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Sie ließen Susan nicht ein. Sie ließen sie nie ein. Ihr Name stand nicht auf der Liste der von Archie genehmigten Besucher. Aber Susan läutete und schickte die Schwester zu Archie, damit sie fragte, ob er sie sehen wolle, und als die Schwester wie immer zurückkam und sagte, nein, aber er lasse grüßen, nahm Susan auf einem Stuhl im Wartezimmer Platz. Sie hoffte, wenn sie oft genug kam und lange genug wartete, würde Archie irgendwann nachgeben.

Und wenn nicht, nun, es war ein hübscher, ruhiger Ort, um ein wenig Arbeit zu erledigen.

Es gab zwei Stühle, beide aus urinfarbenem Kunststoff, und Susan setzte sich immer auf den linken. »Wartezimmer« war eine wohlwollende Bezeichnung. Es war eher ein Warteschrank. Keine Fenster. Nur drei Quadratmeter, gefüllt mit zwei Stühlen und einem Tisch, auf dem sich Broschüren über geistige Gesundheit stapelten. Susan hatte ihren Kaffee halb ausgetrunken und machte gerade eine Pause, um ein Faltblatt über ADHS bei Erwachsenen zu lesen, als die Fahrstuhltür aufging und Henry Sobol aus dem Lift trat.

Er zog die Augenbrauen hoch, als er sie sah. »Purpur, hm?«, sagte er.

»Es nennt sich ›Feurige Pflaume‹«, sagte Susan und berührte ihr Haar. Es war früher türkis gewesen. Und zuvor pink. Susan warf einen Blick zur Tür der psychiatrischen Station. Wenn Henry hier war, um mit Archie zu reden, dann hatte die Sache an der Gorge vielleicht doch etwas mit Gretchen zu tun. »Sind Sie wegen der Parkplatzgeschichte hier?«, fragte sie.

»Ich besuche nur einen Freund«, antwortete Henry.

Henry machte keine Besuche am Vormittag. Zumindest war er noch nie gekommen, während sie da war.

»Sie können mir vertrauen«, sagte Susan. Sie wusste, dass ihr Henry nicht glaubte. Und vielleicht stimmte es auch gar nicht. Aber Susan wollte, dass es so war.

Henry hob die Hand zum Klingelknopf, aber dann zögerte er und wandte sich zu Susan um. »Wissen Sie, was ein Journalist ist?«, fragte er.

»Was?«, sagte Susan.

Henry verzog keine Miene. »Ein toter Reporter.«

»Autsch«, sagte Susan.

»Ist geklaut«, sagte Henry.

Susan beugte sich vor. »Kennen Sie den von der Frau, die angehalten wird, weil sie zu schnell gefahren ist?«, fragte sie. Sie konnte sich Witze nie merken. Aber diesen hatte sie so oft von ihrer Mutter gehört, dass er ihr im Gedächtnis geblieben war.

»Erzählen Sie ihn nur, wenn er schmutzig ist«, sagte Henry.

Susan strich sich eine purpurne Locke aus den Augen. »Der Polizist fragt, warum sie es so eilig hat«, sagte sie, »und die Frau erklärt, sie sei auf dem Weg zur Arbeit. ›Dann sind Sie wohl Ärztin‹, sagt der Polizist, ›und ein Leben ist in Gefahr‹. ›Nein‹, sagt die Frau, ›ich bin Arschlochdehnerin.‹« Susan kicherte. Henrys Miene verdüsterte sich. Susan kam der Gedanke, dass Henry dieser Witz vielleicht nicht gefallen würde, aber jetzt gab es kein Zurück mehr. »›Arschlochdehnerin?‹, sagt der Polizist, ›was ist das denn?‹ ›Na ja, man fängt mit einem Finger an‹, sagt die Frau.« Susan hob einen Finger und wackelte zur Verdeutlichung damit. »›Dann arbeitet man den nächsten hinein, bis man eine ganze Hand drin hat.‹« Susan demonstrierte; es sah aus, als würde sie einen Truthahn füllen. »›Und dann die andere Hand, und man dehnt immer weiter, bis es ungefähr einsachtzig groß ist.‹« Sie zeigte es pantomimisch. »›Was tut man mit einem eins achtzig großen Arschloch?‹, fragt der Polizist.«

»Lassen Sie mich raten«, sagte Henry. »Man hängt ihm eine Dienstmarke um.«

Susan ließ die Hände in den Schoß sinken. »Sie kannten ihn doch schon.«

Henry drückte auf die Klingel. »Meiner war besser«, sagte er.

»Ich kann ein gutes Buch über diesen Fall schreiben«, sagte Susan. »Vielleicht sogar ein wichtiges.« Sie wussten beide, was gemeint war. Nicht so etwas wie Das letzte Opfer. »Gretchen ist für manche Leute eine Berühmtheit. Ich möchte das erkunden. Ich möchte die Faszination von Gewalt in unserer Kultur verstehen.«

»Kommen Sie, Susan«, sagte Henry und legte die Hand in den Nacken. »Lassen Sie ihn etwas Neues anfangen.«

»Wissen Sie, woran ich jetzt gerade arbeite?«, fragte Susan. »Es ist ein Buch fürs Klo. Tausend verrückte Arten zu sterben. Zum Beispiel, wie viele Leute jedes Jahr durch herunterfallende Kokosnüsse umkommen.«

»Wie viele?«, fragte Henry.

»Etwa hundertfünfzig«, sagte Susan. »Sie sind wirklich gefährlich.« Sie hob erneut den Finger. »Die Sache ist die, dass ich dieses Buch über Gretchen ohne ihn nicht schreiben kann.« Sie sah Henry flehentlich an.

Eine weibliche Stimme krächzte aus der Sprechanlage. »Kann ich Ihnen helfen?«

»Endlich«, murmelte Henry. »Hier ist Henry Sobol, ich möchte zu Archie Sheridan.«

»Ich bin sofort da«, kam es gut gelaunt zurück.

Susan wollte nicht klein beigeben. »Ich habe gesehen, wie sie ihm die Kehle durchgeschnitten hat«, sagte sie. Sie und Henry waren beide dabei gewesen. Susan hatte ein Geschirrtuch an Archies Hals gehalten, hatte sein warmes Blut durch den Stoff sickern gespürt. Sie gab sich die Schuld an Gretchens Flucht. Sie fragte sich, ob Henry ihr ebenfalls die Schuld gab. Immerhin hatte sie Gretchen in einem Anfall von Panik den Zugang zu einer Waffe verschafft.

Henry musterte sie von Kopf bis Fuß und runzelte die Stirn. Susan dachte, er würde eine spöttische Bemerkung über ihr Haar machen. Aber stattdessen sah er sie mit zusammengekniffenen Augen an und sagte: »Sie geben auf sich acht, ja?«

»Ich nehme Vitamine«, sagte Susan.

Henry seufzte. »Ich rede davon, dass Sie nicht immer denselben Weg zur Arbeit fahren«, sagte er. »Ihre Tür nachts absperren. Solche Dinge.«

Susan bekam eine Gänsehaut. Wenn Henry sie dazu aufforderte, musste er es für möglich halten, dass sie in Gefahr war. »O Gott«, sagte sie. »Sie glauben, es könnte tatsächlich Gretchen sein.«

»Treffen Sie einfach ein paar Vorsichtsmaßnahmen«, sagte Henry. »Geht das?«

Susan schnürte die Angst die Kehle zu. Vorsichtsmaßnahmen? Sie war wieder zu ihrer Mutter gezogen. Solange Susan zurückdenken konnte, hatten sie ihre Haustür nie abgesperrt – bis vor zwei Monaten. Seither hatte Bliss, ihre Mutter, acht Schlüssel verloren. »Was ist da draußen passiert?«, fragte sie. »Gibt es etwas, das Sie nicht veröffentlichen?«

Die Tür ging auf, und eine Schwester erschien.

»Ich hätte nichts sagen sollen«, sagte Henry.

»Glauben Sie, ich denke nicht die ganze Zeit an sie?«, sagte Susan. »Wohin ich gehe, sehe ich ihr Gesicht. Es ist auf allen Kanälen. Gestern habe ich in der Stadt einen Jugendlichen T-Shirts mit dem Aufdruck LAUF, GRETCHEN verkaufen sehen. Sie verkaufen diese herzförmigen digitalen Schlüsselkettchen, die die Tage seit ihrer Flucht zählen. In L. A. kann man sich eine Gretchen-Lowell-Maniküre machen lassen. Rosa mit blutroten Spitzen.«

Die Schwester starrte Susan an. Susan kümmerte es nicht.

»Wenn sie wieder in der Gegend ist«, sagte sie, »haben die Leute ein Recht, es zu erfahren. Sie müssen sich an die Öffentlichkeit wenden.«

Henry ging durch die Tür.

»Ich warte hier«, sagte Susan. Die Tür ging zu. Susan lehnte sich in ihrem Stuhl zurück. Wenn Gretchen wieder da war, würde sie sich einen nach dem anderen von ihnen schnappen, nur zum Spaß.

Sie rief Derek wieder an.

Er ging nicht ran.

Susan wühlte in ihrer Handtasche, zog die Wagenschlüssel heraus und schaute auf die Digitalanzeige an der Schlüsselkette. Gretchen war seit sechsundsiebzig Tagen auf freiem Fuß.

Für den Fall, dass sie hundert Tage schaffte, hatte eine Bar in der City versprochen, den ersten hundert blonden Frauen, die durch die Tür spazierten, einen Bloody Mary zu spendieren.

Wenn man schon ermordet wurde, dann lieber betrunken.