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Als wir Lewis Wharf verließen und die Commercial Street hinaufgingen, hatte der überraschende Neuengland-Herbst einen hässlichen Morgen in einen wunderschönen Nachmittag verwandelt. Beim Aufwachen pfiff ein so eiskalter, gemeiner Wind durch die Ritzen unter meinem Fenster, dass es der Atem eines arktischen Gottes hätte sein können. Der Himmel war zugezogen und blass wie das Leder eines Baseballs, und die Leute kuschelten sich auf dem Weg zu ihren Autos in dicke Jacken und riesige Sweatshirts, während ihnen der Atem aus dem Mund dampfte.
Als ich meine Wohnung verließ, war die Temperatur schon auf zehn Grad gestiegen, und die Sonne sah bei ihrem Versuch, sich durch den milchglasigen Himmel zu kämpfen, wie eine Apfelsine aus, die unter der Oberfläche eines gefrorenen Teiches eingeschlossen war. Auf dem Weg zu Diandra Warrens Wohnung hatte ich meine Jacke ausgezogen, da die Sonne doch durchgekommen war, und als wir jetzt nach Hause fuhren, zeigte das Quecksilber schon gut 20 Grad an.
Wir fuhren an Copp’s Hill vorbei, und die vom Hafen herüberwehende warme Brise raschelte in den Bäumen auf der Kuppe des Hügels. Kleine Haufen glänzender roter Blätter bedeckten die Schiefersteine und wehten aufs Gras.
Rechts von uns blitzten die Kaianlagen und Docks in der Sonne, und zu unserer Linken erzählten die braunen, roten und schmutzigweissen Ziegelsteine des North End Geschichten von gefliesten Böden, offenstehenden alten Torbögen und vom Geruch dick eingekochter Saucen, von Knoblauch und frisch gebackenem Brot. „An so einem Tag muss man die Stadt einfach lieben“, schwärmte Angie.
„Auf jeden Fall.“
Sie griff sich mit der Hand an den Hinterkopf und drehte das Haar zu einem provisorischen Pferdeschwanz zusammen, dann lehnte sie den Kopf aus dem Fenster und legte ihn in den Nacken, so dass ihr die Sonne auf Gesicht und Hals schien. Wenn ich sie so ansah, wie sie mit geschlossenen Augen lächelte, wäre ich gerne bereit gewesen zu glauben, dass es ihr gutging.
Doch das tat es nicht. Nachdem sie ihren Mann Phil verlassen hatte, nachdem sie ihn wie ein Häufchen Elend blutend und würgend vor ihrer Haustür liegengelassen hatte (die Rache für jahrelanges Verprügeln), ging Angie im Verlauf des Winters zunehmend oberflächlichere und schneller aufeinanderfolgende Affären ein und ließ einen Mann nach dem anderen hinter sich, der sich schließlich ratlos am Kopf kratzte, weil sie sich ohne Vorwarnung dem nächstbesten zugewandt hatte.
Da ich selbst nie ein Ausbund an Tugend gewesen bin, hätte ein mahnendes Wort von mir äußerst unglaubwürdig gewirkt, und zu Beginn des Frühlings schien sie sich schließlich vorerst ausgetobt zu haben. Sie brachte keine heissblütigen Männer mehr nach Hause und arbeitete wieder mit voller Kraft an unseren Fällen mit, kümmerte sich sogar ein bisschen um ihre Wohnung, was bei Angie bedeutete, dass sie den Herd putzte und einen Besen
kaufte. Aber sie war nicht mehr sie selbst, nicht so wie früher. Sie war stiller, nicht mehr so ungeniert. Sie rief zu den seltsamsten Tageszeiten an oder kam vorbei, um über den Tag zu sprechen, den wir gerade zusammen verbracht hatten. Sie behauptete ständig, Phil seit Monaten nicht gesehen zu haben, doch aus irgendeinem Grund glaubte ich ihr nicht.
Dazu kam noch die Tatsache, dass ich zum zweiten Mal in all den Jahren, seit wir uns kannten, nicht immer für sie dasein konnte, wenn sie mich brauchte. Seit ich im Juli Grace Cole kennengelernt hatte, verbrachte ich ganze Tage und Nächte, manchmal sogar das gesamte Wochenende mit ihr, wann immer wir Zeit füreinander hatten. Hin und wieder musste ich sogar auf Grace’ Tochter Mae aufpassen, so dass ich für meine Kollegin ziemlich oft nicht zu erreichen war, es sei denn, es handelte sich um einen absoluten Notfall. Eigentlich war keiner von uns beiden so richtig darauf vorbereitet gewesen; Angie hatte es einmal so beschrieben: „Die Chance ist größer, dass ein Schwarzer in einem Woody-Allen-Film mitspielt, als dass Patrick eine ernsthafte Beziehung eingeht.“
An der Ampel merkte sie, dass ich sie beobachtete. Sie öffnete die Augen, um ihre Lippen spielte ein schwaches Lächeln. „Machst du dir Sorgen um mich, Kenzie?“
Meine Kollegin kann Gedanken lesen.
„Ich checke dich nur ab, Gennaro. Rein sexuell, sonst nichts.“ „Ich kenne dich, Patrick.“ Sie zog den Kopf ein. „Du spielst immer noch den großen Bruder.“
„Ja, und?“
„Und“, fuhr sie fort und strich mir mit dem Handrücken über die Wange, „es wird Zeit, dass du damit aufhörst.“
Ich schob ihr eine Haarsträhne aus dem Auge, dann sprang die Ampel auf Grün. „Nein“, widersprach ich.
Wir hielten uns gerade lange genug in ihrem Haus auf, dass sie sich eine abgeschnittene Jeanshose anziehen und ich zwei Flaschen Bier aus dem Kühlschrank holen konnte. Dann setzten wir uns nach draußen auf die hintere Veranda, lauschten den im Wind flatternden Hemden des Nachbarn und freuten uns des Lebens. Sie stützte sich auf die Ellbogen und streckte die Beine aus. „Tja, da haben wir also einen neuen Fall!“
„Stimmt!“ pflichtete ich ihr bei und sah mir ihre glatten olivbraunen Beine in der ausgewaschenen Jeans an. Vielleicht gibt es wirklich nicht viel Gutes auf dieser Welt, aber ich möchte mal einen sehen, der ein schlechtes Wort über abgeschnittene Jeanshosen sagt. „Hast du eine Idee, wie wir anfangen?“ wollte sie wissen, doch dann schimpfte sie: „Hör sofort auf, meine Beine anzugaffen, du Perverso! Du bist jetzt so gut wie verheiratet!“
Ich zuckte mit den Achseln, lehnte mich zurück und sah zum klaren Marmorhimmel hoch. „Keine Ahnung. Weißt du, was mich stört?“ „Außer elektronische Hintergrundmusik, Fernsehwerbung und der Akzent von New Jersey?“
„An diesem Fall.“
„Sag’s mir!“
„Warum dieser Name Moira Kenzie? Ich meine, wenn der schon falsch ist, und davon können wir ja wohl ausgehen, warum dann mein Nachname?“
„Es gibt so etwas wie Zufall. Vielleicht hast du schon davon gehört. Das ist, wenn…“„„Okay. Was anderes.“
„Und zwar?“
„Ist Kevin Hurlihy für dich ein Typ, der eine Freundin hat?“ „Ahm, nee. Aber das ist schon Jahre her, dass wir mit ihm zu tun hatten.“ ‘
„Trotzdem…“
„Wer weiß?“ sagte sie. „Ich habe schon viele komische, hässliche Typen mit hübschen Frauen gesehen und umgekehrt.“
„Kevin ist aber nicht einfach komisch. Er ist ein Schwein.“ „Das sind auch viele Profiboxer. Und die haben auch immer Frauen dabei.“
Ich zuckte mit den Achseln. „Stimmt schon. Okay. Also, was machen wir mit Kevin?“
„Und Jack Rouse“, ergänzte sie.
„Gefährliche Typen“, warf ich ein.
„Und wie!“
„Tja, wer hat denn täglich mit gefährlichen Leuten zu tun?“ „Wir bestimmt nicht“, antwortete sie.
„Nee“, stimmte ich zu, „wir sind Luschen.“
„Und stolz darauf“, sagte sie. „Da bleibt nur…“ Sie wandte sich zu mir und blinzelte gegen die Sonne. „Du meinst doch nicht…“ „Doch.“
„Oh, Patrick.“
„Wir müssen Bubba einen Besuch abstatten.“
„Wirklich?“ fragte sie.
Ich seufzte und freute mich selbst nicht unbedingt. „Wirklich.“ „Scheisse“, fluchte Angie.