12
Eine weitere Woche lang folgten wir Jason auf
dem Campus und durch die Stadt, die Treppen hinauf zu Türen von
Klassenräumen und Schlafzimmern, brachten ihn abends ins Bett und
standen am nächsten Morgen mit ihm auf. Es war nicht gerade
spannend. Sicher, Jason führte ein ziemlich bewegtes Leben, aber
wenn man das Muster einmal erkannt hatte – Aufstehen, Essen,
Unterricht, Sex, Lernen, Essen, Trinken, Sex, Schlafen – wurde es
ziemlich schnell langweilig. Ich bin sicher, wäre ich beauftragt
worden, den Marquis de Sade in seiner Blütezeit zu beschatten, wäre
es auch sehr schnell öde geworden, wenn er zum dritten oder vierten
Mal aus dem Schädel eines Kindes trank oder einen flotten Fünfer
arrangierte.
Angie hatte recht gehabt: Das Leben von Jason und seinen
Partnerinnen hatte etwas Einsames und Trauriges. Sie schaukelten
durch ihr Leben wie Plastikenten in der Badewanne, fielen
gelegentlich um und warteten so lange, bis sie wieder jemand
aufrichtete, dann schaukelten sie weiter wie zuvor. Es gab keine
Auseinandersetzungen, aber auch keine echte Leidenschaft. Es ging
so ein Gefühl von der ganzen Gruppe aus, eine gewisse hilflose
Unverbindlichkeit, eine leichte Selbstironie, eine Distanz zum
eigenen Leben. Und es schlich ihm niemand hinterher. Da waren wir
uns sicher. In den zehn Tagen hatten wir niemanden gesehen. Und wir
hatten gut aufgepasst. Am elften Tag brach Jason aus seinem Trott
aus.
Ich hatte keine Informationen über den Mord an Kara Rider erhalten,
da Devin und Oscar nicht zurückriefen; der Zeitung entnahm ich
lediglich, dass die Ermittlungen in einer Sackgasse steckten. Das
Beschatten von Jason lenkte mich anfangs ab, doch inzwischen war
ich so gelangweilt, dass ich zu grübeln begann, aber auch das
brachte mich nicht weiter. Kara war tot. Ich hätte es nicht
verhindern können. Ihr Mörder war unbekannt und noch auf freiem
Fuß. Richie Colgan hatte sich noch nicht wieder bei mir gemeldet,
er hatte lediglich eine Nachricht hinterlassen, dass er am Ball
bleibe. Hätte ich die Zeit gehabt, hätte ich mich selbst drum
gekümmert, aber ich musste ja Jason und seine Horde hilfloser
Groupies beobachten, die einem herrlichen, leuchtenden Indian
summer den Rücken kehrten, um die meiste Zeit schwarz gekleidet
oder nackt in engen, verrauchten Räumen zu verbringen.
„Es tut sich was!“ meldete Angie. Wir verließen die Gasse, in der
wir gestanden hatten, und folgten Jason durch Brookline Village. Er
schaute sich in einer Buchhandlung um, kaufte bei Egghead Software
eine Packung mit 3,5-Zoll-Disketten und schlenderte dann ins
Coolidge-Corner-Kino.
„Mal was Neues“, sagte Angie.
Seit zehn Tagen war Jason nicht wesentlich von seinem Tagesablauf
abgewichen. Jetzt ging er ins Kino. Alleine.
Ich blickte zur Anzeigetafel hoch und dachte, dass ich wohl so oder
so mit ihm hineingehen musste. Hoffentlich war es kein Film von
Bergman. Oder, noch schlimmer, ein Film von Fassbinder. Das
Coolidge Corner tendiert zu esoterischen Autorenfilmen und zu
Klassikern, was in Zeiten stereotyper Hollywood-Produktionen eine
tolle Sache ist. Dafür gibt es aber auch Wochen, in denen im
Coolidge nichts anderes als Sozialdramen aus Finnland oder Kroatien
zu sehen sind oder aus einem anderen frostigen Land mit
Weltuntergangsstimmung, dessen blasse, ausgemergelte Bewohner
nichts anderes zu tun haben, als den ganzen Tag herumzusitzen und
über Kierkegaard, Nietzsche und ihr Elend zu philosophieren,
anstatt sich vorzunehmen, an einen Ort mit mehr Licht und
optimistischeren Menschen zu ziehen.
Heute jedoch wurde die ungekürzte Fassung von Coppolas Apocalypse
Now gezeigt. Angie hasst den Film ebenso sehr, wie ich ihn liebe.
Sie behauptet, wenn sie ihn sehe, fühle sie sich immer, als habe
sie zuviel Valium genommen und säße in einem Sumpf fest. Sie blieb
draußen, und ich ging hinein. In einem solchen Moment ist es von
Vorteil, eine Kollegin zu haben, denn es ist sehr riskant, jemandem
in ein Kino zu folgen, das nur zur Hälfte besetzt ist. Wenn die
Zielperson mitten im Film beschließt zu gehen, kann man ihr kaum
folgen, ohne sich verdächtig zu machen. Aber der Kollege kann sie
ohne weiteres draußen übernehmen.
Das Kino war fast leer. Jason setzte sich weit vorne in die Mitte,
ich saß zehn Reihen weiter hinten auf der linken Seite. Ein paar
Reihen vor mir rechts befand sich ein Pärchen, und daneben machte
ein ständig mit den Augen blinzelndes Mädchen mit einem roten
Bandana im Haar Aufzeichnungen. Eine Filmstudentin.
Als Robert Duvall gerade am Strand eine Grillparty veranstaltete,
kam ein Mann herein und setzte sich in die Reihe hinter Jason,
ungefähr fünf Sessel links von ihm. Als die Kampfhubschrauber zur
Musik von Wagner am frühen
Morgen das Dorf mit Geschützfeuer und Sprengstoff in Schutt und
Asche legten, beleuchtete das Licht von der Leinwand das Gesicht
des Mannes, so dass ich ihn betrachten konnte: glatte Wangen mit
einem akkurat gepflegten Ziegenbärtchen, dunkles, gelocktes Haar
und ein Stecker im Ohr.
Als Martin Sheen und Sam Bottoms in der Szene an der Do-LongBrücke
durch einen belagerten Schützengraben krochen und nach ihrem
Bataillonsführer suchten, setzte sich der Mann vier Sessel weiter
nach links.
„He, Soldat“, rief Sheen einem verängstigten schwarzen Jungen im
Mörserfeuer zu, während Leuchtbomben den Himmel erhellten. „Welcher
Offizier hat hier das Kommando?“
„Nicht Sie?“ schrie der Junge zurück, und der Typ mit dem
Ziegenbärtchen beugte sich vor, während Jason den Kopf in den
Nacken legte.
Kurz sagte er etwas zu Jason, doch als Martin Sheen den
Schützengraben verließ und zum Boot zurückkehrte, trat der Typ in
den Gang und kam auf mich zu. Er war ungefähr von meiner Statur und
Größe, um die Dreißig und sah gut aus. Er trug einen dunklen,
sportlichen Mantel und ein weites grünes, ärmelloses Shirt, dazu
verwaschene Jeans und Cowboy Stiefel. Als er meinen Blick bemerkte,
blinzelte er und sah auf seine Füße hinunter, die ihn aus dem Kino
trugen.
„Hier gibt’s keinen befehlshabenden Offizier“, erwiderte Sheen und
kletterte ins Boot, während Jason aufstand und das Kino verließ.
Ich wartete drei Minuten und erhob mich dann ebenfalls. Das
Patrouillenboot trieb unerbittlich auf Kurtz’ Lager zu. Ich sah
kurz auf der Toilette nach, um sicherzugehen, dass dort niemand
war, dann ging ich nach draußen.
Auf der Harvard Street blinzelte ich wegen der plötzlichen
Helligkeit und suchte dann alle Richtungen nach Angie, Jason oder
dem Typ mit dem Ziegenbart ab. Nichts.
Ich ging die Beacon Street hoch, doch da war auch niemand. Angie
und ich hatten vor langer Zeit beschlossen, dass derjenige ohne
Auto nach Hause zurückkehrt, der bei einer Verfolgung abgehängt
wird. So summte ich „O Sole mio“, ergatterte ein Taxi und fuhr
damit zurück nach Hause.
Jason und der Typ mit dem Bart hatten sich zum Mittagessen im
Sunset Grill auf der Brighton Avenue getroffen. Angie fotografierte
sie von der anderen Straßenseite aus, und auf einem Bild waren die
Hände beider Männer unter dem Tisch verschwunden. Mein erster
Verdacht war ein Drogendeal.
Die beiden teilten sich die Rechnung, und als sie draußen auf der
Brighton standen, streiften sich kurz ihre Hände, und beide
lächelten scheu. So wie in dem Moment hatte ich Jason in den
letzten Tagen nicht lächeln sehen. Normalerweise hatte er ein
anzügliches, träges Grinsen im Gesicht, das vor Selbstbewusstsein
strotzte. Doch jetzt lächelte er aufrichtig, fast schon
schwärmerisch, als hätte er keine Zeit gehabt, darüber
nachzudenken, bevor es auf seinen Wangen erschien.
Angie hielt das Lächeln und die Berührung der Hände auf einem Foto
fest. Da änderte sich mein Verdacht.
Der Typ mit dem Bart ging die Brighton Street hoch bis zum Union
Square, und Jason lief zurück nach Bryce.
Abends breiteten Angie und ich die Fotos auf ihrem Küchentisch aus
und versuchten zu entscheiden, was wir Diandra Warren sagen
sollten.
Es handelte sich um einen der Punkte, wo meine Verantwortung
gegenüber dem Klienten nicht klar definiert war. Ich hatte keinen
Grund zur Annahme, dass Jasons offenbare Bisexualität etwas mit den
Drohanrufen zu tun haben könnte, die Diandra erhalten hatte. Auf
der anderen Seite bestand aber auch kein Anlass, ihr nichts von
diesem Treffen zu sagen. Ich wusste jedoch nicht, ob Jason sich ihr
gegenüber geoutet hatte, und wollte das nicht unbedingt selbst
übernehmen, zudem er auf diesem einen Foto zum ersten Mal, seitdem
wir ihn beschatteten, wirklich glücklich aussah.
„Okay“, begann Angie, „ich glaub, ich hab’s.“
Sie reichte mir das Bild von Jason und seinem Freund, auf dem beide
aßen und sich nicht ins Gesicht sahen, sondern sich aufs Essen
konzentrierten.
„Er hat sich mit ihm getroffen und mit ihm zu Mittag gegessen. Das
ist alles“, legte Angie mir dar. „Wir zeigen Diandra dieses Foto
und die anderen mit Jason und seinen Frauen, fragen sie, ob sie den
Typen kennt, aber solange sie nicht damit anfängt, erzählen wir
nichts von einer möglichen Liebesgeschichte.“
„Hört sich gut an.“
„Nein“, entschied Diandra, „den Mann habe ich noch nie gesehen. Wer
ist das?“
Ich schüttelte den Kopf. „Weiß ich nicht. Eric?“ Eric betrachtete
das Foto lange und schüttelte schließlich den Kopf. „Nein.“ Er gab
es mir zurück. „Nein“, wiederholte er.
Angie erklärte: „Dr. Warren, das ist alles, was wir nach zehn Tagen
haben. Jason begrenzt seine sozialen Kontakte auf wenige Menschen,
und das waren bis heute ausschließlich Frauen.“ Diandra nickte und
tippte dann mit dem Finger auf den Kopf von Jasons Freund. „Sind
die beiden ein Paar?“
Ich sah Angie an. Sie sah mich an.
„Kommen Sie, Mr. Kenzie, glauben Sie, ich weiß nichts von Jasons
sexueller Orientierung? Er ist mein Sohn.“
„Also spricht er darüber?“ wollte ich wissen.
„Nein. Er hat sich noch nie mit mir darüber unterhalten, aber ich
wusste es schon, würde ich sagen, als er noch ein kleiner Junge
war. Und ich habe ihn wissen lassen, dass ich absolut kein Problem
habe mit Homosexualität, Bisexualität oder wie man es auch immer
nennen mag, ohne jedoch von ihm selbst zu sprechen. Aber ich
glaube, dass ihm seine Sexualität irgendwie peinlich ist und ihn
verwirrt.“ Wieder tippte sie auf das Foto. „Ist dieser Mann
gefährlich?“
„Wir haben keinen Grund zu dieser Annahme.“
Sie zündete sich eine Zigarette an, lehnte sich dann auf der Couch
zurück und blickte mich an. „Und? Wo sind wir jetzt?“
„Haben Sie keine weiteren Drohungen oder Fotos per Post
erhalten?“
„Nein.“
„Dann sehe ich es so, dass wir momentan nur Ihr Geld verschwenden,
Dr. Warren.“
Sie warf Eric einen Blick zu, der zuckte mit den Schultern. Dann
wandte sie sich wieder an uns. „Am Wochenende fahre ich mit Jason
zu unserem Haus in New Hampshire. Wenn wir zurückkommen, können Sie
Jason dann noch ein paar Tage beobachten, damit ich beruhigt sein
kann?“
„Ja, sicher.“
Am Freitag morgen rief Angie an, um mir zu sagen, dass Diandra
Jason abgeholt habe und mit ihm nach New Hampshire gefahren sei.
Ich hatte ihn den ganzen Donnerstag Abend beobachtet, es war jedoch
nichts passiert. Keine Drohungen, keine verdächtig aussehenden
Gestalten vor seiner Zimmertür, kein Stelldichein mit dem
Spitzbart.
Wir hatten uns den Arsch aufgerissen, um den Typen zu
identifizieren, aber es war fast, als sei er aus dem Nichts
gekommen und wieder dahin zurückgekehrt. Er war kein Student oder
Dozent in Bryce. Er arbeitete in keinem der Etablissements, die im
Umkreis von einer Meile vom Campus lagen. Wir hatten sogar einen
Freund von Angie, einen Kriminalbeamten, gebeten, das Gesicht in
den Computer zu füttern und mit der Verbrecherkartei abzugleichen.
Da er Jason ganz offen getroffen hatte und ihr Treffen mehr als
freundschaftlich gewesen war, gab es keinen Grund zu der Annahme,
er könne gefährlich sein, deshalb beschlossen wir, die Augen
offenzuhalten, falls er wieder auftauchen sollte. Vielleicht kam er
aus einem anderen Staat. Vielleicht war er eine Fata
Morgana.
„Also haben wir das Wochenende frei“, freute sich Angie. „Was hast
du vor?“
„Soviel Zeit wie möglich1 mit Grace verbringen.“
„Du bist ihr verfallen!“
„Stimmt. Was ist mit dir?“
„Sag ich dir nicht!“
„Och, bitte!“
„Nein!“
„Dann pass gut auf!“ ermahnte ich sie.
„Ja, gut.“
Ich machte meine Wohnung sauber. Das dauerte nicht lange, weil ich
nie lange genug da bin, um sie in Unordnung zu bringen. Als ich auf
den Zettel mit dem „HI!“ und die Aufkleber stieß, spürte ich ein
warmes Prickeln im Nacken,
doch schüttelte ich es ab und warf alles in ein Fach meines
Fernsehschranks.
Erneut rief ich Richie Colgan an, erreichte aber nur seine Mailbox
und hinterließ eine Nachricht. Dann blieb nichts mehr zu tun, als
zu duschen, mich zu rasieren und zu Grace zu gehen. Oh, happy day!
Als ich die Treppe runterging, hörte ich unten in der Eingangshalle
zwei Menschen schwer atmen. Ich kam um die Ecke und sah Stanis und
Liva, die sich wie zwei Boxer zur zwanzigsten Runde
gegenüberstanden.
Stanis hatte ein paar Kilo Weizenmehl auf dem Kopf, und der
schmierige Hausmantel seiner Frau war über und über mit frischem
Ketchup und dampfendem Rührei bedeckt. Die beiden starrten sich an,
die Adern am Hals waren hervorgetreten, Livas linkes Augenlid
zuckte wie verrückt, während sie mit der rechten Hand eine
Apfelsine knetete.
Ich kannte sie gut genug, um keine Fragen zu stellen.
Auf Zehenspitzen schlich ich an ihnen vorbei, öffnete die erste Tür
und machte sie hinter mir wieder zu, als ich den schmalen Flur
betrat. Dort stieß ich auf einen weißen Briefumschlag. Das schwarze
Gummi unter der Eingangstür sitzt so fest an der Schwelle, dass es
leichter wäre, ein Nilpferd in eine Klarinette zu quetschen, als
ein Blatt Papier unter der Eingangstür
hindurchzuschieben.
Ich sah mir den Umschlag an. Keine Risse oder Falten.
In die Mitte waren die Worte „patrick kenzie“ getippt.
Ich ging zurück in die Eingangshalle, wo Stanis und Liva noch immer
in der gleichen Position verharrten wie zuvor: Das Essen dampfte
auf ihrer Kleidung, und Liva hielt die Apfelsine
umklammert.
„Stanis“, sprach ich ihn an, „haben Sie heute jemandem die Tür
geöffnet? Ungefähr in der letzten halben Stunde?“
Er schüttelte den Kopf, wobei etwas Mehl auf den Boden rieselte,
wandte den Blick aber nicht von seiner Frau ab. „Die Tür
aufgemacht? Einem Fremden? Ich bin nicht verrückt!“ Er wies auf
Liva. „Sie ist verrückt.“
„Ich werd’s dir zeigen“, rief sie und warf ihm die Orange an den
Kopf.
Ich hörte ihn aufschreien, machte mich davon und schloss die Tür
hinter mir.
Dann stand ich im Flur, den Briefumschlag in der Hand, und fühlte
im Magen eine zähe Angst aufsteigen, konnte jedoch den Grund nicht
genau benennen.
Warum? flüsterte eine Stimme.
Dieser Umschlag. Dieser Zettel mit dem „HI!“. Diese Aufkleber.
Nichts davon bedroht mich, flüsterte die Stimme. Zumindest nicht
offenkundig. Nur Wörter und Papier.
Ich öffnete die Tür und trat auf die Veranda. Gegenüber von mir auf
dem Schulhof war gerade Pause. Nonnen jagten Kinder in die Ecke des
Hofes, wo man Himmel und Hölle spielen konnte, und ich sah, wie ein
Junge ein Mädchen an den Haaren zog, das mich an Mae erinnerte, so
wie sie mit leicht seitlich geneigtem Kopf dastand, als verrate ihr
die Luft ein Geheimnis. Als sie der Junge an den Haaren zog, schrie
sie auf und schlug sich an den Hinterkopf, als würde sie von
Fledermäusen angegriffen, und der Junge rannte zu seinen Freunden
hinüber. Das Mädchen hörte auf zu kreischen und sah sich um,
verwirrt und allein, und ich wollte hinüberlaufen, den kleinen
Dreckskerl fangen und ihn an den Haaren ziehen, damit er sich
genauso verwirrt und einsam fühlte, selbst wenn ich in seinem Alter
selbst wohl hundertmal dasselbe getan hatte wie er.
Ich nehme an, mein Gefühl hatte etwas mit dem Älterwerden zu tun,
mit der Einsicht, dass Gewalt gegen Kinder nur sehr selten
unwillkürlich geschieht, und dem Wissen,
dass jeder noch so kleine Schmerz das Reine und unendlich
Zerbrechliche in einem Kind verletzt und zerstört.
Vielleicht hatte ich aber auch einfach nur schlechte Laune. Ich sah
den Briefumschlag in meiner Hand an, und etwas sagte mir, dass ich
nicht allzu viel Lust hatte, seinen Inhalt zu lesen. Ich tat es
trotzdem. Als ich ihn gelesen harte, betrachtete ich die
Eingangstür aus eindrucksvoll schwerem Holz mit dem Glaseinsatz,
daneben die Alarmdrähte und die drei in der späten Morgensonne
glänzenden Messingschlösser. Sie schienen mich zu verhöhnen. Auf
dem Zettel stand:
patrick, vergissnichthochzusehen.