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„Vor dem Kerl soll ich Angst haben?“ Phil hatte
eines der Fotos in der Hand, die Angie von Evandro geschossen
hatte.
„Ja“, sagte Solton.
Phil schlug mit dem Bild gegen die Hand. „Tja, hab ich aber nicht.“
„Glaub mir, Phil“, mischte ich mich ein, „es war besser für dich.“
Er sah uns alle an, Bolton, Devin, Oscar, Angie und mich, die wir
uns in Angies winzige Küche gequetscht hatten, und schüttelte den
Kopf. Dann griff er in seine Jacke und zog eine Pistole hervor,
richtete sie auf den Boden und prüfte die Munition.
„O Gott, Phil“, rief Angie, „tu sie weg!“
„Haben Sie einen Waffenschein dafür?“ fragte Devin.
Phil hielt die Augen gesenkt, der Haaransatz war dunkel vor
Schweiß.
„Mr. Dimassi“, sprach ihn Bolton an, „die werden Sie nicht
brauchen. Wir passen auf Sie auf.“
„Klar“, sagte Phil ganz leise.
Wir beobachteten ihn, wie er einen kurzen Blick aufs Foto warf, das
er auf der Küchentheke hatte liegenlassen, dann auf die Waffe in
seiner Hand, und wie sich die Angst
langsam in ihm ausbreitete. Kurz schaute er Angie an, dann wieder
auf den Boden, und ich merkte, dass er versuchte, diese Geschichte
zu verarbeiten. Er war von der Arbeit nach Hause gekommen und vor
seiner Wohnung von Agenten des FBI abgefangen worden, die ihn
hierherbrachten, wo ihm mitgeteilt wurde, dass jemand, der ihm
völlig unbekannt war, es darauf abgesehen hatte, sein Herz
innerhalb der nächsten Woche in Rente zu schicken.
Schließlich blickte Phil auf; seine sonst olivbraune Haut hatte die
Farbe entrahmter Milch. Er bemerkte meinen Blick und warf mir sein
jungenhaftes Grinsen zu, dann schüttelte er den Kopf, als steckten
wir irgendwie zusammen in der Patsche.
„Gut“, sagte er schließlich, „vielleicht habe ich ein bisschen
Angst.“ Die Anspannung, die sich in der Küche aufgebaut hatte,
löste sich auf.
Phil legte die Waffe auf den Herd, hievte sich auf die Küchentheke
und sah Bolton mit belustigt hochgezogener Augenbraue an. „Also,
erzählen Sie mir von dem Kerl!“
Ein Beamter steckte den Kopf in die Küche. „Agent Bolton? Keine
Anzeichen, dass sich jemand an den Schlössern oder anderen Zugängen
zum Haus zu schaffen gemacht hat. Wir haben alles auf Wanzen
untersucht, alles sauber. Das Gras hinter dem Haus steht so hoch,
dass mindestens seit einem Monat niemand mehr hindurchgelaufen
ist.“
Bolton nickte, und der Beamte verschwand.
„Agent Bolton“, sprach Phil ihn an.
Bolton wandte sich ihm wieder zu.
„Könnten Sie mir bitte von diesem Kerl erzählen, der mich und meine
Frau umbringen will?“
„Ex, Phil“, verbesserte Angie, „Exfrau.“
„Sorry.“ Er sah Bolton an. „Mich und meine Exfrau also.“ Bolton
lehnte sich gegen den Kühlschrank, Devin und Oscar setzten sich
hin, und ich hievte mich auf die Küchentheke auf der anderen Seite
des Herdes.
„Dieser Mann heißt Evandro Arujo“, begann Bolton. „Er ist des
Mordes verdächtig in mindestens vier Fällen im letzten Monat. In
all diesen Fällen hat er den Opfern oder ihren Angehörigen vorher
Fotos geschickt.“
„Solche Fotos?“ Phil wies auf das mit Staub zur Abnahme von
Fingerabdrücken bedeckte Bild von ihm und Angie, das auf dem
Küchentisch lag.
„Ja.“
Es war vor kurzem gemacht worden. Im Vordergrund lag buntes Laub
auf dem Boden. Angie schien Phil etwas zu erzählen, sie hatte ihm
den Kopf zugewandt, er hörte mit gesenktem Kopf zu. Sie liefen über
den Grasstreifen, der die Commonwealth Avenue in zwei Hälften
teilt.
„Aber an dem Bild ist doch nichts Gefährliches.“
Bolton nickte. „Ausser dass es überhaupt gemacht und dann Ms.
Gennaro zugeschickt wurde. Haben Sie den Namen Evandro Arujo schon
mal gehört?“
„Nein.“
„Alec Hardiman?“
„Nee.“
„Peter Stimovich oder Pamela Stokes?“
Phil dachte darüber nach. „Hört sich irgendwie bekannt an.“ Bolton
schlug den Ordner in seiner Hand auf und reichte Phil Fotos von
Stimovich und Stokes.
Phils Gesicht wurde dunkelrot. „Wurde dieser Typ nicht letzte Woche
erstochen?“
„Viel schlimmer als erstochen“, erwiderte Bolton.
„In der Zeitung stand erstochen“, beharrte Phil. „Irgendwas über
den Exfreund seiner Freundin, das der verdächtigt wurde.“ Bolton
schüttelte den Kopf. „Die Geschichte haben wir lanciert. Stimovichs
Freundin hatte keinen Exfreund, der in Frage käme.“ Phil hielt das
Foto von Pamela Stokes hoch. „Ist sie auch tot?“ „Ja.“
Phil rieb sich die Augen. „Scheiße“, stieß er hervor, und es kam
ein wenig unsicher heraus, als werde es von einem Lachen oder
Schaudern begleitet.
„Haben Sie einen von den beiden schon mal gesehen?“ Phil schüttelte
den Kopf.
„Was ist mit Jason Warren?“
Phil sah Angie an. „Der Junge, den ihr beschattet habt? Der
umgebracht wurde?“
Sie nickte. Seitdem wir angekommen waren, hatte sie nicht viel
gesagt. Sie rauchte eine Zigarette nach der anderen und starrte aus
dem Fenster auf den Hinterhof.
„Kara Rider?“ fragte Bolton.
„Die hat das Arschloch auch umgebracht?“
Bolton nickte.
„O Gott.“ Phil rutschte vorsichtig von der Theke, als sei er nicht
sicher, ob der Boden ihn tragen würde. Mit steifen Schritten ging
er zu Angie hinüber, nahm sich eine von ihren Zigaretten, zündete
sie an und blickte dann Angie an.
Sie sah ihn an, als habe er gerade die Nachricht erhalten, dass er
an Krebs erkrankt sei, und als wüsste sie nicht, ob sie
zurückweichen solle, damit er um sich schlagen könne, oder ob sie
besser in seiner Nähe bliebe, um ihn aufzufangen, wenn er
zusammenbräche.
Er legte ihr die Hand auf die Wange, und sie schmiegte
sich daran; in dem Moment ging etwas sehr Intimes zwischen den
beiden vor, ein Tribut an die lange Zeit, die sie miteinander
verband.
„Mr. Dimassi, kannten Sie Kara Rider?“
Zärtlich und vorsichtig entzog Phil Angie seine Hand und ging zur
Theke zurück.
„Ich kenne sie von früher. Wir kennen sie alle.“
„Haben Sie sie in letzter Zeit gesehen?“
Er schüttelte den Kopf. „Seit drei, vier Jahren nicht mehr.“ Er
betrachtete seine Zigarette und aschte in die Spüle. „Warum gerade
wir, Mr. Bolton?“
„Wir wissen es nicht“, antwortete Bolton, und seine Stimme klang
ein klein wenig verzweifelt. „Wir jagen Arujo, morgen früh steht
sein Gesicht in jeder Zeitung in Neuengland. Er kann sich nicht
lange verstecken. Wir wissen immer noch nicht, warum er es gerade
auf diese Leute abgesehen hat, nur im Fall Warren haben wir ein
mögliches Motiv. Aber wenigstens wissen wir jetzt, auf wen er es
abgesehen hat, so dass wir Sie und Ms. Gennaro überwachen
können.“
Erdham kam in die Küche. „Die Umgebung von diesem Haus und Mr.
Dimassis Wohnung sind gesichert.“
Bolton nickte und rieb sich mit den fleischigen Händen das Gesicht.
„Okay, Mr. Dimassi“, sagte er. „Also: Vor zwanzig Jahren ermordete
ein Mann namens Alec Hardiman seinen Freund Charles Rugglestone in
einem Lagerhaus ungefähr sechs Häuserblocks von hier entfernt. Wir
glauben, dass Hardiman und Rugglestone für eine Serie von
Verbrechen verantwortlich waren, von denen das bekannteste die
Kreuzigung von Cal Morrison war.“
„An Cal kann ich mich erinnern“, bemerkte Phil.
„Kannten Sie ihn gut?“
„Nein. Er war ein paar Jahre älter als wir. Aber von einer
Kreuzigung war nie die Rede. Er wurde erstochen.“
Bolton schüttelte den Kopf. „Die Geschichte haben wir damals an die
Zeitungen weitergegeben, um Zeit zu gewinnen und solche Spinner
rauszuhalten, die behaupten, beide Kennedys und Jimmy Hoffa an
einem Tag umgebracht zu haben. Morrison wurde gekreuzigt. Sechs
Tage danach drehte Hardiman durch und richtete seinen Partner
Rugglestone zu, als wären zehn Verrückte am Werk gewesen. Niemand
weiß, warum, nur dass beide Männer zum Zeitpunkt des Verbrechens
große Mengen von Halluzinogenen und Alkohol im Blut hatten.
Hardiman sitzt lebenslänglich in Walpole und machte dort zwölf
Jahre später aus Arujo ein Monster. Als Arujo dort ankam, war er
ziemlich unschuldig, jetzt ist er das genaue Gegenteil.“
„Wenn du ihn siehst, nimm die Beine in die Hand, Phil!“ warnte
Devin.
Phil schluckte und nickte kurz.
„Arujo ist seit sechs Monaten draußen“, erklärte Bolton. „Wir sind
der Meinung, dass Hardiman draußen eine Kontaktperson hat, einen
zweiten Mörder, der entweder Arujos Mordlust anstachelt oder
umgekehrt. Wir sind uns da noch nicht absolut sicher, aber das
scheint die Richtung zu sein, aus irgendeinem Grund weisen uns
Hardiman, Arujo und dieser unbekannte Dritte immer wieder in eine
Richtung: auf diesen Stadtteil. Und sie weisen auf bestimmte
Menschen: auf Mr. Kenzie, Diandra Warren, Stan Timpson, Kevin
Hurlihy und Jack Rouse, aber wir wissen nicht, warum.“
„Und die anderen Opfer, Stimovich und Stokes, welche Beziehung
haben die zu dieser Gegend?“
„Wir nehmen an, dass das einfach Zufälle sind. Spaßmorde sozusagen,
für die es kein weiteres Motiv gibt als den Mord als solchen.“ „Und
warum sind Angie und ich auf der Liste?“
Bolton zuckte mit den Schultern. „Könnte eine Finte sein. Wissen
wir nicht. Vielleicht wollen sie Ms. Gennaro einfach Angst
einjagen, weil sie auf der Seite der Verfolger steht. Aber egal,
wer Arujos Partner ist, beide wollten von Anfang an, dass Mr.
Kenzie und Ms. Gennaro mit dabei sind. Kara Rider bekam nur deshalb
ihre Rolle. Und vielleicht“, Bolton sah mich an, „soll Mr. Kenzie
gezwungen werden, die Entscheidung zu treffen, von der Hardiman
sprach.“ Alle sahen mich an.
„Hardiman meinte, ich würde gezwungen, mich irgendwie zu
entscheiden. Er sagte: >Nicht jeder, den du liebst, kann
leben.< Vielleicht muss ich mich entscheiden, ob ich Phil oder
Angie das Leben retten soll.“
Phil schüttelte den Kopf. „Aber jeder, der uns kennt, weiß doch,
dass wir seit mehr als zehn Jahren nichts mehr miteinander zu tun
haben, Patrick.“
Ich nickte.
„Früher aber schon?“ erkundigte sich Bolton.
„Wir waren wie Brüder“, erwiderte Phil, und ich versuchte, in
seiner Stimme Verbitterung oder Selbstmitleid zu entdecken, doch
schien er es still und traurig hinzunehmen.
„Wie lange?“ fragte Bolton.
„Vom Kindergarten bis wir so um die Zwanzig waren. Oder?“ Ich
zuckte mit den Schultern. „Ja, so ungefähr.“
Ich warf Angie einen Blick zu, doch die sah zu Boden.
Bolton sagte: „Hardiman behauptete, er würde Sie kennen, Mr.
Kenzie.“
„Ich habe den Mann nie gesehen.“
„Oder Sie wissen es nicht mehr.“
„An das Gesicht würde ich mich erinnern“, entgegnete ich. „Wenn Sie
es als Erwachsener sähen, sicher. Aber als Kind?“ Er reichte Phil
zwei Fotos von Hardiman: eins von 1974 und ein aktuelles.
Phil betrachtete sie, und ich merkte, dass er Hardiman unbedingt
erkennen wollte, damit das hier einen Sinn ergab, damit er eine
Erklärung dafür hatte, warum dieser Mann ihn töten wollte. Endlich
schloss er die Augen, atmete laut aus und schüttelte den Kopf. „Den
Kerl hab ich noch nie gesehen.“
„Bestimmt nicht?“
„Ganz bestimmt.“ Er gab die Fotos zurück.
„Tja, das ist gar nicht gut“, sagte Bolton, „denn er ist jetzt ein
Teil Ihres Lebens.“
Um acht Uhr wurde Phil von einem Beamten des FBI nach Hause
gebracht; Angie, Devin, Oscar und ich gingen zu mir nach Hause,
damit ich meine Sachen für die Nacht zusammenpacken konnte. Bolton
wollte, dass Angie einsam und verletzlich wirkte, aber wir konnten
ihn überzeugen, dass wir uns so normal wie möglich geben sollten,
wenn Evandro oder sein Partner uns beobachtete. Und mit Devin und
Oscar trieben wir uns mindestens einmal im Monat herum, obwohl wir
dabei normalerweise nicht nüchtern blieben. Ich bestand darauf, bei
Angie zu übernachten, egal ob Bolton sich deswegen anpisste oder
nicht.
Tatsächlich gefiel ihm die Idee. „Ich dachte sowieso von Anfang an,
sie beide hätten was miteinander, also wird Evandro das wohl auch
annehmen.“
„Schweinische Gedanken!“ schimpfte Angie, worauf er mit den
Schultern zuckte.
Bei mir zu Hause warteten die anderen in der Küche, während ich
Klamotten aus dem Trockner zog und in eine Sporttasche stopfte. Vor
meinem Fenster sah ich Lyle Dimmick Feierabend machen, er wischte
sich die Farbe von den Händen und stellte den Pinsel in eine Dose
Nitroverdünner.
„Und? Wie ist so euer Verhältnis zu den FBI-Leuten?“ fragte ich
Devin.
„Wird täglich schlechter“, antwortete er. „Was glaubst du, warum
wir heute nachmittag nicht bei Alec Hardiman dabeisein durften?“
„Also seid ihr dazu degradiert worden, auf uns aufzupassen?“ fragte
Angie.
„Eigentlich“ erwiderte Oscar, „haben wir ja ausdrücklich drum
gebeten. Bin ganz gespannt darauf, wie ihr beiden auf kleinstem
Raum klarkommt.“
Er guckte Devin an, und beide lachten.
Devin fand ein Stofftier, das Mae in der Küche vergessen hatte,
einen Frosch, und hob es auf. „Deins?“
„Maes.“
„Klar.“ Er hielt es sich vors Gesicht und schnitt Grimassen.
„Vielleicht wollt ihr zwei dies Kerlchen hier behalten“, schlug er
vor, „als kleinen Ersatz, wenn ihr voneinander genug
habt.
„Wir haben schon zusammen gewohnt“, grollte Angie.
„Stimmt“, bestätigte Devin, „zwei Wochen lang. Aber da hattest du
gerade deinen Mann verlassen, Angie, und damals seid ihr euch ganz
schön aus dem Weg gegangen, wenn ich mich recht erinnere. Patrick
ist praktisch ins Baseballstadion gezogen, und du warst nachts
immer unterwegs, hast die Nightclubs am Kenmore Square
abgeklappert. Jetzt müsst ihr zusammenbleiben, solange die
Ermittlungen dauern. Das können Monate werden, sogar Jahre.“ Er
wandte sich dem Stofffrosch zu: „Was hältst du davon?“ Ich blickte
aus dem Fenster; Devin und Oscar kicherten, und Angie kochte vor
Wut. Lyle kletterte vom Gerüst, Radio und Kühltasche hielt er
seltsam verdreht in einer Hand, aus seiner Hosentasche lugte die
Flasche Jack Daniels hervor.
Irgendwas störte mich an ihm. Ich hatte ihn noch nie nach fünf Uhr
arbeiten sehen, und jetzt war es halb neun. Außerdem hatte er mir
heute morgen erzählt, dass er Zahnschmerzen habe…
„Hast du keine Chips da?“ fragte Oscar.
Angie stand auf und ging zu den Schränken über dem Herd. „Bei
Patrick darf man sich nie drauf verlassen, dass was Essbares im
Hause ist.“ Sie machte die Tür des linken Schrankes auf und schob
ein paar Dosen zur Seite.
Heute morgen hatte ich mit Mae gefrühstückt, aber mit Lyle hatte
ich schon vorher geredet. Nachdem Kevin vor der Tür gestanden
hatte. Dann war ich zurück in die Küche gegangen, hatte Bubba
angerufen…
„Was hab ich euch gesagt?“ Angie öffnete den mittleren Schrank.
„Hier sind auch keine Chips.“
„Ihr zwei kommt bestimmt toll miteinander aus“, frohlockte Devin.
Nachdem ich mit Bubba gesprochen hatte, hatte ich Lyle gebeten, die
Musik leiser zu stellen, weil Mae noch schlief. Und er sagte…
„Letzter Versuch.“ Angie griff nach der Tür des rechten Schranks. …
es sei ihm egal, weil er einen Termin beim Zahnarzt habe und eh nur
bis mittags arbeite.
Ich stand auf und sah aus dem Fenster in den Hof hinunter, als
Angie aufschrie und einen Satz nach hinten machte.
Im Hof war niemand. Lyle war weg.
Ich sah in den Schrank und erkannte als erstes ein Augenpaar, das
mich anstarrte. Es waren blaue Menschenaugen, die einfach so
dalagen.
Oscar griff nach dem Funkgerät. „Ich will Bolton sprechen. Sofort.“
Angie stolperte rückwärts am Tisch entlang. „Oh, Scheiße!“ „Devin“,
keuchte ich, „dieser Anstreicher…“
„Lyle Dimmick“, erwiderte Devin, „wir haben ihn überprüfen lassen.“
„Das war nicht Lyle“, gab ich zurück.
Oscar hörte uns zu, während er am Funkgerät mit Bolton sprach.
„Bolton“, sagte Oscar, „lassen Sie Ihre Leute ausschwärmen! Arujo
ist in der Gegend, er ist als Cowboy-Anstreicher verkleidet. Er ist
gerade verschwunden.“
„In welche Richtung?“
„Keine Ahnung. Schicken Sie Ihre Leute los!“
„Wir sind unterwegs.“
Angie und ich nahmen drei Stufen auf einmal und sprangen mit
gezückter Waffe über das Geländer der rückseitigen Veranda in den
Hinterhof. Arujo hatte drei Möglichkeiten: Wenn er nach Westen
durch die Hinterhöfe gelaufen war, wäre er noch nicht raus, weil
auf dieser Straßenseite vier Häuserblocks lang keine Querstrasse
kreuzte. Wenn er nach Norden in Richtung Schule geflohen war, hätte
ihn das FBI aufgehalten. Blieb also nur noch der Häuserblock
südlich von uns oder östlich Richtung Dorchester Avenue. Ich ging
nach Süden, Angie nach Osten.
Wir fanden ihn beide nicht.
Das FBI hatte auch kein Glück.
Um neun Uhr flog ein Hubschrauber über unseren Stadtteil, und Hunde
durchforsteten die Strassen, Beamte gingen
von Haus zu Haus. Meine Nachbarn waren seit letztem Jahr nicht
allzu gut auf mich zu sprechen, als ich ihnen fast einen
Bandenkrieg vor die Haustür geliefert hatte; ich konnte mir
entfernt vorstellen, mit welch uralten keltischen Flüchen sie heute
nacht meine Seele verdammten.
Evandro Arujo war als Lyle Dimmick verkleidet durchs
Sicherheitsnetz geschlüpft. Wenn ein Nachbar nach draußen blickte
und eine Leiter gegen mein Fenster im zweiten Stock gelehnt sah,
würde er einfach annehmen, Ed Donnegan habe nun auch mein Haus
gekauft und Lyle beauftragt, es zu streichen.
Das Schwein war in meiner Wohnung gewesen.
Man nahm an, die Augen gehörten Peter Stimovich. Bolton hatte mir
nicht erzählt, dass die Leiche ohne Augen gefunden worden
war.
„Vielen Dank, dass sie mir das gesagt haben“ murrte ich. „Kenzie“,
seufzte er wie immer, „ich werde nicht dafür bezahlt, Sie auf dem
laufenden zu halten, sondern Sie dann hinzuzuziehen, wenn es
erforderlich ist.“
Unter den Augen, die ein Mediziner des FBI mit Hilfe von Gelatine
aus dem Schrank holte und in zwei Plastikbeutelchen legte, lag eine
weitere Nachricht für mich, ein weißer Umschlag und ein Stapel
Flugblätter. Auf dem Zettel stand in der gleichen Schrift wie auf
den anderen beiden: „schöndichzusehen“.
Bolton nahm den Briefumschlag, bevor ich ihn öffnen konnte, und
betrachtete dann die beiden Nachrichten, die ich innerhalb des
letzten Monats erhalten hatte. „Wieso haben Sie uns die nie
gezeigt?“
„Ich wusste nicht, dass die von ihm waren.“
Er übergab sie einem Laboranten. „Agent Erdham hat Kenzies und
Gennaros Fingerabdrücke registriert. Nehmen Sie auch die Aufkleber
mit.“
„Was machen Sie mit den Flugblättern?“ erkundigte sich Devin. Es
waren über tausend, mit Gummibändern säuberlich zu zwei Stapeln
zusammengebunden, manche schon vergilbt, andere zerknittert, einige
erst zehn Tage alt. Immer befand sich in der oberen linken Ecke das
Foto eines vermissten Kindes, darunter die Angaben zur Person und
am Fuße des Blattes immer der gleiche Satz: „Haben Sie mich
gesehen?“
Nein, hatte ich nicht. Im Laufe der Jahre hatte ich wohl Hunderte
dieser Flugblätter mit der Post erhalten, und ich sah immer ganz
genau hin, nur um mir sicher zu sein, bevor ich sie in dem Müll
warf, aber noch nie hatte ich ein Gesicht erkannt. Wenn man sie
einmal pro Woche erhielt, konnte man sie leicht vergessen, aber
jetzt, als ich sie mit Gummihandschuhen durchblätterte, die so eng
waren, dass ich den Schweiß aus den Poren meiner Hand hervortreten
spürte, warf es mich um.
Tausende. Einfach fort. Ein ganzes Land. Eine alptraumhafte
Ansammlung verlorener Leben. Viele davon waren wohl tot. Andere
waren wahrscheinlich gefunden worden, aber es ging ihnen bestimmt
schlechter als vorher. Die übrigen waren haltlos ihrem Schicksal
überlassen und irrten wie ein Wanderzirkus durch das Land, bewegten
sich durch die Herzen unserer Städte, schliefen auf Steinen, Rosten
und ausrangierten Matratzen, hohlwangig, fahlhäutig, mit leeren
Augen und verfilztem Haar.
„Das ist das gleiche wie die Aufkleber“, sagte Bolton.
„Wieso?“ fragte Oscar.
„Er möchte, dass Kenzie sein postmodernes Unbehagen teilt. Dass die
Welt aus den Angeln geraten und nicht wieder einzurenken ist, dass
Tausende durcheinanderschreien, ein einziges Stimmengewirr, aber
niemand dem anderen wirklich zuhört. Dass unsere Vorstellungen sich
ständig widersprechen, dass es keinen festen Stamm von Wissen gibt,
an dem alle teilhaben. Dass täglich Kinder verschwinden und wir nur
sagen: >Wie furchtbar. Gib mir mal das Salz.<„ Er blickte
mich an. „Was meinen Sie?“
„Kann sein.“
Angie schüttelte den Kopf. „Das ist Blödsinn.“
„Wie bitte?“
„Blödsinn“, wiederholte sie. „Vielleicht gehört das auch dazu, aber
das ist nur ein Teil seiner Botschaft. Agent Bolton, Sie gehen
davon aus, dass wir es mit zwei Mördern zu tun haben, dass wir uns
also nicht nur mit dem kleinen Evandro Arujo herumschlagen müssen.
Korrekt?“
Er nickte.
„Dieser andere, der wartet, ach was, der lauert seit zwei
Jahrzehnten wie ein Virus, bevor er wieder zuschlägt. Das ist doch
die vorherrschende Meinung, oder?“
„Ja, stimmt.“
Sie nickte. Dann zündete sie sich eine Zigarette an und hielt sie
hoch. „Ich habe schon mehrmals versucht, mit dem Rauchen
aufzuhören. Wissen Sie, wieviel Kraft man dazu braucht?“
„Wissen Sie, wie wohl ich mich heute morgen gefühlt hätte, wenn sie
es geschafft hätten?“ Bolton wich dem Rauch aus, der durch die
Küche zog.
„Schade.“ Sie zuckte mit den Schulten. „Ich wollte sagen, wir alle
haben eine Sucht, bei der wir uns entscheiden müssen. Eine Sache,
die uns tief im Innern trifft. Was uns ausmacht, sozusagen. Ohne
was könnten Sie nicht leben?“
„Ich?“ fragte er.
„Ja, Sie.“
Er lächelte und schaute peinlich berührt zur Seite. „Bücher. „
„Bücher?“ wiederholte Oscar lachend.
Bolton fuhr ihn an: „Stimmt was nicht damit?“
„Nein, schon gut. Weiter, Agent Bolton!“
„Was für Bücher?“ bohrte Angie nach.
„Die großen Autoren“, erwiderte Bolton ein wenig belämmert.
„Tolstoi, Dostojewski, Joyce, Shakespeare, Flaubert. „
„Und wenn die verboten würden?“ fragte Angie weiter.
„Dann würde ich das Gesetz umgehen“, antwortete Bolton. „Sie böser
Junge!“ witzelte Devin. „Ich bin bestürzt.“
„Hey!“ Bolton blitzte ihn böse an.
„Was ist mir dir, Oscar?“
„Essen“, entgegnete Oscar und klopfte sich auf den Bauch. „Kein
Ökofutter, sondern richtig herzhafte Sachen für den
Cholesterinspiegel. Steaks, Spareribs, Eier, panierte
Schnitzel.“
„Grosse Überraschung“, lachte Devin.
„Scheiße“, meinte Oscar, „hab gerade wieder Appetit bekommen.“
„Devin?“
„Zigaretten“, gab er zurück, „und wahrscheinlich Alkohol.“
„Patrick?“
„Sex.“
„Du bist ein Schwein, Kenzie!“ schimpfte Oscar.
„Also“, schloss Angie, „diese Sachen halten uns aufrecht, machen
uns das Leben lebenswert. Zigaretten, Bücher, Essen, wieder
Zigaretten, Alkohol und Sex. Das sind wir.“ Sie tippte auf den
Stapel mit den Vermisstenanzeigen. „Und was ist mit ihm? Was
braucht er unbedingt?“
„Das Töten“, sagte ich.
„Das schätze ich auch“, stimmte Angie zu.
„Also“, sponn Oscar weiter, „wenn er eine Zwangspause von zwanzig
Jahren einlegen musste…“
„Das würde er nie schaffen“, kommentierte Devin, „auf keinen Fall.“
„Aber er hat seine Morde nicht öffentlich gemacht“, widersprach
Bolton.
Angie hob den Stapel Papier hoch. „Bis jetzt.“
„Er hat die ganze Zeit Kinder umgebracht“, erklärte ich.
„Zwanzig Jahre lang“, ergänzte Angie.
Erdham kam um zehn vorbei und teilte uns mit, dass ein roter
Cherokee-Jeep, dessen Fahrer einen Cowboyhut trug, an der Kreuzung
in Wollaston Beach über eine rote Ampel gefahren war. Die Polizei
von Quincy hatte die Verfolgung aufgenommen und ihn in einer
scharfen Kurve der 3 A bei Weymouth verloren, da das Polizeiauto
aus der Spur geworfen wurde.
„Die haben einen beschissenen Jeep in einer Kurve verloren?“
staunte Devin ungläubig. „Diese Superrennfahrer scheren aus, und so
ein klotziges Auto wie der Cherokee kommt um die Kurve?“ „Das haben
sie mir erzählt, ja. Als letztes wurde er auf der Brücke beim alten
Marinehafen Richtung Süden gesehen.“
„Wann war das?“ fragte Bolton.
Erdham sah in seinen Aufzeichnungen nach. „Neun Uhr fünfunddreißig
in Wollaston. Um neun Uhr vierundvierzig haben sie ihn
verloren.“
„Sonst noch was?“ wollte Bolton wissen.
„Ja“, erwiderte Erdham zögernd und sah mich dabei an. „Was
denn?“
„Malion!“
Fields kam in die Küche. Er trug einen Stapel kleiner
Aufnahmegeräte und mindestens fünfzehn Meter
Koaxialkabel.
„Was ist das?“ fragte Bolton.
„Er hat die gesamte Wohnung verwanzt“, antwortete Fields und
vermied es, mich anzusehen. „Die Recorder waren mit Isolierband
unter die Veranda des Vermieters geklebt. Kassetten waren nicht
drin. Die Kabel liefen in einen Verteiler oben auf dem Dach,
zusammen mit den Fernseh -und Telefonkabeln. Er hat die Kabel mit
dem Rest der Drähte am Haus heruntergeführt – wenn man nicht danach
sucht, hätte es nie einer bemerkt.“
„Sie wollen mich verarschen!“ brachte ich heraus.
Fields schüttelte entschuldigend den Kopf. „Leider nicht. Nach dem
Staub und dem Schmutz auf den Kabeln zu urteilen, würde ich
schätzen, dass er seit mindestens einer Woche alles mithört, was in
Ihrer Wohnung vor sich geht.“ Er zuckte die Schultern. „Vielleicht
länger.“