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Archie konnte die Venus von der Veranda des Hauses in der North Fargo Street sehen. Sie war das hellste Licht am Nachthimmel. Venus, die römische Göttin der Liebe und Schönheit. Die Fliegenfalle. Auf Gemälden sehr oft mit roten Haaren dargestellt.

»Wir werden vielleicht nie erfahren, was wirklich mit Isabel passiert ist«, sagte Henry. »Oder mit den anderen.«

Jeremy war tot. Shark Boy war tot. Pearl war auf dem Weg zurück zu ihren Eltern. Die anderen beiden Schläger aus dem Heizungskeller würde man vielleicht nie finden.

»Ich weiß«, sagte Archie.

Henry war hinter dem Sondereinsatzteam eingetroffen, unbewaffnet, da er offiziell Innendienst hatte. Damit leitete Claire den Einsatz, und sie hatte die beiden auf die Veranda verbannt, wo Henry Archies Aussage aufgenommen hatte.

In der Straße drängten sich die Übertragungswagen der Nachrichtensender und kämpften um den besten Standplatz. Von den leeren Grundstücken zu beiden Seiten des Hauses berichteten Fernsehreporter live. Ihre Kamerascheinwerfer sahen wie Sterne aus.

Gretchen war fort, sie war auf eine Trage gefesselt von vier ängstlich dreinblickenden Sanitätern und sechs Polizisten weggeschafft worden. Die Polizisten hatten sich einen Weg durch eine Medienhorde bahnen müssen, die sich auf Gretchen gestürzt hatte wie Paparazzi auf einen Filmstar.

»Gretchen könnte einen Beweis haben«, überlegte Archie. »So oder so.«

»Nein«, sagte Henry und schüttelte den Kopf. »Du wirst das Opferidentifizierungsprojekt nicht wiederaufnehmen. Das ist es nicht wert. Sie kann uns keine Information geben, die es wert wäre, dass du sie jemals wieder sehen musst.«

Archie holte den Flash Drive aus seiner Tasche, den Gretchen ihm in Henrys Haus gegeben hatte, und hielt ihn in die Höhe. »Sie hat mir das hier gegeben«, sagte er und betrachtete das kleine Gerät. »Informationen über einen gewissen Ryan Motley.« Er wusste nicht, ob er ihr glauben sollte, ob dieser Kerl überhaupt existierte oder ob es nur wieder ein Spiel war. »Sie sagt, sie habe ihn ausgebildet und er sei ein Kindermörder.«

Archie hielt Henry den Flash Drive hin.

»Verdammt noch mal«, sagte Henry und nahm das Gerät.

Archie klopfte ihm auf die Schulter und stand auf. Sie wussten beide, dass Gretchen Lowell noch nicht fertig war mit ihnen, aber für den Augenblick zumindest war Archie mit ihr fertig.

Es gab eigentlich nur einen Menschen, den er jetzt sehen wollte.

Er fand Susan hinter dem Haus, sie lehnte an der Wand und rauchte eine Zigarette. Das Licht aus dem ehemaligen Wohnzimmer beleuchtete eine Hälfte ihres Gesichts.

Das Sondereinsatzkommando war gerade noch rechtzeitig gekommen, und es gab nur eine Erklärung dafür, dass sie so schnell hier gewesen waren. »Sie haben Henry angerufen«, sagte er.

»Sie waren in Schwierigkeiten«, gab sie zurück.

Archie lehnte sich neben sie an die Wand. Gretchen war in Haft. Sie waren außer Gefahr. Er lebte.

»Danke«, sagte er.

Susan zog an ihrer Zigarette. »Vierhundertvierzigtausend«, sagte sie.

»Was?«, sagte er.

»So viele Leute sterben in den Vereinigten Staaten jedes Jahr an den Folgen des Rauchens.« Sie betrachtete ihre Zigarette. »Ich höre auf.«

Sie machte jedoch keinerlei Anstalten, die Zigarette auszudrücken.

Ein Nachrichtenhubschrauber schwebte für eine Luftaufnahme über das Haus, und sie schwiegen, bis er wieder höher gestiegen war und sich in östlicher Richtung entfernt hatte.

»Sie wollten Ihre Frau tatsächlich für sie verlassen, oder?«, sagte Susan.

»Auf jeden Fall«, sagte Archie.

Er wusste immer noch nicht, was sie da unten in dem Keller gehört hatte. Wie viel sie wusste von dem, was er getan hatte. »Der Taser wurde nach einem Tom-Swift-Buch benannt«, sagte Archie. »Tom Swift and His Electric Rifle. Das A wurde eingefügt.«

Susan strich sich eine purpurne Locke hinter das Ohr. »Und Sie erzählen mir das, weil …?«

»Weil ich Ihnen Dinge erzählen will«, sagte Archie.

Sie nickte und schien darüber nachzudenken. »Wissen Sie, was die beliebteste Textzeile in Filmen ist?«, fragte sie. »›Machen wir, dass wir hier wegkommen.‹« Sie lächelte im Dunkeln. »Im Ernst«, sagte sie. »Achten Sie darauf. Es kommt in jedem Film vor, egal, was für eine Art von Film es ist. Sie werden erstaunt sein.«

Die Stichwunden in ihrem Gesicht waren angeschwollen, und ihr Augenlid leuchtete purpurn. »Sie haben ein blaues Auge«, sagte Archie.

Susan zog von ihrer Zigarette und blies ihm den Rauch ins Gesicht. »Sie haben Hakenlöcher im Rücken«, sagte sie.

Ein lautes, anhaltendes Hupen ertönte, und als Archie den Kopf wandte, sah er einen Shuttle-Bus, der sich an mehreren Einsatzfahrzeugen vorbeiquetschte, um näher an das Haus heranzukommen. Eine Werbegrafik bedeckte den gesamten Bus. Archie konnte nicht alles erkennen, aber er sah Gretchens Gesicht im Licht der Scheinwerfer, Blaulichter auf der Seite des Busses und ein Skalpell auf der Motorhaube unter der Windschutzscheibe.

»Was zum Teufel ist das?«, fragte er.

»Das«, sagte Susan, »ist die mitternächtliche Beauty-Killer-Leichentour. Fünfunddreißig Dollar. Zwei Tatorte. Bar an Bord.« Sie verzog sarkastisch den Mund. »Heute Nacht bekommen sie etwas geboten für ihr Geld.«

Der Bus hielt am Randstein, und die Leute stiegen aus und strömten in die Straße. Normale Leute, Menschen, die Das letzte Opfer gelesen und einen Artikel in Vanity Fair gesehen hatten und sich ein bisschen gruseln wollten. Sie schrien und reckten die Fäuste in die Luft.

»Freiheit für Gretchen«, riefen sie.

Archie trat ins Dunkel zurück.

»Haben Sie Hunger?«, fragte Susan. »Ich habe Kartoffelchips im Wagen.«

Archie konnte sich plötzlich nicht erinnern, wann er das letzte Mal gegessen hatte. Er streckte die Hand aus, und Susan nahm sie.

»Machen wir, dass wir hier wegkommen«, sagte er.