an. „Du auch.“
Sie nahm einen Schluck Kaffee. „Nach dieser Einsatzbesprechung
gehen wir nach Hause ins Bett.“
„Das klingt aber etwas seltsam.“
Sie kicherte. „Ja, stimmt. Aber du weißt, was ich meine.“ Ich
nickte. „Du versuchst nach all den Jahren immer noch, mich in die
Kiste zu bekommen.“
„Hättest du wohl gerne, du Schlaumeier.“
„Damals, 1974“, fragte ich, „aus welchem Grund könnte ein Mann
damals Schminke getragen haben?“
„Das geht dir nicht aus dem Kopf, stimmt’s?“
„Ja.“
„Keine Ahnung, Patrick. Vielleicht waren sie eitel. Vielleicht
wollten sie ihre Falten verstecken.“
„Mit weißer Theaterschminke?“
„Vielleicht waren sie Schauspieler. Oder Clowns. Oder Grufties.“
„Oder Fans von KISS.“
„Oder so.“ Sie summte einen Takt von „Beth“.
„Scheiße!“
„Was?“
„Es gibt da eine Verbindung, ich kann sie spüren.“
„Du meinst, zu der Schminke?“
„Ja“, erwiderte ich. „Und die Verbindung zwischen Hardiman und dem
EES. Ich bin mir sicher. Wir stehen direkt davor und sind zu müde,
um sie zu erkennen.“
Angie zuckte mit den Achseln. „Jetzt hören wir uns an, was Bolton
bei seiner Besprechung zu sagen hat. Vielleicht ergibt es dann ja
einen Sinn.“
„Klar.“
„Sei nicht so pessimistisch“, mahnte sie mich.
Die Hälfte von Boltons Agenten arbeitete sich auf der Suche nach
Informationen durch unsere Nachbarschaft, andere überwachten Angies
Haus, Phils Wohnung und meine auch, so dass Bolton von Vater
Drummond die Erlaubnis
bekommen hatte, die Einsatzbesprechung in der Kirche abzuhalten.
Wie immer am Morgen war die Kirche erfüllt vom Aroma von Weihrauch
und Kerzenwachs aus der Sieben-Uhr-Messe, in den Bänken lag der
Geruch von Desinfektionsreiniger und Ölseife, und über allem
schwebte der traurige Duft welker Chrysanthemen. In den
zinnfarbenen Lichtstrahlen, die durch das Ostfenster schräg auf den
Altar fielen und in der mittleren Bankreihe verschwanden, tanzten
Staubkörner. An einem kühlen Herbstmorgen fühlt sich eine Kirche
mit ihren rauchigen Braun- und Rottönen, der whiskeyfarbenen Luft
und den gerade von der Sonne erwärmten, bunten Bleiglasfenstern
immer so an, wie es die Gründerväter des Katholizismus bestimmt
beabsichtigt hatten: wie ein von irdischer Unvollkommenheit
gereinigter Ort, an dem nur Geflüster und raschelnder Stoff beim
Beugen der Knie zu hören sein sollte.
Bolton saß auf dem vergoldeten, roten Stuhl des Priesters im
Altarraum. Er hatte ihn ein wenig nach vorne gerückt, damit er die
Füße auf die Brüstung legen konnte; Agenten und Polizeibeamte saßen
in den ersten vier Reihen, die meisten hatten Stift, Papier oder
Aufnahmegeräte gezückt.
„Schön, dass Sie kommen konnten!“ grüsste Bolton uns. „Lassen Sie
das!“ sagte Angie mit Blick auf seine Füße. „Was denn?“
„Auf dem Stuhl des Priesters im Altarraum sitzen und die Füße auf
die Brüstung legen.“
„Warum?“
„Für manche Menschen ist das beleidigend.“
„Für mich nicht.“ Er zuckte mit den Schultern. „Ich bin nicht
katholisch.“
„Aber ich“, sagte Angie.
Er schaute sie an, um zu sehen, ob sie scherzte, aber sie blickte
ihn so ernst und fest an, dass er schnell nachgab.
Er seufzte, stand auf und stellte den Stuhl an seinen Platz zurück.
Während wir uns zu den Bänken begaben, ging er durch den Altarraum
und erklomm die Kanzel.
„Besser?“ rief er.
Sie zuckte mit den Achseln, während sich Devin und Oscar in die
Bank vor uns setzten. „Schon in Ordnung.“
„Dann freue ich mich, dass ich Ihre empfindlichen Gefühle nicht
länger verletze, Ms. Gennaro.“
Sie verdrehte die Augen, dann nahmen wir in der fünften Reihe
Platz, und wieder spürte ich einen seltsamen Anflug von Bewunderung
für ihren Glauben an eine Religion, der ich schon lange den Rücken
gekehrt hatte. Angie machte keine Werbung dafür und redete nicht
ständig davon, und die patriarchalische Hierarchie der Kirche
verachtete sie aus ganzem Herzen, doch glaubte sie trotzdem fest,
still und unerschütterlich an diese Religion mit ihren
Ritualen.
Schon bald fand Bolton Gefallen an der Kanzel. Mit den kräftigen
Händen strich er über die mit lateinischen Inschriften und
kirchlichen Motiven kunstvoll verzierten Seitenwände. Seine
Nasenlöcher bebten leicht, als er auf seine Gemeinde
herabsah.
„In der vergangenen Nacht gab es folgende Entwicklungen: Erstens.
Die Durchsuchung von Evandro Arujos Wohnung ergab, dass unter einer
Bodendiele unter einem Heizkörper Fotos sichergestellt wurden.
Meldungen von Männern, auf die Arujos Beschreibung passt, haben
sich seit sieben Uhr heute morgen verdreifacht, als die
Tageszeitungen zwei Fotos von ihm brachten: eins mit und eins ohne
Bart. Die meisten sind nicht haltbar. Es gibt aber fünf angebliche
Sichtungen an der unteren Südküste und zwei jüngere Meldungen von
Cape Cod, aus der Nähe von
Bourne. Ich habe Agenten ausschwärmen lassen, die letzte Nacht die
obere Südküste, Cape Cod und die Inseln abgesucht haben.
Straßensperren wurden auf beiden Seiten der Routen 6, 28 und 3
sowie auf der 1-495 errichtet. Zwei Zeugen sahen Arujo in einem
schwarzen Nissan Sentra, aber die Zuverlässigkeit solcher Meldungen
ist immer sehr gering, wenn plötzlich eine Massenhysterie
ausbricht.“
„Und der Jeep?“ fragte ein Agent.
„Bis jetzt noch nichts. Vielleicht fährt er ihn noch, vielleicht
hat er ihn stehenlassen. Gestern morgen wurde ein roter Cherokee
vom Parkplatz am Bayside Expo Center gestohlen, und wir gehen davon
aus, dass Evandro gestern in diesem Auto gesichtet wurde. Das
Kennzeichen lautet 299-ZSR. Die Polizei in Wollaston konnte gestern
bei der Verfolgung des Jeeps nur einen Teil des Nummernschildes
erkennen, aber die Ziffern passten.“
„Sie sprachen von Fotos“, warf Angie ein.
Bolton nickte. „Verschiedene Aufnahmen von Kara Rider, Jason
Warren, Stimovich und Stokes. Sie ähneln denen, die den Angehörigen
der Opfer geschickt wurden. Arujo ist jetzt ohne jeden Zweifel der
Hauptverdächtige für diese Morde. Es wurden weitere Fotos gefunden,
auf denen wohl zukünftige Opfer zu sehen sind. Das Gute daran,
meine Damen und Herren, ist, dass wir jetzt eventuell vorhersagen
können, wo er als nächstes zuschlägt.“
Bolton hustete in die Hand. „Die Gerichtsmedizin hat nun
unzweideutig sichergestellt, dass an den vier Mordfällen, die wir
hier untersuchen, zwei Mörder beteiligt waren. Die Flecken an Jason
Warrens Handgelenken beweisen, dass er von einer Person
festgehalten wurde, während ihm die andere mit einer Rasierklinge
Gesicht und Brust aufschnitt. Kara Riders Kopf wurde von zwei
Händen festgehalten, während zwei andere Hände den Eispickel durch
den Kehlkopf stießen. Die Wunden von Peter Stimovich und Pamela
Stokes zeugen ebenfalls von der Anwesenheit zweier Täter.“ „Gibt es
Anhaltspunkte für den Tatort?“ erkundigte sich Oscar. „Im Moment
noch nicht. Jason Warren wurde in dem Lagerhaus in South Boston
umgebracht. Die anderen wurden an einem anderen Ort ermordet. Aus
irgendeinem Grund waren die Mörder der Ansicht, sie müssten Warren
schnell erledigen.“ Er zuckte mit den Achseln. „Wir wissen nicht,
warum. Die anderen drei hatten nur minimale Dosen von Chloroform im
Blut, was darauf schließen lässt, dass sie während des Transports
zu dem Ort, an dem sie getötet wurden, nicht bei Bewusstsein
waren.“
Devin bemerkte: „Stimovich wurde mindestens eine Stunde lang
gefoltert, Stokes doppelt so lange. Das muss viel Lärm verursacht
haben.“
Bolton nickte. „Wir suchen nach einem abgelegenen Tatort. „ „Was
kommt da in Frage?“ wollte Angie wissen.
„Alles mögliche. Wohnhäuser, leere Gebäude, Feuchtbiotope unter
Naturschutz, ein halbes Dutzend kleiner Inseln vor der Küste,
leerstehende Gefängnisse, Krankenhäuser, Lagerhäuser und so weiter.
Wenn einer der beiden Mörder seit zwanzig Jahren untätig war,
können wir davon ausgehen, dass er alles bis ins kleinste Detail
geplant hat. Er könnte ohne weiteres den Keller seines Hauses oder
ein paar Zimmer schalldicht abgesichert haben.“
„Gibt es weitere Anhaltspunkte, die darauf schließen lassen, dass
der sogenannte untätige Mörder in der Zwischenzeit Kinder
umgebracht hat?“
„Keine endgültigen Beweise“, erwiderte Bolton. „Aber von den 1162
Flugblättern, die Sie erhalten haben, wurden
in den letzten zehn Jahren 287 Kinder als tot registriert. 211 von
den Fällen sind offiziell noch nicht abgeschlossen. „
„Wie viele davon in New England?“ fragte ein Agent.“
„56“, antwortete Bolton leise, „49 nicht abgeschlossen.“
„Prozentual gesehen“, bemerkte Oscar, „ist das eine schrecklich
hohe Zahl.“
„Ja“, sagte Bolton müde, „das stimmt.“
„Wie viele davon starben auf ähnliche Weise wie die jetzigen
Opfer?“
„In Massachusetts niemand, obwohl mehrere Erstochene darunter
waren, einige mit Handverletzungen, die werden noch weiter
untersucht. Es gibt zwei so extrem brutale Fälle, dass sie zu der
aktuellen Mordserie passen könnten.“
„Wo?“
„Einer ‘86 in Lubbock, Texas. Einer ‘91 in der Nähe von Miami, im
nicht eingemeindeten County Dade.“
„Amputationen?“
„Positiv.“
„Fehlende Körperteile?“
„Positiv.“
„Wie alt waren die Kinder?“
„Opfer in Lubbock war vierzehn, männlich. Das in Dade war sechzehn,
weiblich.“ Er räusperte sich und klopfte sich die Brusttaschen nach
dem Inhalator ab, konnte ihn aber nicht finden. „Des weiteren, wie
Sie alle in der letzten Nacht informiert wurden, lieferte uns Mr.
Kenzie einen möglichen Bezug zwischen den Morden von ‘74 und den
heutigen. Meine Herren, es sieht so aus, als hätten unsere Mörder
mit den Kindern der EES-Mitglieder ein Hühnchen zu rupfen, aber bis
jetzt konnten wir diesen Verein noch nicht mit Alec Hardiman oder
Evandro Arujo in Verbindung bringen. Wir wissen nicht, warum, aber
wir müssen davon ausgehen, dass diese Verbindung von oberster
Wichtigkeit ist.“
„Was ist mit Stimovich und Stokes?“ fragte ein Agent. „Wo ist da
die Verbindung?“
„Wir glauben, es gibt keine. Wir glauben, dass sie zu den
>unschuldigen< Opfern gehören, von denen der Mörder in seinem
Brief sprach.“
„Was für ein Brief?“ erkundigte sich Angie.
Bolton blickte auf uns herab. „Den wir in Ihrer Wohnung gefunden
haben, Mr. Kenzie. Unter Stimovich’ Augen.“
„Den Sie mich nicht lesen lassen wollten?“
Er nickte, warf einen Blick auf seine Aufzeichnungen und rückte die
Brille zurecht. „Bei einer Durchsuchung von Jason Warrens
Studentenzimmer wurde in einer verschlossenen Schreibtischschublade
ein Tagebuch von Mr. Warren entdeckt. Abzüge davon erhalten Sie auf
Nachfrage, jetzt lese ich nur aus einem Eintrag vom 17. Oktober
vor, das ist der Tag, an dem Mr. Kenzie und Ms. Gennaro Warren mit
Arujo beobachteten.“ Er räusperte sich, es war ihm offensichtlich
unangenehm, mit einer anderen Stimme als der seinen zu sprechen.
„E. war wieder in der Stadt. Etwas länger als eine Stunde. Er ahnt
nichts von seiner Macht, ahnt nicht, wie anziehend ihn seine Angst
vor sich selbst macht. Er möchte mit mir schlafen, kann sich aber
seiner Bisexualität noch nicht stellen. Ich habe ihm gesagt, dass
ich das verstehe. Dafür habe ich ewig gebraucht. Freiheit ist
schmerzhaft. Er hat mich zum ersten Mal berührt, dann musste er
gehen. Zurück nach New York. Zu seiner Frau. Aber ich werde ihn
wiedersehen. Ich weiß es. Ich komme ihm immer näher.“ Bolton
errötete tatsächlich bei den letzten Worten.
„Evandro ist der Köder“, bemerkte ich.
„Sieht so aus“, bestätigte Bolton. „Arujo schafft die Leute heran,
und sein geheimnisvoller Partner schnappt sie sich. Alle, die von
Arujo erzählen – seine Mitgefangenen, Jason Warren in seinem
Tagebuch, Kara Riders Mitbewohnerin, die Leute in der Bar, wo er
Pamela Stokes aufgegabelt hat –, sagen immer wieder das gleiche:
Der Mann besitzt eine äußerst starke Anziehungskraft. Wenn er klug
genug ist – und das ist er offensichtlich –, um sich herum Hürden
zu errichten, die die zukünftigen Opfer überwinden müssen, dann
sind sie schließlich einverstanden, sich auf seine Geheimnistuerei
einzulassen, und treffen sich mit ihm an abgelegenen Orten. Deshalb
hat er Jason Warren von einer angeblichen Ehefrau erzählt. Gott
weiß, was er den anderen erzählt hat, aber ich schätze, er hat sie
gefügig gemacht, indem er ihnen vormachte, er sei ihnen verfallen.
„
„Eine männliche Helena von Troja“, meldete sich Devin. „Harry von
Troja“, korrigierte Oscar, und einige Agenten
schmunzelten.
„Die weitere Untersuchung des Tatorts erbrachte folgendes: Erstens:
Beide Täter wiegen zwischen achtzig und neunzig Kilogramm.
Zweitens: Da Evandro Arujos Schuhe mit denen der Größe 9V2
übereinstimmen, die wir am Tatort von Rider gefunden haben, muss
sein Partner Größe 8 haben. Drittens: Der zweite Täter hat braunes
Haar und ist ziemlich stark. Stimovich war ein äußerst kräftiger
Mann, doch hat ihn jemand betäubt, bevor ihm Gift verabreicht
wurde; Arujo ist nicht besonders stark, also müssen wir davon
ausgehen, dass sein Partner es ist. Viertens: Erneute Befragungen
der Leute, die peripheren Kontakt mit diesen Opfern hatten, ergaben
folgendes: Ausser Professor Eric Gault und Gerald Glynn haben alle
wasserdichte Alibis für
die vier Morde. Gault und Glynn werden momentan im JFKGebäude
befragt; Gault hat den Lügendetektortest nicht bestanden. Beide
Männer sind kräftig, beide sind klein genug für Schuhgröße 8, geben
aber an, Größe 9 zu tragen. Noch Fragen?“
„Gelten sie als Verdächtige?“ wollte ich wissen.
„Warum fragen Sie?“
„Weil Gault mich bei Diandra Warren empfohlen hat, und Gerry Glynn
mir wichtige Informationen gegeben hat.“
Bolton nickte. „Das bestätigt nur, was wir von der Pathologie des
unbekannten Mörders vermuten.“
„Und das wäre?“ fragte Angie.
„Dr. Elias Rottenheim von der Abteilung für Verhaltensforschung hat
folgende Theorie über einen unbekannten untätigen Mörder
postuliert. Siehe ebenfalls die Mitschriften vom heutigen Gespräch
mit Dr. Dolquist. Ich zitiere aus Dr. Rottenheim: >Das Subjekt
verhält sich konform zu allen Kriterien, die bei Patienten
prävalent sind, die an der dualen Affliktion von narzisstischer
Persönlichkeitsstörung in Kombination mit einer induzierten
wahnhaften Störung leiden, in der das Subjekt die auslösende oder
Primärursache ist.<„
„Bitte in Englisch!“ forderte Devin.
„Dr. Rottenheim spricht in seinem Bericht davon, dass das Opfer
einer narzisstischen Persönlichkeitsstörung, in unserem Fall ein
jahrelang nicht in Aktion getretener Mörder, davon überzeugt ist,
dass seine Taten auf einer höheren Ebene anzusiedeln sind. Er
verdient Liebe und Verehrung, einfach weil es ihn gibt. Er weist
alle Merkmale eines psychisch Gestörten auf, ist besessen von den
ihm zustehenden Ansprüchen und hält sich selbst für etwas
Besonderes oder sogar für Gott. Ein Mörder, der an einer
induzierten wahnhaften Störung leidet, kann andere davon
überzeugen, dass seine Störung vollkommen logisch und natürlich
ist. Daher das Wort >induziert<. Er ist die Hauptursache, der
Veranlasster der Täuschung der anderen.“
„Er hat Evandro Arujo oder Alec Hardiman überzeugt, vielleicht auch
beide, dass Töten gut ist“, erklärte Angie.
„So sieht es aus.“
„Und inwiefern stimmt dieses Täterprofil mit Gault oder Glynn
überein?“ fragte ich weiter.
„Gault hat Sie an Diandra Warren verwiesen. Glynn hat Sie auf Alec
Hardiman gebracht. Gutwillig betrachtet, würde man davon ausgehen,
dass keiner der beiden etwas mit den Morden zu tun haben kann, weil
er zu helfen versucht hat. Aber denken wir daran, was Dolquist
gesagt hat: Dieser Mensch hat eine Beziehung zu Ihnen. Mr. Kenzie.
Er fordert Sie heraus, ihn zu fangen.“
„Also könnte Gault oder Glynn Arujos unbekannter Partner sein?“
„Ich halte alles für möglich, Mr. Kenzie.“
Die Novembersonne kämpfte aussichtslos gegen die Vorankriechenden,
schiefergrauen dicken Wolkenschichten. Im Sonnenlicht selbst war es
so warm, dass man die Jacke ausziehen konnte. Im Schatten suchte
man nach einem Parka.
„In diesem Brief“, sagte Bolton, als wir den Schulhof überquerten,
„schrieb der Verfasser, einige der Opfer seien >würdig<,
andere kämen >ganz schuldlos in Verruf.“
„Was soll das heißen?“ fragte ich.
„Das ist ein Zitat von Shakespeare. In Othello sagt Jago: >So
mancher kommt ganz schuldlos in Verruf<. Viele Wissenschaftler
behaupten, das sei der Moment, in dem Jago von einem Kriminellen
mit Motiv zu einem Wesen wird, das von dem besessen ist, was
Coleridge >unmotivierte Bösartigkeit nennt.“
„Ich komme nicht mehr mit“, meldete sich Angie.
„Jago hatte einen Grund, sich an Othello zu rächen, so unerheblich
der auch war. Er hatte aber keinen Grund, Desdemonas Tod zu wollen
oder eine Woche vor dem Angriff der Türken die venezianische Armee
ihrer Offiziere zu berauben. Man argumentiert hier, er sei so
beeindruckt gewesen von seiner eigenen Fähigkeit zum Bösen, dass es
als Motiv reichte, um jemanden umzubringen. Am Anfang des Dramas
gelobt er, die Schuldigen zu vernichten, Othello und Cassius, aber
im vierten Akt ist er bereit, jeden zu vernichten, >so mancher
kommt ganz schuldlos in Verrufs nur weil er dazu in der Lage ist.
Einfach weil es ihm Spaß macht.“
„Und dieser Mörder…“
„Könnte so ähnlich beschaffen sein. Er tötet Kara Rider und Jason
Warren, weil sie die Kinder seiner Feinde sind.“
„Aber Stimovich und Stokes?“ fragte Angie.
„Da gibt es keine Motive“, antwortete er. „Das macht er zum Spaß.“
Ein leichter Nieselregen besprenkelte unser Haar und unsere
Jacken.
Bolton griff in seine Aktentasche und reichte Angie ein Blatt
Papier. „Was ist das?“
Bolton blinzelte. „Eine Kopie vom Brief des Killers.“
Angie hielt den Brief mit ausgestreckter Hand von sich, als sei
sein Inhalt ansteckend.
„Sie wollten doch mitmachen“, bemerkte Bolton. „Stimmt’s?“
„Ja.“
Er zeigte auf den Brief. „Jetzt ist es soweit!“ Er zuckte mit den
Achseln und ging zurück Richtung Schulhof.