14

Grace und ich waren noch nicht ganz soweit, dass ich so lange bei ihr blieb, bis Mae uns morgens zusammen im Bett fand. Der Moment stand kurz bevor, doch keiner von uns nahm ihn auf die leichte Schulter. Mae wusste, dass ich ein „besonderer Freund“ ihrer Mutter war, aber bis wir sicher waren, dass dieser besondere Freund längerfristig dasein würde, brauchte sie nicht wissen, was besondere Freunde so miteinander anstellten. Ich hatte zu viele Bekannte, die ohne Vater, dafür aber mit einem beachtlichen Arsenal an Onkeln im Bett ihrer Mutter aufwuchsen, und ich hatte gesehen, wie sehr es sie verstört hatte.
Deshalb ging ich kurz nach Mitternacht. Als ich den Schlüssel unten in die Eingangstür steckte, hörte ich mein Telefon in der Ferne klingeln. Als ich oben ankam, sprach Richie Colgan auf den Anrufbeantworter:
„… namens Jamal Cooper wurde im September’73…“
„Ich bin’s, Rieh.“
„Patrick, lebst du also doch noch! Und dein Anrufbeantworter geht auch wieder.“
„Der war doch nicht kaputt.“
„Na, dann nimmt er halt nur keine Nachrichten vom schwarzen Mann entgegen.“
„Bist du nicht durchgekommen?“
„Ich habe in der letzten Woche bestimmt ein halbes Dutzend Mal angerufen, aber es hat immer nur geklingelt und geklingelt.“ „Und mein Büro?“
„Das gleiche.“
Ich hob meinen Anrufbeantworter hoch und guckte drunter. Nicht, dass ich nach irgend etwas Besonderem suchte, es schien mir einfach die übliche Reaktion zu sein. Ich prüfte die Buchsen und Eingänge; nichts – alles war richtig eingesteckt. Und ich hatte die ganze Woche über Nachrichten erhalten.
„Ich weiß nicht, was ich sagen soll, Rieh. Scheint alles in Ordnung zu sein. Vielleicht hast du dich verwählt.“
„Ist ja egal. Ich habe die Informationen, die du brauchst. Ach ja, wie geht es Grace?“
Richie und seine Frau Sherilynn hatten mich im Sommer mit Grace verkuppelt. Sherilynn vertrat schon seit zehn Jahren die Theorie, dass ich nur eine starke Frau brauchte, um mein Leben auf die Reihe zu bekommen, eine Frau, die mir regelmäßig die Hölle heiß macht und mir nichts durchgehen lässt. Neunmal hatte sie sich geirrt, aber beim zehnten Versuch schien es zu klappen, so wie es aussah.
„Sag Sheri, ich bin hin und weg.“
Er lachte. „Das wird ihr gefallen. Aber wirklich! Haha, als du Grace das erste Mal angesehen hast, wusste ich, dass du erledigt warst. Fix und fertig.“
„Hmm“, brummte ich.
„Gut“, sagte er zu sich selbst und gluckste. „Okay, willst du deine Infos?“
„Der Stift liegt schon bereit.“
„Hauptsache, es steht auch ein Kasten Heineken bereit.“ „Versteht sich von selbst.“
„In den letzten fünfundzwanzig Jahren“, begann Richie, „hat es in dieser Stadt eine Kreuzigung gegeben. Der Junge hieß Jamal Cooper. Schwarz, einundzwanzig Jahre alt. Er wurde im September ‘73 gefunden, war auf die Bohlen im Keller einer Absteige am alten Scollay Square genagelt.“
„Kurze Biographie von Cooper?“
„Er war ein Junkie. Heroin. Vorstrafenregister so lang wie ein Footballfeld. Das meiste war Kleinscheiß: Bagatelldelikte, Anstiftung zur Prostitution, aber auch ein paar Einbrüche, dafür hat er zwei Jahre in der ehemaligen Strafvollzugsanstalt Dedham bekommen. Aber trotzdem, Cooper war nur ein kleiner Fisch. Wäre er nicht gekreuzigt worden, hätte gar keiner mitbekommen, dass er tot war. Und selbst hier haben sich die Bullen am Anfang nicht gerade den Arsch aufgerissen.“
„Wer war der ermittelnde Beamte?“
„Zwei Leute. Ein Inspector Brett Hardiman und, lass mal sehen, ja, ein Detective Sergeant Gerald Glynn.“
Ich wurde aufmerksam. „Haben sie jemanden eingebuchtet?“ „Tja, da wird es interessant. Ich musste ein bisschen wühlen, aber es gab einen Tag lang ein bisschen Aufregung in den Zeitungen, als ein Typ namens Alec Hardiman vernommen wurde.“ „Warte mal, hast du nicht gerade…?“
„Ja. Alec Hardiman war der Sohn des leitenden ermittelnden Beamten Brett Hardiman.“
„Was passierte?“
„Der junge Hardiman wurde entlastet.“
„Wurde gemauschelt?“
„Sieht nicht so aus. Hatten wohl nicht viel in der Hand gegen ihn. Er kannte Jamal Cooper flüchtig, glaube ich, und das war’s auch schon. Aber…“
„Was?“
Mehrere Telefone bei Richie klingelten gleichzeitig, und er sagte: „Warte mal.“
„Nein, Rieh. Nein, ich…“
Er ließ mich in der Leitung hängen, das Schwein. Ich wartete. Als er wieder dranging, war seine Stimme wieder die des gestressten Lokalredakteurs. „Patrick, ichmussschlussmachen.“
„Nein.“
„Doch. Hier, dieser Alec Hardiman wurde ‘75 wegen eines anderen Mordes verurteilt. Er sitzt lebenslänglich in Walpole. Mehr hab ich nicht. Mussschlussmachen.“
Er legte auf, und ich blickte auf die Namen auf meinem Blatt herunter: Jamal Cooper. Brett Hardiman. Alec Hardiman. Gerald Glynn. Ich zog in Erwägung, Angie anzurufen, doch war es schon spät; Jason die ganze Woche beim Nichtstun zu beobachten hatte sie bestimmt geschafft.
Eine Weile starrte ich das Telefon an, dann nahm ich meine Jacke und verließ die Wohnung.
Die Jacke brauchte ich gar nicht. Es war ein Uhr nachts, und die Feuchtigkeit legte sich auf meine Haut, bis sie die Poren verklebte und sich die Haut eklig schmierig anfühlte.
Oktober. Nun gut.
Gerry Glynn spülte Gläser an der Theke, als ich den Black Emerald betrat. Die Kneipe war leer, die drei Fernseher liefen, doch der Ton war abgestellt, aus der Jukebox drangen leise die Pogues mit ihrer Version von „Dirty Old Town“, die Barhocker standen auf der Theke, der Boden war gewischt, die bernsteinfarbenen Aschenbecher glänzten.
Gerry blickte ins Waschbecken. „Sorry“, sagte er, ohne hochzublicken. „Geschlossen.“
Auf dem Billardtisch im hinteren Bereich hob Patton den Kopf und sah mich an. Ich konnte seinen Kopf im Zigarettenqualm, der dort noch immer wie eine Wolke hing, nicht deutlich erkennen, doch wusste ich, was er sagen würde, wenn er sprechen könnte: „Hast du nicht gehört? Wir haben geschlossen.“
„Hi, Gerry.“
„Patrick“, sagte er verwirrt, aber erfreut. „Was führt dich her?“ Er trocknete sich die Hände ab und streckte mir seine Rechte entgegen. Ich schüttelte sie, er drückte meine fest und sah mir in die Augen, eine Gewohnheit der älteren Generation, die mich an meinen Vater erinnerte.
„Ich müsste dir ein, zwei Fragen stellen, Gerry, wenn du ein bisschen Zeit hast.“
Er legte den Kopf schief, und die sonst immer freundlichen Augen verloren ihre Sanftheit. Dann klärten sie sich wieder auf, er hievte seinen schweren Körper auf den Kühlschrank hinter sich und hob die Hände. „Klar. Willst du ein Bier oder so?“
„Ich will dir keine Umstände machen, Gerry.“ Ich ließ mich auf einem Barhocker gegenüber von ihm nieder.
Er öffnete die Tür des Kühlschranks unter ihm. Sein dicker Arm tauchte hinein, Eiswürfel klapperten. „Kein Problem. Weiß nur nicht, was ich jetzt in der Hand halte.“
Ich lächelte. „Solange es kein Busch ist.“
Er lachte. „Nein. Es ist ein…“ Er zog den in Eiswasser gebadeten Arm heraus, auf der Unterseite seines Armes hatten sich weiße Flecken gebildet. „… Lite.“
Ich grinste, als er es mir reichte. „Wie Sex im Segelboot“, zitierte ich.
Er lachte laut auf und sprudelte die Pointe hervor: „Verdammt nah am Wasser. Den Spruch find ich klasse.“ Er griff hinter sich und nahm, ohne hinzusehen, eine Flasche Wodka Stolichnaya aus dem Regal. Dann goss er sich einen Schluck in ein hohes Schnapsglas, stellte die Flasche zurück und hob sein Glas.
„Prost!“
„Prost!“ erwiderte ich und trank einen Schluck Lite. Das Bier schmeckte wirklich wie Wasser, aber immer noch besser als Busch. Klar, selbst ein Glas Benzin ist besser als ein Busch.
„Also, was wolltest du wissen?“ fragte Gerry. Er klopfte auf seinen dicken Bauch. „Neidisch auf meinen Körper?“
Ich lächelte. „Ein bisschen.“ Dann nahm ich noch einen Schluck Bier. „Gerry, was kannst du mir über einen Mann namens Alec Hardiman erzählen?“
Er hielt das Schnapsglas gegen das Neonlicht, so dass sich die klare Flüssigkeit im schimmernden Licht auflöste. Er drehte das Glas in der Hand und betrachtete es.
„Also“, sagte er ruhig, den Blick aufs Glas gerichtet, „woher könntest du wohl den Namen kennen, Patrick?“
„Er wurde mir genannt.“
„Du hast nach Mordfällen gesucht, bei denen ähnlich vorgegangen wurde wie bei Kara Rider.“ Gerry stellte das Glas ab und sah mich an. Er schien weder wütend noch gereizt zu sein, seine Stimme war gelassen und monoton, doch sein gedrungener Körper strahlte jetzt eine Ruhe aus, die noch eine Minute vorher nicht dagewesen war. „Auf deine Anregung hin, Gerry.“
In der Jukebox hinter mir hatten die Pogues den Waterboys mit „Dont’t Bang the Drum“ Platz gemacht. Die Fernseher über Gerrys Kopf waren auf drei verschiedene Kanäle eingestellt. Einer zeigte Football nach australischen Regeln,
einer offenbar eine Folge Kojak, und der dritte ließ zum Sendeschluss die glorreiche Fahne Amerikas im Wind wehen. Gerry hatte sich nicht bewegt, hatte nicht einmal geblinzelt, seit er das Schnapsglas neben sich gestellt hatte. Ich konnte ihn kaum atmen hören, so flach blies er die Luft durch die Nase. Er beobachtete mich gar nicht, sondern starrte durch mich hindurch, als sähe er etwas hinter meinem Kopf.
Dann griff er wieder nach der Flasche Wodka hinter sich und schenkte sich noch einen ein. „Also ist Alec wieder da und verfolgt uns alle wieder.“ Er kicherte. „Ach, ich hätte es wissen müssen.“ Patton sprang vom Billardtisch und trabte in die Mitte der Kneipe, er sah mich an, als säße ich auf seinem Platz, dann sprang er vor mir auf die Theke und legte sich hin, die Pfoten über den Augen. „Er möchte, dass du ihn streichelst“, erklärte Gerry.
„Nein, will er nicht.“ Pattons Brustkorb hob und senkte sich. „Er mag dich, Patrick. Na los!“
Einen Augenblick fühlte ich mich wie Mae, als ich zögernd die Hand nach dem wunderschönen schwarz-braunen Fell ausstreckte. Unter dem Fell ertastete ich harte, angespannte Muskeln, dann hob Patton den Kopf, winselte und leckte mir über die andere Hand, drückte seine kühle Nase dankbar dagegen.
„Ein riesiger Schmusekater, was?“ flüsterte ich.
„Leider“, antwortete Gerry. „Aber erzähl’s nicht weiter.“
„Gerry“, begann ich erneut, während Pattons dickes Fell unter meiner Hand hin und her wogte, „könnte dieser Alec Hardiman Kara Rider…?“
„Umgebracht haben?“ Er schüttelte den Kopf. „Nein, nein. Das wäre selbst für Alec ein bisschen zu schwer. Alec Hardiman ist seit 1975 im Knast, und solange ich lebe, kommt er nicht mehr heraus. Wahrscheinlich auch nicht, solange du lebst.“
Ich trank mein Bier aus, und Gerry, ganz Kneipier, hatte die Hand schon wieder in den Eiswürfeln, bevor ich die Flasche auf der Theke abgestellt hatte. Diesmal holte er ein Harpoon hervor, drehte die Flasche in der fleischigen Hand und öffnete sie mit dem an der Seitenwand des Kühlschranks angebrachten Flaschenöffner. Ich nahm das Bier entgegen. Etwas Schaum lief an meiner Hand herunter, und Patton leckte ihn ab.
Gerry lehnte den Kopf gegen das Regal hinter ihm. „Kanntest du einen Jungen namens Cal Morrison?“
„Nicht richtig“, erwiderte ich und schluckte, denn immer wenn ich den Namen Cal Morrison hörte, lief mir ein Schauer den Rücken herunter. „Er war ein paar Jahre älter als ich.“
Gerry nickte. „Aber du weißt, was mit ihm passiert ist.“
„Er wurde auf dem Blake Yard erstochen.“
Gerry starrte mich einen Moment lang an, dann seufzte er. „Wie alt warst du damals?“
„Neun oder zehn.“
Er griff nach einem weiteren Schnapsglas, goss einen Fingerbreit Stolichnaya ein und stellte es vor mir auf die Theke. „Trink!“ Ich erinnerte mich an Bubbas Wodka und an seine Wirkung auf meinen Gleichgewichtssinn. Anders als mein Vater und seine Brüder hatte ich wohl ein entscheidendes Gen der Kenzies nicht mitbekommen, denn ich konnte Hochprozentiges nie einfach so wegkippen.
Ich lächelte Gerry schwach an. „Doswidanja.“
Er hob sein Glas, und wir tranken, aber mir stiegen die Tränen in die Augen. Ich musste blinzeln.
„Cal Morrison“, sagte er, „wurde nicht erstochen, Patrick.“ Er seufzte wieder, es war ein tiefes, melancholisches Seufzen. „Cal Morrison wurde gekreuzigt.“