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Angie und ich waren oben in unserem Glockenturm
und versuchten, die Klimaanlage zu reparieren, als Eric Gault
anrief.
Normalerweise wäre eine kaputte Klimaanlage Mitte Oktober in
Neuengland kein Problem gewesen. Schon eher eine kaputte Heizung.
Doch es sollte kein normaler Herbst werden. Um zwei Uhr nachmittags
waren es über zwanzig Grad, und an den Fensterscheiben hing noch
immer der klebrige, feuchtwarme Geruch des Sommers.
„Vielleicht rufen wir besser den Kundendienst an“, meinte Angie.
Ich hämmerte mit der Handfläche gegen den im Fenster angebrachten
Kasten und schaltete wieder ein. Nichts.
„Ist bestimmt der Antriebsriemen“, sagte ich.
„Das behauptest du auch immer, wenn das Auto liegenbleibt.“ „Hhm.“
Ich starrte die Klimaanlage ungefähr zwanzig Sekunden lang böse an,
doch sie reagierte nicht.
„Beschimpf sie doch!“ schlug Angie vor. „Vielleicht hilft das.“
Jetzt sah ich sie böse an, doch das zeigte genausoviel Wirkung wie
bei der Klimaanlage. Vielleicht sollte ich etwas an meinem bösen
Blick arbeiten.
Als das Telefon klingelte, hob ich in der Hoffnung ab, der Anrufer
könne sich mit solchen Anlagen auskennen, doch es war Eric Gault.
Eric unterrichtete Kriminologie an der Bryce-Universität. Ich
lernte ihn kennen, als er noch an der Universität von Massachusetts
lehrte und ich einige seiner Kurse besuchte.
„Hast du Ahnung von Klimaanlagen?“
„Hast du schon versucht, sie einzuschalten, dann aus und wieder
ein?“ fragte er.
„Ja.“
„Und nichts passiert?“
„Nein.“
„Hau doch ein paarmal drauf!“
„Hab ich schon.“
„Ruf den Kundendienst an!“
„Du bist ja eine grosse Hilfe.“
„Hast du immer noch das Büro im Glockenturm, Patrick?“ „Ja,
warum?“
„Weil, ich hätte eine potentielle Klientin für dich.“
„Und?“
„Ich möchte gerne, dass sie dich engagiert.“
„Schön. Dann komm doch mit ihr vorbei!“
„In den Glockenturm?“
„Klar.“
„Ich hab doch gesagt, ich möchte, dass sie dich engagiert. „ Ich
sah mich in unserem kleinen Büro um. „Das ist schlecht, Eric.“
„Kannst du, sagen wir, morgen früh um neun in der Lewis Wharf
vorbeikommen?“
„Ich denke schon. Wie heißt deine Bekannte?“
„Diandra Warren.“
„Was ist ihr Problem?“
„Wäre mir lieber, wenn sie es dir erzählt.“
„Gut.“
„Dann sehen wir uns morgen bei ihr.“
„Bis morgen dann.“
Ich wollte gerade auflegen.
„Patrick?“
„Ja?“
„Hast du eine jüngere Schwester namens Moira?“
„Nein. Ich habe eine ältere Schwester namens Erin.“
„Oh.“
„Warum?“
„Nur so. Wir sprechen morgen drüber.“
„Bis morgen also.“
Ich legte auf, warf einen Blick auf die Klimaanlage, dann auf
Angie, dann wieder auf die Klimaanlage und rief den Kundendienst
an. Diandra Warren wohnte in einem Loft in der vierten Etage eines
umgebauten ehemaligen Kaigebäudes namens Lewis Wharf. Aus den
riesigen Erkerfenstern, die die Ostseite des Loft in weiches
Morgenlicht tauchten, genoss man einen Panoramablick über den
Hafen. Und Diandra Warren sah aus wie eine Frau, die in ihrem
ganzen Leben noch nie um etwas hatte bitten müssen.
Pfirsichfarbenes Haar umgab ihre Stirn in einer anmutigen Welle und
lief an den Seiten in einen Pagenkopf aus. Ihre dunkle Seidenbluse
und die hellblaue Jeans sahen aus, als seien sie noch nie getragen
worden, die Gesichtszüge wirkten wie gemeißelt, und die goldene
Haut war so makellos, dass ich an die unbewegte Oberfläche eines
Sees erinnert wurde.
Sie öffnete die Tür und begrüsste uns mit einem sanften,
vertraulichen Flüstern: „Mr. Kenzie, Ms. Gennaro. Kommen Sie bitte
herein!“
Der Loft war mit Bedacht eingerichtet. Die cremefarbene Couch und
die gleichfarbigen Sessel im Wohnbereich ergänzten sich mit dem
hellen skandinavischen Holz der Küchenmöbel und dem gedämpften Rot
und Braun der persischen und indianischen Teppiche, die strategisch
auf dem Parkettboden verteilt waren. Die Farbzusammenstellung
verlieh der Wohnung zwar eine gewisse Wärme, doch war an der fast
spartanischen, funktionellen Einrichtung abzulesen, dass dem
Bewohner romantische Unübersichtlichkeit und Unordnung ein Greuel
waren.
Vor der freigelegten Backsteinmauer neben den Erkerfenstern standen
ein Messingbett, eine Kommode aus Walnussholz, drei Aktenschränke
aus Birke und ein massiver antiker MahagoniSchreibtisch. In der
gesamten Wohnung konnte ich keinen Wandschrank oder herumhängende
Kleidungsstücke finden. Vielleicht wünschte sie sich einfach jeden
Morgen eine neue Garderobe, und wenn sie aus der Dusche stieg,
warteten die Klamotten frisch gebügelt auf sie.
Sie führte uns in den Wohnbereich, und wir nahmen in den Sesseln
Platz, während sie sich leicht zögernd auf der Couch niederließ.
Zwischen uns stand ein Rauchglastisch, auf dem ein Umschlag lag;
links daneben befanden sich ein schwerer Aschenbecher und ein
antikes Feuerzeug.
Diandra Warren lächelte uns an.
Wir lächelten zurück. In unserem Geschäft muss man improvisieren
können.
Ihre Augen weiteten sich leicht, das Lächeln blieb auf ihrem
Gesicht. Vielleicht wartete sie darauf, dass wir unsere
Qualifikationen aufzählten, ihr unsere Waffen zeigten und
erzählten, wie viele heimtückische Ganoven wir seit Sonnenaufgang
erledigt hatten. Angies Lächeln verschwand, ich hielt ein paar
Sekunden länger durch. Der unbekümmerte Detektiv, der seine
potentielle Klientin beruhigt. Patrick „Strahlemann“ Kenzie. Zu
Ihren Diensten. Diandra Warren sagte: „Ich weiß nicht, wie ich
anfangen soll.“ „Eric meinte, Sie hätten Ärger, bei dem wir Ihnen
vielleicht helfen könnten“, erwiderte Angie.
Diandra nickte, und die haselnussbraunen Pupillen schienen einen
Moment abzuschweifen, als habe sie kurzzeitig die Kontrolle darüber
verloren. Sie schürzte die Lippen, blickte auf ihre schlanken Hände
hinab und wollte gerade wieder aufsehen, als sich die Wohnungstür
öffnete und Eric hereinkam. Er hatte das graumelierte Haar zu einem
Pferdeschwanz zusammengebunden, oben lichtete es sich schon
merklich. Aber obwohl ich wusste, dass er 46 oder 47 war, wirkte er
immer noch um zehn Jahre jünger. Er trug eine khakifarbene Hose zu
einem Jeanshemd und einem anthrazitfarbenen Sportsakko, dessen
unterer Knopf geschlossen war. Das Sportsakko saß etwas komisch, so
als hätte der Schneider nicht bedacht, dass Eric darunter eine
Pistole trug.
„Hey, Eric!“ Ich hielt ihm die Hand hin.
Er ergriff sie. „Schön, dass du kommen konntest, Patrick!“ „Hi,
Eric!“ Angie streckte ihm ebenfalls die Hand entgegen. Als er sich
vorbeugte, um sie zu schütteln, merkte er, dass die Waffe zu sehen
war. Er schloss kurz die Augen und errötete. Angie sagte: „Es wäre
mir lieber, wenn du die Pistole auf den Couchtisch legst, bis wir
wieder weg sind, Eric.“
„Das ist mir äußerst peinlich“, entschuldigte er sich und versuchte
ein schwaches Lächeln.
„Bitte, Eric“, mahnte Diandra, „leg sie auf den Tisch.“
Er öffnete das Holster, als wären Stacheln daran, und legte eine
Luger .38 auf den Umschlag.
Ich sah ihn verwundert an. Eric Gault und eine Pistole passen
ungefähr so gut zusammen wie Kaviar und Hot dogs.
Er nahm neben Diandra Platz. „Wir sind etwas nervös in letzter
Zeit.“
„Warum?“
Diandra seufzte. „Ich bin Psychologin, Mr. Kenzie, Ms. Gennaro. Ich
unterrichte zweimal pro Woche in Bryce und halte Sprechstunden für
die Lehrenden und die Studierenden ab, außerdem führe ich noch eine
Praxis außerhalb des Campus. Bei meiner Arbeit ist man so einiges
gewöhnt: gefährliche Patienten, die allein mit mir in dem kleinen
Büro einen psychotischen Schub bekommen, paranoide dissoziative
Schizophrene, denen es gelingt, meine Adresse herauszufinden. Mit
diesen Ängsten muss ich leben. Ich schätze, man erwartet, dass sie
eines Tages Wirklichkeit werden. Aber das hier…“ Sie blickte auf
den Umschlag auf dem Tisch zwischen uns. „Das hier ist…“
Ich half ihr: „Versuchen Sie uns zu beschreiben, wie alles
angefangen hat!“
Sie lehnte sich zurück und schloss einen Moment die Augen. Eric
legte ihr sanft die Hand auf die Schulter, doch sie schüttelte den
Kopf, so dass er sie rasch wieder wegzog und auf seinen
Oberschenkel legte. Dabei sah er seine Hand an, als wisse er nicht,
wie sie dort hingelangt sei.
„Eines Morgens kam eine Studentin in meine Sprechstunde in Bryce.
Jedenfalls behauptete sie, Studentin zu sein.“
„Bestand Anlass, ihr nicht zu glauben?“ fragte Angie.
„Damals nicht. Das Mädchen hatte einen Studentenausweis.“ Diandra
öffnete die Augen. „Aber als ich dann etwas nachforschte, stellte
sich heraus, dass sie nicht registriert war.“
„Wie hieß diese Person?“ wollte ich wissen.
„Moira Kenzie.“
Ich warf Angie einen Blick zu, und sie hob die Augenbrauen. „Sehen
Sie, Mr. Kenzie, als Eric Ihren Namen erwähnte, da wurde ich sofort
aufmerksam. Ich dachte, Sie könnten mit ihr verwandt
sein.“
Ich dachte darüber nach. Kenzie ist kein besonders gängiger
Familienname. Selbst in Irland gibt es nur einige von uns in der
Gegend von Dublin, und oben in Ulster sind ein paar verstreut. Aber
angesichts der Grausamkeit und Gewalttätigkeit, die in den Seelen
meines Vaters und seiner Brüder faulte, war es nicht unbedingt ein
schlechtes Zeichen, dass diese Blutslinie auszusterben drohte. „Sie
sagen, diese Moira Kenzie war ein Mädchen?“
„Ja.“
„Also war sie noch nicht, so alt?“
„Neunzehn, vielleicht zwanzig.“
Ich schüttelte den Kopf. „Nein, dann kenne ich sie nicht, Dr.
Warren. Die einzige Moira Kenzie, die ich kenne, ist eine Cousine
meines verstorbenen Vaters. Sie ist Mitte Sechzig und seit zwanzig
Jahren nicht aus Vancouver herausgekommen. „
Diandra nickte kurz und bitter, ihre Pupillen schienen sich zu
trüben. „Tja, dann…“
„Dr. Warren“, versuchte ich es erneut, „was war denn, als diese
Moira Kenzie zu Ihnen kam?“
Diandra schürzte die Lippen und sah Eric an, dann blickte sie zu
dem schweren Deckenventilator über ihr. Langsam atmete sie durch
den Mund aus – da wusste ich,
dass sie sich entschlossen hatte, uns Vertrauen zu schenken. „Diese
Moira sagte, sie sei die Freundin eines Mannes namens
Hurlihy.“
„Kevin Hurlihy?“ fragte Angie.
Diandra Warrens goldene Haut wurde noch einen Ton bleicher. Sie
nickte.
Angie warf mir einen Blick zu und hob wieder die Augenbrauen. Eric
sagte: „Kennt ihr ihn?“
„Leider haben wir seine Bekanntschaft gemacht“, erwiderte ich.
Kevin Hurlihy ist mit uns aufgewachsen. Er sieht ziemlich dämlich
aus – ein hoch aufgeschossener Typ mit knochigem Körperbau und
widerspenstigem, borstigem Haar, das aussieht, als halte er seinen
Kopf jeden Morgen in die Kloschüssel und drücke auf die Spülung, um
sich zu frisieren. Als er zwölf Jahre alt war, wurde ihm ein
Krebsgeschwür am Kehlkopf entfernt. Durch das Narbengewebe von
dieser Operation bekam er eine furchtbar hohe, ständig brechende
Stimme, die wie das verärgerte Heulen eines Teenagers klingt. Er
trägt eine Brille mit flaschenbodendicken Gläsern, durch die seine
Augen wie die eines Frosches hervorquellen, und Klamotten wie der
Akkordeonspieler einer Polkagruppe. Er ist die rechte Hand von Jack
Rouse, und Jack Rouse ist der Chef der irischen Mafia in dieser
Stadt. Auch wenn Kevin ein bisschen komisch aussieht und redet: Er
ist alles andere als witzig.
„Was ist passiert?“ erkundigte sich Angie.
Diandra sah zur Decke hoch, die Haut an ihrem Hals zitterte. „Moira
erzählte mir, Kevin würde ihr Angst einjagen. Sie sagte, er würde
sie ständig verfolgen lassen, würde sie zwingen, ihm beim Sex mit
anderen Frauen zuzusehen, ihm
beim Sex mit Männern zuzusehen, dass er Männer zusammenschlagen
würde, die sie nur zufällig angeguckt hätte, und dass er…“ Sie
schluckte, und Eric legte seine Hand zögernd auf die ihre. „Dann
hat sie mir erzählt, dass sie eine Affäre mit einem Typen hatte,
und Kevin hätte das herausgefunden und hätte… den Mann umgebracht
und irgendwo in Somerville begraben. Sie flehte mich an, ihr zu
helfen. Sie…“ ‘
„Hat man Sie bedroht?“ fragte ich Diandra.
Sie rieb sich das linke Auge und zündete sich dann mit dem
AntikFeuerzeug eine lange weiße Zigarette an. Obwohl sie so große
Angst hatte, zitterte ihre Hand nur ein klein wenig. „Kevin“, kam
es aus ihrem Mund, als hätte sie gerade etwas Faules gegessen. „Er
hat mich um vier Uhr morgens angerufen. Wissen Sie, wie man sich
fühlt, wenn man um vier Uhr morgens angerufen wird?“
Verwirrt, bestürzt, allein und verängstigt. Genau das beabsichtigt
ein Typ wie Kevin Hurlihy ja.
„Er hat eine Menge ekliger Sachen gesagt. Zum Beispiel, ich
zitiere: >Wie fühlt man sich so, die letzte Woche auf der Erde,
du alte Fotze?<„
Hört sich nach Kevin an. Oberste Liga.
Zischend sog sie die Luft ein.
„Wann haben Sie diesen Anruf erhalten?“ fragte ich.
„Vor drei Wochen.“
„Vor drei Wochen?“ wiederholte Angie erstaunt.
„Ja. Ich habe versucht, es zu vergessen. Ich habe die Polizei
angerufen, aber die meinten, sie könnten nichts tun, weil ich
keinen Beweis dafür hätte, dass es wirklich Kevin war.“ Sie fuhr
sich mit der Hand durchs Haar, machte sich auf der Couch noch ein
bisschen kleiner und sah uns an.
„Als Sie mit der Polizei sprachen“, fragte ich, „haben Sie da etwas
von dieser Leiche in Somerville erzählt?“
„Nein.“
„Gut!“ sagte Angie.
Diandra beugte sich vor und schob Erics Pistole von dem Umschlag.
Dann reichte sie ihn Angie, die ihn öffnete und ein Schwarzweißfoto
herauszog. Angie sah es an und gab es an mich weiter.
Der junge Mann auf dem Foto sah aus, als sei er ungefähr zwanzig:
ein hübscher Junge mit langem rotbraunen Haar und einem
Dreitagebart. Er trug eine Jeans mit Löchern über den Knien und ein
TShirt unter einem offenen Flanellhemd, darüber eine schwarze
Lederjacke. Typische Unikleidung. Unter dem Arm hielt er einen
Schreibblock. Er ging gerade an einer Backsteinmauer vorbei und
schien nicht zu bemerken, dass er fotografiert wurde.
„Mein Sohn Jason“, erklärte Diandra. „Er ist im zweiten Jahr in
Bryce. Das Gebäude hinter ihm ist die Bibliothek von Bryce. Das
Foto kam gestern ganz normal mit der Post.“
„Kein Begleitschreiben?“
Sie schüttelte den Kopf.
Eric ergänzte: „Ihr Name und Ihre Anschrift waren auf den Umschlag
getippt, sonst nichts.“
„Vor zwei Tagen“, fuhr Diandra fort, „war Jason das Wochenende über
hier, und ich konnte zufällig mithören, dass er einem Freund am
Telefon erzählte, er würde das Gefühl nicht los, dass jemand hinter
ihm herschleiche. Herschleiche. So hat er sich ausgedrückt.“ Sie
wies mit der Zigarette auf das Foto, und nun zitterte ihre Hand
stärker. „Einen Tag später kam das da an.“
Ich betrachtete das Bild noch einmal. Klassische Mafiawarnung: Auch
wenn du meinst, irgend etwas über uns zu wissen, wir wissen alles
über dich!
„Seit dem Tag damals habe ich Moira Kenzie nicht mehr gesehen. Sie
ist nicht in Bryce eingeschrieben, die Telefonnummer, die sie mir
gegeben hat, gehört einem chinesischen Restaurant, und im
Telefonbuch steht sie auch nicht. Und trotzdem ist sie zu mir
gekommen. Und jetzt ist diese Sache in meinem Leben. Und ich weiß
nicht, warum. O Gott!“ Sie schlug mit den Händen auf die
Oberschenkel und schloss die Augen. Als sie sie wieder öffnete, war
all der Mut verschwunden, den sie in den letzten drei Wochen aus
dem Nichts geschöpft hatte. Sie sah verängstigt aus, so als sei sie
sich plötzlich bewusst, wie schwach die Mauern wirklich sind, die
wir um unser Leben errichten.
Ich blickte Eric an, dessen Hand auf Diandras ruhte, und versuchte
ihre Beziehung zu ergründen. Ich hatte ihn noch nie von einer Frau
sprechen hören, hatte ihn immer für schwul gehalten. Doch abgesehen
davon kannte ich ihn seit zehn Jahren, ohne dass er von einem Sohn
gesprochen hätte.
„Wer ist Jasons Vater?“ wollte ich wissen.
„Was? Warum?“
„Wenn ein Kind bedroht wird“, erklärte Angie, „dann müssen wir auch
Sorgerechtsfragen in Betracht ziehen.“
Diandra und Eric schüttelten gleichzeitig den Kopf.
„Diandra ist seit fast zwanzig Jahren geschieden“, antwortete Eric.
„„hr Exmann kommt gut mit Jason aus, aber sie sehen sich selten.“
„Ich brauche seinen Namen“, sagte ich.
„Stanley Timpson“, erwiderte Diandra.
„Stan Timpson, der Staatsanwalt von Suff o 1k?“
Sie nickte.
„Dr. Warren“, versuchte es Angie, „da es sich bei Ihrem Exmann um
den einflussreichsten Beamten in Massachusetts handelt, müssen wir
annehmen, dass…“
„Nein.“ Diandra schüttelte den Kopf. „Die meisten
Leute wissen nicht einmal, dass wir verheiratet waren. Er hat eine
neue Frau, drei kleine Kinder und kaum noch Kontakt zu mir und
Jason. Glauben Sie mir, das hat nichts mit Stan zu tun!“ Ich sah
Eric an.
„Da stimme ich zu“, sagte er. „Jason trägt Diandras Namen, nicht
den von Stan, und außer einem Anruf zum Geburtstag und einer Karte
zu Weihnachten hat er keinen Kontakt zu seinem Vater.“ „Werden Sie
mir helfen?“ fragte Diandra.
Angie und ich blickten uns an. Dieselbe Postleitzahl zu haben wie
Kevin Hurlihy und sein Chef Jack Rouse finden wir beide unserer
Gesundheit nicht gerade zuträglich. Jetzt wurden wir sogar gebeten,
uns geradewegs mit ihnen an einen Tisch zu setzen und sie zu
bitten, unsere Klientin nicht länger zu belästigen. Wenn wir diesen
Fall annähmen, wäre das eine der vielversprechendsten Methoden,
Selbstmord zu begehen.
Angie las meine Gedanken. „Was?“ fragte sie. „Willst du ewig
leben?“