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„Wie geht’s euch, Jungs?“ rief Gerry.
Phil hatte die Hand in seine Jacke geschoben, doch ich warf ihm
einen Blick zu, damit er wusste, dass er im Auto nicht die Waffe
ziehen sollte.
„Gut, Gerry!“ antwortete ich.
Ich blickte ihn durch den Rückspiegel an, er schaute freundlich und
leicht belustigt drein.
Mit seinen dicken Pranken klopfte er mir auf den Rücken. „Hab ich
dich erschreckt?“
„Ja“, erwiderte ich.
Er kicherte. „Tut mir leid. Hab euch beiden bloß hier sitzen sehen
und mich gefragt, warum sitzen Patrick und Phil nachts um halb eins
bei strömendem Regen in einem Auto auf der Dorchester
Ave?“
„Wir unterhalten uns ein bisschen, Gerry“, erklärte Phil, doch
wirkte sein lockerer Ton gezwungen.
„Oh“, sagte Gerry. „Na ja. Klasse Zeitpunkt dafür.“
Ich betrachtete seine nassen Unterarme.
„Willst du es mit mir verderben?“ fragte ich.
Er kniff die Augen zusammen, wie ich im Rückspiegel sehen konnte,
und blickte dann auf seine Arme.
„Oje!“ Er ließ mich los. „Ups. Hab vergessen, dass ich ganz nass
bin.“
„Hast du die Kneipe heute gar nicht aufgemacht?“ erkundigte sich
Phil.
„Hm? Nein, nein.“ Er legte die Arme auf die Rückenlehnen zwischen
unseren Kopfstützen und beugte sich vor. „Im Moment ist die Kneipe
geschlossen. Ich hab mir gedacht, bei so einem Wetter, wer geht da
schon vor die Tür?“
„Schade“, gab Phil zurück und stieß ein verunglücktes Lachen aus.
„Hätte jetzt gut einen Drink gebrauchen können.“
Ich blickte aufs Lenkrad, damit niemand meinen wütenden
Gesichtsausdruck sah. Mensch, Phil, dachte ich, wie kannst du nur
so einen Spruch bringen?
„Für Freunde ist die Kneipe immer auf“, erwiderte Gerry fröhlich
und schlug uns auf die Schulter. „Überhaupt kein
Problem.“
„Ich weiß nicht, Gerry“, zögerte ich, „es wird ein bisschen spät
für mich und…“
„Einen aufs Haus“, schlug Gerry vor. „Ich geh einen aus, Freunde.
Ein bisschen spät“, wiederholte er und stieß Phil an. „Was ist mit
dem Mann los?“
„Hm…“
„Los, kommt! Nur ein Glas, los!“
Er sprang aus dem Wagen und öffnete meine Fahrertür, bevor ich mich
umgedreht hatte.
Phil warf mir einen verzweifelten Blick zu, der Regen fiel mir
durch die geöffnete Autotür auf Gesicht und Nacken.
Gerry beugte sich vor: „Los, kommt, Jungens! Soll ich hier draußen
ersaufen?“
Als wir zur Kneipentür liefen, behielt Gerry die Hände in der
Bauchtasche seines Thermo-Kapuzensweaters. Um die Tür
aufzuschließen, zog er nur die rechte Hand heraus. Im Dunkeln und
bei dem Wind und Regen konnte ich nicht erkennen, ob er eine Waffe
dabeihatte, aber ich hatte nicht vor, meine zu ziehen und hier auf
der Strasse zusammen mit einem Nervenbündel neben mir eine
Festnahme zu versuchen.
Gerry öffnete die Tür und bedeutete uns mit einer Handbewegung, an
ihm vorbei hineinzugehen.
Ein schwaches gelbes Licht beleuchtete die Theke, der Rest der
Kneipe lag im Dunkeln. Der Billardraum im hinteren Teil war
stockduster.
„Wo ist denn dein Hund?“ fragte ich.
„Patton? Oben in der Wohnung, träumt süße Hundeträume.“ Gerry
schloss wieder zu, Phil und ich drehten uns nach ihm um. Er
lächelte. „Ich will nicht, dass irgendwelche Stammgäste
vorbeikommen und sich ärgern, weil ich eben noch
zuhatte.“
„Will er nicht“, wiederholte Phil und lachte wie ein Verrückter.
Gerry sah ihn verwundert an und warf mir einen Blick zu. Ich zuckte
mit den Schultern. „Wir beide haben schon seit ein paar Tagen nicht
mehr ordentlich geschlafen, Gerry.“
Sofort nahm sein Gesicht einen weichen Ausdruck tiefster Teilnahme
an.
„Das hätte ich fast vergessen. O Gott! Angie wurde letzte Nacht
angeschossen, stimmt’s?“
„Ja“, bestätigte Phil, doch klang seine Stimme zu forsch. Gerry
ging hinter die Theke. „Mensch, das tut mir wirklich leid. Aber sie
kommt durch, oder?“
„Es geht ihr gut“, entgegnete ich.
„Bleibt sitzen, Jungs“, sagte Gerry und wühlte im Kühlschrank
herum. Mit dem Rücken zu uns fuhr er fort. „Angie, na ja, die ist
irgendwie… was Besonderes. Versteht ihr?“
Wir setzten uns, und er wandte sich wieder um und stellte zwei
Flaschen Bud vor uns. Ich zog meine Jacke aus und versuchte, mich
normal zu geben, schüttelte die Regentropfen von den
Händen.
„Ja“, bestätigte ich. „Das ist sie.“
Mit gerunzelter Stirn blickte er auf seine Hände, während er die
Flaschen öffnete. „Sie ist… na ja, hin und wieder gibt es jemanden
hier, der einzigartig ist. Voller Leben und Schwung. So ist Angie.
Ich würde mein Leben dafür geben, dass so einem Mädchen nichts
passiert.“
Phil umfasste die Bierflasche so fest, dass ich befürchtete, sie
würde gleich zerbrechen.
„Danke, Gerry“, erwiderte ich. „Aber sie kommt wieder in Ordnung.“
„Na, darauf müssen wir einen trinken!“ Er goss sich einen Whiskey
ein und hob das Glas. „Auf Angies Gesundheit!“
Wir stießen an und tranken.
„Aber du bist in Ordnung, Patrick?“ erkundigte er sich. „Ich hab
gehört, du warst mittendrin in der Schiesserei.“
„Alles klar, Gerry.“
„Dafür können wir Gott danken, Patrick! Wirklich.“
Plötzlich brach hinter uns Musik los. Phil zuckte auf seinem Stuhl
zusammen. „Scheiße!“
Gerry lächelte und betätigte einen Schalter unter der Theke.
Daraufhin nahm die Lautstärke umgehend ab, und der Lärm wurde zu
einem Lied, das ich kannte.
„Let It Bleed“. Absolut perfekt.
„Wenn ich durch die Tür komme, springt automatisch zwei Minuten
später die Jukebox an“, erklärte Gerry. „Sorry, dass ich euch
erschreckt habe.“
„Schon in Ordnung“, sagte ich.
„Alles klar, Phil?“
„Ha?“ Phils Augen waren groß wie Untertassen. „Ja. Klar. Warum?“
Gerry zuckte mit den Schultern. „Du wirkst ein bisschen
schreckhaft.“
„Nein.“ Phil schüttelte heftig den Kopf. „Ich nicht. Nee!“ Er
lachte uns beide breit an. „Mir geht’s super, Gerry!“
„Okay.“ Gerry lachte zurück und warf mir noch einen fragenden Blick
zu.
Dieser Mann bringt Menschen um, flüsterte eine Stimme. Aus Spaß.
Dutzende von Menschen.
„Gibt’s was Neues?“ wollte Gerry von mir wissen.
Er tötet, flüsterte die Stimme.
„Ha?“ fragte ich.
„Gibt’s was Neues?“ wiederholte Gerry. „Ich meine, außer dass du
letzte Nacht in eine Schiesserei gekommen bist und so.“ Er nimmt
die Menschen auseinander, während sie noch leben. Und
schreien.
„Nein“, brachte ich heraus. „Abgesehen davon ist eigentlich alles
wie gehabt, Gerry.“
Er kicherte. „Schon ein Wunder, dass du es so weit gebracht hast,
Patrick, bei deinem Lebenswandel!“
Sie flehen ihn an. Und er lacht. Sie betteln ihn an. Und er lacht.
Dieser Mann, Patrick. Dieser Mann mit dem offenen Gesicht und den
freundlichen Augen.
„Das Glück der Iren!“ erwiderte ich.
„Davon kann ich ein Liedchen singen!“ Er hob das Whiskeyglas,
blinzelte kurz und stürzte es herunter. „Phil“, sagte er dann,
während er sich ein neues Glas eingoss, „und was machst du momentan
so?“
„Was?“ schreckte Phil hoch. „Wie meinst du das?“
Phil hockte auf seinem Stuhl wie eine Rakete kurz vor dem Start,
als hätte der Countdown schon begonnen, und er würde jeden Moment
durch die Decke katapultiert werden.
„Deine Arbeit“, erklärte Gerry. „Arbeitest du noch für die Galvin
Brothers?“
Phil blinzelte. „Nein, nein. Ich, ahm, bin jetzt selbständiger
Bauunternehmer, Gerry.“
„Gut zu tun?“
Dieser Mann hat Jason Warren aufgeschnitten und seine Gliedmassen
amputiert, hat ihm den Kopf abgetrennt.
„Was?“ Phil nuckelte an seiner Flasche. „Ach ja, nicht schlecht.“
„Ihr seid heute nicht besonders gesprächig, Jungens“, bemerkte
Gerry.
„Ha-ha“, brachte Phil schwach hervor.
Dieser Mann hat Kara Rider an den Händen auf dem gefrorenen Boden
festgenagelt,
Er schnippte vor meinem Gesicht mit den Fingern.
„Bist du noch da, Patrick?“
Ich lächelte. „Gib mir noch ein Bier, Gerry!“
„Ja, klar.“ Er ließ mich nicht aus den Augen, beobachtete mich
neugierig, während er hinter sich in den Kühlschrank
griff.
Nach „Let It Bleed“ war jetzt „Midnight Rambler“ zu hören; die
Mundharmonika klang wie ein Lachen aus dem Grab.
Gerry reichte mir ein Bier. Für einen Moment berührte er meine Hand
an der eisigen Flasche. Ich musste mich zusammenreißen, um nicht
zurückzuzucken.
„Das FBI hat mich verhört“, erzählte er. „Wusstet ihr das?“ Ich
nickte.
„Und was die mich gefragt haben! Mein Gott! Klar, die tun nur ihre
Pflicht, schon klar, aber das sind echt erbärmliche Wichser,
ehrlich!“ Er warf Phil ein Lächeln zu, aber es passte nicht zu
seinen Worten, und plötzlich bemerkte ich einen Geruch, der schon
seit unserem Eintreten dagewesen war. Es war ein schweißiger
Moschusgeruch, vermischt mit dem Gestank dampfender, verfilzter
Haare. Er kam nicht von Gerry, Phil oder mir, denn es war kein
menschlicher Geruch. Es war der Geruch eines Tieres.
Ich warf einen Blick auf die Uhr hinter Gerry. Vor genau fünfzehn
Minuten hatte ich mit Devin gesprochen.
Wo blieb er nur?
Ich spürte noch immer die Stelle, an der er mich eben mit der Hand
gestreift hatte. Die Haut brannte.
Diese Hand hat Peter Stimovichs Augen herausgerissen. Phil saß nach
rechts gelehnt da. Er beäugte etwas an der Ecke der Theke. Gerry
sah uns beide an, und plötzlich löste sich sein Lächeln
auf.
Ich spürte, dass das Schweigen schwer auf uns lastete und uns
verdächtig machte, wusste aber nicht, wie ich es brechen sollte.
Wieder stieg mir der Geruch in die Nase; er war unangenehm warm,
und ich wusste, dass er von rechts kam, aus dem stockdunklen
Billardraum.
„Midnight Rambler“ war vorbei, und einen Moment lang erfüllte
Stille die Kneipe.
Ich konnte ein schwaches, kaum wahrnehmbares rhythmisches Geräusch
aus dem Billardraum hören. Das Geräusch von Atem. Patton war
irgendwo da hinten im Dunkeln und beobachtete uns. Sag was,
Patrick. Sprich oder stirb.
„Und, Gerry“, fragte ich mit trockenem Mund, fast erstickte ich an
den Worten, „was gibt’s Neues bei dir?“
„Nicht viel“, gab er zurück, doch jetzt war der Small talk vorbei.
Gerry beobachtete Phil nun ganz unverhohlen.
„Abgesehen davon, dass du vom FBI verhört worden bist und so?“
grinste ich in dem Bemühen, wieder ungezwungen zu klingen.
„Abgesehen davon, ja“, gab Gerry mit dem Blick auf Phil zurück.
Nach „Midnight Rambler“ war jetzt „The Long Black Veil“ zu hören.
Noch ein Lied über den Tod. Klasse.
Phil starrte etwas an der Ecke der Theke auf dem Boden an, das ich
nicht sehen konnte.
„Phil“, fragte Gerry, „ist da was Interessantes?“
Phil blickte rasch hoch, die Augen fast geschlossen, als sei er
völlig verblüfft.
„Nein, Gerry.“ Er lächelte und streckte die Hände aus. „Ich gucke
nur die Schale mit dem Hundefutter da an, und weißt du, das Futter
da drin ist feucht, als hätte Patton gerade was gefressen. Ist er
wirklich oben?“
Es sollte wohl beiläufig klingen. Aber es war das genaue Gegenteil.
Die Freundlichkeit wich aus Gerrys Augen und machte einer eiskalten
Schwärze Platz. Er sah mich an, als sei ich eine Wanze unter dem
Mikroskop.
Jetzt war jede Tarnung dahin.
Ich griff nach meiner Waffe, während draußen Autos mit einem
Quietschen zum Halten kamen. Gerry fasste unter die Theke. Phil war
noch immer wie erstarrt, als Gerry rief: „Jago!“
Das war nicht nur der Name einer Person bei Shakespeare, sondern
ein Angriffsbefehl.
Meine Pistole hielt ich in der Hand, bevor Patton aus
dem Dunkel hervorsprang. Dann sah ich das kalte Glitzern einer
Rasierklinge in Gerrys Hand.
Phil stöhnte: „O nein! Nein.“ Er duckte sich.
Patton sprang über Phils Schulter auf mich zu.
Gerrys Arm schnellte hervor, und ich wich ihm aus, doch schnitt er
mir mit der Klinge in die Wange, und Patton prallte wie eine
Abrissbirne gegen mich, so dass ich vom Stuhl fiel.
„Nein, Gerry! Nein!“ schrie Phil mit der Hand hinterm Gürtel, als
suche er nach seiner Pistole.
Die Zähne des Hundes rutschten an meiner Stirn ab, er riss den Kopf
zurück, öffnete die Schnauze und stürzte sich auf mein rechtes
Auge.
Jemand schrie.
Ich griff Patton mit der freien Hand ins Nackenfell. Er gab ein
komisches Geräusch von sich, eine wilde Mischung aus Geschrei und
Gebell. Ich würgte ihn, doch entglitt mir der Muskel. Meine Hand
rutschte am schweißigen Hundefell ab, und er stürzte sich wieder
auf mein Gesicht.
Ich drückte ihm die Pistole gegen den Brustkorb, er trat mir mit
den Hinterbeinen gegen den Arm, und als ich zweimal abdrückte,
schlug sein Kopf nach hinten, als habe jemand seinen Namen gerufen.
Dann zuckte er und schauderte. Seiner Schnauze entrang sich ein
tiefer, zischender Ton. In meinen Händen wurde er weich, dann
rutschte er rechts herunter zwischen die Barhocker.
Ich setzte mich auf und feuerte sechs Schüsse auf den Spiegel und
die Flaschen hinter der Theke, doch Gerry war nicht mehr da. Phil
lag neben seinem Barhocker auf dem Boden und griff sich an den
Hals.
Während ich zu ihm hinüberkroch, wurde die Eingangstür aus den
Angeln gehoben, und ich hörte Devin schreien:
„Nicht schießen! Nicht schießen! Der Mann ist in Ordnung! Kenzie,
nimm die Waffe runter!“
Ich legte sie neben Phil auf den Boden.
Aus einer Wunde rechts am Hals kam das meiste Blut, dort hatte
Gerry ihm den ersten Schnitt verpasst, bevor er ihm die Kehle
einmal quer durchgeschnitten hatte.
„Einen Krankenwagen!“ schrie ich. „Wir brauchen einen
Krankenwagen!“
Verwirrt blickte Phil zu mir auf, während ihm das helle Blut über
Finger und Hand lief.
Devin reichte mir ein Handtuch, das ich auf Phils Hals drückte. Mit
beiden Händen hielt ich es fest.
„Scheiße!“ stöhnte er.
„Nicht reden, Phil!“
„Scheiße!“ sagte er nochmals.
In seinen Augen stand die Niederlage geschrieben, so als hätte er
sie von Geburt an erwartet, als käme man schon als Gewinner oder
Verlierer auf die Welt, als hätte er immer schon gewusst, dass er
eines Nachts mit durchschnittener Kehle auf dem Boden einer Kneipe
liegen würde, der schale Geschmack von Bier auf den Gummifliesen
ringsherum.
Er versuchte zu lächeln, und Tränen rannen ihm aus den Augen,
liefen über die Schläfen und verloren sich in seinem dunklen Haar.
„Phil“, beruhigte ich ihn, „du schaffst das.“
„Ich weiß“, erwiderte er.
Und starb.