38

„Wie geht’s euch, Jungs?“ rief Gerry.
Phil hatte die Hand in seine Jacke geschoben, doch ich warf ihm einen Blick zu, damit er wusste, dass er im Auto nicht die Waffe ziehen sollte.
„Gut, Gerry!“ antwortete ich.
Ich blickte ihn durch den Rückspiegel an, er schaute freundlich und leicht belustigt drein.
Mit seinen dicken Pranken klopfte er mir auf den Rücken. „Hab ich dich erschreckt?“
„Ja“, erwiderte ich.
Er kicherte. „Tut mir leid. Hab euch beiden bloß hier sitzen sehen und mich gefragt, warum sitzen Patrick und Phil nachts um halb eins bei strömendem Regen in einem Auto auf der Dorchester Ave?“
„Wir unterhalten uns ein bisschen, Gerry“, erklärte Phil, doch wirkte sein lockerer Ton gezwungen.
„Oh“, sagte Gerry. „Na ja. Klasse Zeitpunkt dafür.“
Ich betrachtete seine nassen Unterarme.
„Willst du es mit mir verderben?“ fragte ich.
Er kniff die Augen zusammen, wie ich im Rückspiegel sehen konnte, und blickte dann auf seine Arme.
„Oje!“ Er ließ mich los. „Ups. Hab vergessen, dass ich ganz nass bin.“
„Hast du die Kneipe heute gar nicht aufgemacht?“ erkundigte sich Phil.
„Hm? Nein, nein.“ Er legte die Arme auf die Rückenlehnen zwischen unseren Kopfstützen und beugte sich vor. „Im Moment ist die Kneipe geschlossen. Ich hab mir gedacht, bei so einem Wetter, wer geht da schon vor die Tür?“
„Schade“, gab Phil zurück und stieß ein verunglücktes Lachen aus. „Hätte jetzt gut einen Drink gebrauchen können.“
Ich blickte aufs Lenkrad, damit niemand meinen wütenden Gesichtsausdruck sah. Mensch, Phil, dachte ich, wie kannst du nur so einen Spruch bringen?
„Für Freunde ist die Kneipe immer auf“, erwiderte Gerry fröhlich und schlug uns auf die Schulter. „Überhaupt kein Problem.“
„Ich weiß nicht, Gerry“, zögerte ich, „es wird ein bisschen spät für mich und…“
„Einen aufs Haus“, schlug Gerry vor. „Ich geh einen aus, Freunde. Ein bisschen spät“, wiederholte er und stieß Phil an. „Was ist mit dem Mann los?“
„Hm…“
„Los, kommt! Nur ein Glas, los!“
Er sprang aus dem Wagen und öffnete meine Fahrertür, bevor ich mich umgedreht hatte.
Phil warf mir einen verzweifelten Blick zu, der Regen fiel mir durch die geöffnete Autotür auf Gesicht und Nacken.
Gerry beugte sich vor: „Los, kommt, Jungens! Soll ich hier draußen ersaufen?“
Als wir zur Kneipentür liefen, behielt Gerry die Hände in der Bauchtasche seines Thermo-Kapuzensweaters. Um die Tür aufzuschließen, zog er nur die rechte Hand heraus. Im Dunkeln und bei dem Wind und Regen konnte ich nicht erkennen, ob er eine Waffe dabeihatte, aber ich hatte nicht vor, meine zu ziehen und hier auf der Strasse zusammen mit einem Nervenbündel neben mir eine Festnahme zu versuchen.
Gerry öffnete die Tür und bedeutete uns mit einer Handbewegung, an ihm vorbei hineinzugehen.
Ein schwaches gelbes Licht beleuchtete die Theke, der Rest der Kneipe lag im Dunkeln. Der Billardraum im hinteren Teil war stockduster.
„Wo ist denn dein Hund?“ fragte ich.
„Patton? Oben in der Wohnung, träumt süße Hundeträume.“ Gerry schloss wieder zu, Phil und ich drehten uns nach ihm um. Er lächelte. „Ich will nicht, dass irgendwelche Stammgäste vorbeikommen und sich ärgern, weil ich eben noch zuhatte.“
„Will er nicht“, wiederholte Phil und lachte wie ein Verrückter. Gerry sah ihn verwundert an und warf mir einen Blick zu. Ich zuckte mit den Schultern. „Wir beide haben schon seit ein paar Tagen nicht mehr ordentlich geschlafen, Gerry.“
Sofort nahm sein Gesicht einen weichen Ausdruck tiefster Teilnahme an.
„Das hätte ich fast vergessen. O Gott! Angie wurde letzte Nacht angeschossen, stimmt’s?“
„Ja“, bestätigte Phil, doch klang seine Stimme zu forsch. Gerry ging hinter die Theke. „Mensch, das tut mir wirklich leid. Aber sie kommt durch, oder?“
„Es geht ihr gut“, entgegnete ich.
„Bleibt sitzen, Jungs“, sagte Gerry und wühlte im Kühlschrank herum. Mit dem Rücken zu uns fuhr er fort. „Angie, na ja, die ist irgendwie… was Besonderes. Versteht ihr?“
Wir setzten uns, und er wandte sich wieder um und stellte zwei Flaschen Bud vor uns. Ich zog meine Jacke aus und versuchte, mich normal zu geben, schüttelte die Regentropfen von den Händen.
„Ja“, bestätigte ich. „Das ist sie.“
Mit gerunzelter Stirn blickte er auf seine Hände, während er die Flaschen öffnete. „Sie ist… na ja, hin und wieder gibt es jemanden hier, der einzigartig ist. Voller Leben und Schwung. So ist Angie. Ich würde mein Leben dafür geben, dass so einem Mädchen nichts passiert.“
Phil umfasste die Bierflasche so fest, dass ich befürchtete, sie würde gleich zerbrechen.
„Danke, Gerry“, erwiderte ich. „Aber sie kommt wieder in Ordnung.“ „Na, darauf müssen wir einen trinken!“ Er goss sich einen Whiskey ein und hob das Glas. „Auf Angies Gesundheit!“
Wir stießen an und tranken.
„Aber du bist in Ordnung, Patrick?“ erkundigte er sich. „Ich hab gehört, du warst mittendrin in der Schiesserei.“
„Alles klar, Gerry.“
„Dafür können wir Gott danken, Patrick! Wirklich.“
Plötzlich brach hinter uns Musik los. Phil zuckte auf seinem Stuhl zusammen. „Scheiße!“
Gerry lächelte und betätigte einen Schalter unter der Theke. Daraufhin nahm die Lautstärke umgehend ab, und der Lärm wurde zu einem Lied, das ich kannte.
„Let It Bleed“. Absolut perfekt.
„Wenn ich durch die Tür komme, springt automatisch zwei Minuten später die Jukebox an“, erklärte Gerry. „Sorry, dass ich euch erschreckt habe.“
„Schon in Ordnung“, sagte ich.
„Alles klar, Phil?“
„Ha?“ Phils Augen waren groß wie Untertassen. „Ja. Klar. Warum?“ Gerry zuckte mit den Schultern. „Du wirkst ein bisschen schreckhaft.“
„Nein.“ Phil schüttelte heftig den Kopf. „Ich nicht. Nee!“ Er lachte uns beide breit an. „Mir geht’s super, Gerry!“
„Okay.“ Gerry lachte zurück und warf mir noch einen fragenden Blick zu.
Dieser Mann bringt Menschen um, flüsterte eine Stimme. Aus Spaß. Dutzende von Menschen.
„Gibt’s was Neues?“ wollte Gerry von mir wissen.
Er tötet, flüsterte die Stimme.
„Ha?“ fragte ich.
„Gibt’s was Neues?“ wiederholte Gerry. „Ich meine, außer dass du letzte Nacht in eine Schiesserei gekommen bist und so.“ Er nimmt die Menschen auseinander, während sie noch leben. Und schreien.
„Nein“, brachte ich heraus. „Abgesehen davon ist eigentlich alles wie gehabt, Gerry.“
Er kicherte. „Schon ein Wunder, dass du es so weit gebracht hast, Patrick, bei deinem Lebenswandel!“
Sie flehen ihn an. Und er lacht. Sie betteln ihn an. Und er lacht. Dieser Mann, Patrick. Dieser Mann mit dem offenen Gesicht und den freundlichen Augen.
„Das Glück der Iren!“ erwiderte ich.
„Davon kann ich ein Liedchen singen!“ Er hob das Whiskeyglas, blinzelte kurz und stürzte es herunter. „Phil“, sagte er dann, während er sich ein neues Glas eingoss, „und was machst du momentan so?“
„Was?“ schreckte Phil hoch. „Wie meinst du das?“
Phil hockte auf seinem Stuhl wie eine Rakete kurz vor dem Start, als hätte der Countdown schon begonnen, und er würde jeden Moment durch die Decke katapultiert werden.
„Deine Arbeit“, erklärte Gerry. „Arbeitest du noch für die Galvin Brothers?“
Phil blinzelte. „Nein, nein. Ich, ahm, bin jetzt selbständiger Bauunternehmer, Gerry.“
„Gut zu tun?“
Dieser Mann hat Jason Warren aufgeschnitten und seine Gliedmassen amputiert, hat ihm den Kopf abgetrennt.
„Was?“ Phil nuckelte an seiner Flasche. „Ach ja, nicht schlecht.“ „Ihr seid heute nicht besonders gesprächig, Jungens“, bemerkte Gerry.
„Ha-ha“, brachte Phil schwach hervor.
Dieser Mann hat Kara Rider an den Händen auf dem gefrorenen Boden festgenagelt,
Er schnippte vor meinem Gesicht mit den Fingern.
„Bist du noch da, Patrick?“
Ich lächelte. „Gib mir noch ein Bier, Gerry!“
„Ja, klar.“ Er ließ mich nicht aus den Augen, beobachtete mich neugierig, während er hinter sich in den Kühlschrank griff.
Nach „Let It Bleed“ war jetzt „Midnight Rambler“ zu hören; die Mundharmonika klang wie ein Lachen aus dem Grab.
Gerry reichte mir ein Bier. Für einen Moment berührte er meine Hand an der eisigen Flasche. Ich musste mich zusammenreißen, um nicht zurückzuzucken.
„Das FBI hat mich verhört“, erzählte er. „Wusstet ihr das?“ Ich nickte.
„Und was die mich gefragt haben! Mein Gott! Klar, die tun nur ihre Pflicht, schon klar, aber das sind echt erbärmliche Wichser, ehrlich!“ Er warf Phil ein Lächeln zu, aber es passte nicht zu seinen Worten, und plötzlich bemerkte ich einen Geruch, der schon seit unserem Eintreten dagewesen war. Es war ein schweißiger Moschusgeruch, vermischt mit dem Gestank dampfender, verfilzter Haare. Er kam nicht von Gerry, Phil oder mir, denn es war kein menschlicher Geruch. Es war der Geruch eines Tieres.
Ich warf einen Blick auf die Uhr hinter Gerry. Vor genau fünfzehn Minuten hatte ich mit Devin gesprochen.
Wo blieb er nur?
Ich spürte noch immer die Stelle, an der er mich eben mit der Hand gestreift hatte. Die Haut brannte.
Diese Hand hat Peter Stimovichs Augen herausgerissen. Phil saß nach rechts gelehnt da. Er beäugte etwas an der Ecke der Theke. Gerry sah uns beide an, und plötzlich löste sich sein Lächeln auf.
Ich spürte, dass das Schweigen schwer auf uns lastete und uns verdächtig machte, wusste aber nicht, wie ich es brechen sollte. Wieder stieg mir der Geruch in die Nase; er war unangenehm warm, und ich wusste, dass er von rechts kam, aus dem stockdunklen Billardraum.
„Midnight Rambler“ war vorbei, und einen Moment lang erfüllte Stille die Kneipe.
Ich konnte ein schwaches, kaum wahrnehmbares rhythmisches Geräusch aus dem Billardraum hören. Das Geräusch von Atem. Patton war irgendwo da hinten im Dunkeln und beobachtete uns. Sag was, Patrick. Sprich oder stirb.
„Und, Gerry“, fragte ich mit trockenem Mund, fast erstickte ich an den Worten, „was gibt’s Neues bei dir?“
„Nicht viel“, gab er zurück, doch jetzt war der Small talk vorbei. Gerry beobachtete Phil nun ganz unverhohlen.
„Abgesehen davon, dass du vom FBI verhört worden bist und so?“ grinste ich in dem Bemühen, wieder ungezwungen zu klingen. „Abgesehen davon, ja“, gab Gerry mit dem Blick auf Phil zurück. Nach „Midnight Rambler“ war jetzt „The Long Black Veil“ zu hören. Noch ein Lied über den Tod. Klasse.
Phil starrte etwas an der Ecke der Theke auf dem Boden an, das ich nicht sehen konnte.
„Phil“, fragte Gerry, „ist da was Interessantes?“
Phil blickte rasch hoch, die Augen fast geschlossen, als sei er völlig verblüfft.
„Nein, Gerry.“ Er lächelte und streckte die Hände aus. „Ich gucke nur die Schale mit dem Hundefutter da an, und weißt du, das Futter da drin ist feucht, als hätte Patton gerade was gefressen. Ist er wirklich oben?“
Es sollte wohl beiläufig klingen. Aber es war das genaue Gegenteil. Die Freundlichkeit wich aus Gerrys Augen und machte einer eiskalten Schwärze Platz. Er sah mich an, als sei ich eine Wanze unter dem Mikroskop.
Jetzt war jede Tarnung dahin.
Ich griff nach meiner Waffe, während draußen Autos mit einem Quietschen zum Halten kamen. Gerry fasste unter die Theke. Phil war noch immer wie erstarrt, als Gerry rief: „Jago!“
Das war nicht nur der Name einer Person bei Shakespeare, sondern ein Angriffsbefehl.
Meine Pistole hielt ich in der Hand, bevor Patton aus
dem Dunkel hervorsprang. Dann sah ich das kalte Glitzern einer Rasierklinge in Gerrys Hand.
Phil stöhnte: „O nein! Nein.“ Er duckte sich.
Patton sprang über Phils Schulter auf mich zu.
Gerrys Arm schnellte hervor, und ich wich ihm aus, doch schnitt er mir mit der Klinge in die Wange, und Patton prallte wie eine Abrissbirne gegen mich, so dass ich vom Stuhl fiel.
„Nein, Gerry! Nein!“ schrie Phil mit der Hand hinterm Gürtel, als suche er nach seiner Pistole.
Die Zähne des Hundes rutschten an meiner Stirn ab, er riss den Kopf zurück, öffnete die Schnauze und stürzte sich auf mein rechtes Auge.
Jemand schrie.
Ich griff Patton mit der freien Hand ins Nackenfell. Er gab ein komisches Geräusch von sich, eine wilde Mischung aus Geschrei und Gebell. Ich würgte ihn, doch entglitt mir der Muskel. Meine Hand rutschte am schweißigen Hundefell ab, und er stürzte sich wieder auf mein Gesicht.
Ich drückte ihm die Pistole gegen den Brustkorb, er trat mir mit den Hinterbeinen gegen den Arm, und als ich zweimal abdrückte, schlug sein Kopf nach hinten, als habe jemand seinen Namen gerufen. Dann zuckte er und schauderte. Seiner Schnauze entrang sich ein tiefer, zischender Ton. In meinen Händen wurde er weich, dann rutschte er rechts herunter zwischen die Barhocker.
Ich setzte mich auf und feuerte sechs Schüsse auf den Spiegel und die Flaschen hinter der Theke, doch Gerry war nicht mehr da. Phil lag neben seinem Barhocker auf dem Boden und griff sich an den Hals.
Während ich zu ihm hinüberkroch, wurde die Eingangstür aus den Angeln gehoben, und ich hörte Devin schreien:
„Nicht schießen! Nicht schießen! Der Mann ist in Ordnung! Kenzie, nimm die Waffe runter!“
Ich legte sie neben Phil auf den Boden.
Aus einer Wunde rechts am Hals kam das meiste Blut, dort hatte Gerry ihm den ersten Schnitt verpasst, bevor er ihm die Kehle einmal quer durchgeschnitten hatte.
„Einen Krankenwagen!“ schrie ich. „Wir brauchen einen Krankenwagen!“
Verwirrt blickte Phil zu mir auf, während ihm das helle Blut über Finger und Hand lief.
Devin reichte mir ein Handtuch, das ich auf Phils Hals drückte. Mit beiden Händen hielt ich es fest.
„Scheiße!“ stöhnte er.
„Nicht reden, Phil!“
„Scheiße!“ sagte er nochmals.
In seinen Augen stand die Niederlage geschrieben, so als hätte er sie von Geburt an erwartet, als käme man schon als Gewinner oder Verlierer auf die Welt, als hätte er immer schon gewusst, dass er eines Nachts mit durchschnittener Kehle auf dem Boden einer Kneipe liegen würde, der schale Geschmack von Bier auf den Gummifliesen ringsherum.
Er versuchte zu lächeln, und Tränen rannen ihm aus den Augen, liefen über die Schläfen und verloren sich in seinem dunklen Haar. „Phil“, beruhigte ich ihn, „du schaffst das.“
„Ich weiß“, erwiderte er.
Und starb.