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Susan trank einen Schluck lauwarmen Kaffee aus einem gesprungenen Becher und klickte durch einen weiteren Satz Kopfbilder im Polizeicomputer.

»Und?«, fragte Claire.

»Gibt es Bilder nur von ihren Zähnen?«

»Glauben Sie mir, wenn dieser Bursche im System ist, tauchen die Zähne als besonderes Merkmal auf.«

Die Büros der Task Force Beauty Killer befanden sich in einer alten Bank, die ihnen die Stadt vor vier Monaten zur Verfügung gestellt hatte, als Archie Sheridan von seinem Genesungsurlaub zurückgekehrt war, um den Heimweg-Würger zu jagen. Das letzte Mal war Susan hier gewesen, weil Gretchen Lowell aus dem Gefängnis geflohen war und Archie mitgenommen hatte.

Es war zwei Uhr morgens, aber darauf wäre man bei all der Betriebsamkeit nie gekommen. Sie waren alle da, jeder einzelne Detective der Task Force, selbst die Angestellte vom Empfang. Internationale Landkarten bedeckten die Wände, Stecknadeln markierten jede Sichtung, jedes Verbrechen, das möglicherweise mit Gretchen zu tun hatte.

Die Task Force beim Herald mochte im Lauf der letzten Monate gelangweilt und zynisch geworden sein – die echte Task Force Beauty Killer schuftete schwer.

Drei Fotos waren über den Karten befestigt. Alle drei schienen anlässlich einer Verhaftung aufgenommen worden zu sein. Eins war von einer jungen Frau, die beiden anderen von Männern mittleren Alters.

»Wer sind die?«, fragte Susan.

»Unsere Opfer«, sagte Claire. »Alle drei waren obdachlos. Der Mann links hieß Abe Farley.« Sie stand auf und ging zu den Fotografien. Abe Farley hatte einen langen, grauschwarz gesprenkelten Bart und ein abgezehrtes, wettergegerbtes Gesicht. »Sechsundfünfzig«, sagte Claire. »Wurde zuletzt im Dezember 2004 gesehen. Das war sein Kopf, der beim Pittock Mansion herumgekugelt ist.« Sie berührte die mittlere Fotografie. Dieser Mann hatte schulterlanges, helles Haar und ein längliches, aristokratisches Gesicht. »Jackson Beathe«, sagte sie. »Zuletzt im März 2005 gesehen. Irgendwie gut aussehend, nicht?« Claire machte einen Schritt nach rechts. »Die Frau neben ihm auf der Bank im Rosengarten hieß Braids Williams.« Sie war schlank und dunkelhäutig und lächelte auf dem Bild. »Sie verschwand 2006. Todesursache steht noch nicht zweifelsfrei fest, aber wie es aussieht, wurden die beiden erstochen.«

Susan blickte auf die drei Gesichter, drei Leben zu einem Foto reduziert. »Wie haben Sie sie identifiziert?«

»Sie waren als vermisst gemeldet«, sagte Claire. »Angehörige, Freunde, Sozialarbeiter. Wir gingen die Vermisstenmeldungen durch. Es gab zahnärztliche Unterlagen.« Sie drehte sich wieder zu den Fotos um und strich zärtlich über das Gesicht von Braids Williams. »Jemand hat sie erstochen, ihnen die Augen entfernt und sie für ein paar Jahre begraben, um sie dann wieder auszubuddeln. Die Augen wurden in einem Glas Formaldehyd aufbewahrt.« Sie ließ die Hand sinken und drehte sich zu Susan um. »Braids Williams’ Augen wurden Fintan English eingesetzt. Die anderen lagen im Spülkasten der Parkplatztoilette.«

Henry stand in der Tür. Er hatte die Ärmel aufgekrempelt und trug einen Stapel Papiere in der Hand. »Gretchen hat die Obdachlosen nicht getötet«, sagte er. »Dafür war es nicht annähernd grausig genug.«

»Es war also nicht Gretchen«, sagte Susan.

»Noch bin ich allerdings nicht bereit, irgendetwas völlig auszuschließen«, sagte Henry.

»Wir gehen jetzt den Computer von diesem Pfleger durch, um zu sehen, ob er irgendwelche Sites besucht hat, die einen Bezug zu Gretchen haben. Könnte sein, dass er mit dieser Gruppe zu tun hatte.«

Susans Gesicht schmerzte. Die Sanitäter hatten das Loch in ihrer Wange ausgespült und verbunden, aber niemand hatte ihr ein Schmerzmittel angeboten. Sie berührte vorsichtig die weiße Gaze.

»Versuchen Sie es auf www.iheartgretchenlowell.com«, sagte Susan. »Das ist die Seite, die die Spinner in dem Lagerhaus benutzt haben.«

Claire atmete aus. »Gut«, sagte sie. »Danke.« Sie wandte sich an Henry. »Ich gehe Martin Bescheid sagen.« Sie drehte sich noch einmal zu Susan um. »Passen Sie auf sich auf«, sagte sie und verließ den Raum.

Henry breitete die Papiere auf dem Tisch vor Susan aus. »Hier sind Fotos von Ausreißern, die im letzten Jahr gemeldet wurden.«

Susan erkannte das Mädchen sofort. Sie legte die Hand auf eins der Bilder. »Das ist sie.«

»Sicher?«, fragte Henry.

Susan sah sich das Bild genauer an. Der Name über dem Bild war Margaux Clinton. »Sie nannten sie ›Pearl‹«, sagte Susan.

Henry drehte das Bild um und betrachtete es. »Vielleicht ein Straßenname«, sagte er. »Sie stammt aus Eugene. Ich schicke jemanden von dort unten zu ihrer Mutter. Und ich schreibe sie zur Fahndung aus.«

»Wie alt ist sie?«, fragte Susan.

Henry warf einen Blick in den Bericht. »Sechzehn.«

Es klopfte an der Tür, und ein uniformierter Beamter kam herein, gefolgt von Leo Reynolds. Leo trug einen gut geschnittenen Anzug, keine Krawatte, ein frisches weißes Hemd, das am Kragen offen war, und sein dunkles Haar war noch feucht vom Duschen. Vier Uhr morgens, und er hatte sich die Zeit genommen, Manschettenknöpfe anzulegen.

Henry kniff den Mund zusammen und blickte von Susan zu Leo und wieder zurück. »Was soll das?«, presste er zwischen den Zähnen hervor.

»Ich habe ihn angerufen«, sagte Susan. »Er ist mein Anwalt.«

Henry sah sie mit gefurchter Stirn an. Er konnte noch missbilligender dreinschauen als ihre Mutter.

Susan sank ein wenig in ihrem Stuhl zusammen.

»Wo ist Ihr verrückter kleiner Bruder?«, fragte Henry Leo.

»Ich weiß es nicht«, sagte Leo. »Ich will ihn da rausholen. Glauben Sie mir, wenn ich wüsste, wo er ist, würde ich es Ihnen sagen.«

Henry machte einen Schritt auf Leo zu. »Wir müssen mit Jeremy reden«, sagte er. »Er weiß, wer diese Leute sind.« Er wartete einen Moment. »Ich muss außerdem mit Ihrem Vater reden.«

Leos Stimme klang leise und vernünftig, aber auch entschlossen. »Mein Vater lässt im Augenblick seine nicht unerhebliche Gemeindeorganisation nach Jeremy suchen«, sagte er. »Vielleicht wäre es besser, seine Befragung zu verschieben.«

»Archie vertraut Jack«, mischte sich Susan ein. Sie wusste nicht genau, ob es stimmte. Aber sie brauchte Jack und Leo Reynolds im Augenblick. Und Archie brauchte sie ebenfalls.

Henry rieb sich das Gesicht. Dann stützte er beide Hände auf den Tisch und beugte sich über Susan. »Archie hat Mitleid mit Jack, weil Gretchen seine Tochter gefoltert und ermordet hat«, sagte er. »Archies Antrieb sind Schuldgefühle.« Seine blauen Augen waren hart und von roten Adern durchsetzt. »Wenn Sie das noch immer nicht kapiert haben, dann haben Sie gar nichts kapiert.«

»Wir finden sie«, sagte Leo. »Alle.«

Er sagte es mit so viel beiläufiger Zuversicht, dass ihm Susan beinahe glaubte.

Leo griff in die Anzugstasche, zog ein ordentlich gefaltetes Blatt Papier hervor und hielt es Henry hin. »Es ist ein Hotel in der Innenstadt«, sagte er. »Jeremy hat bis vor drei Tagen dort gewohnt. Ich habe die Rechnung bis einschließlich heute Nacht bezahlt, wenn Sie sich also sein Zimmer ansehen wollen, haben Sie bis morgen Mittag Zeit. Erst dann wird man seine persönliche Habe entfernen.«

Henry nahm das Blatt und sah es an. Er blinzelte ein paarmal. »Okay«, sagte er.

Susan sah zu den drei Gesichtern an der Wand hinauf. »Sie glauben nicht wirklich, dass Archie mit diesen Leuten gehen würde, oder?«, sagte sie.

»Sie wissen nicht, was er durchgemacht hat«, sagte Henry.

Sie wusste es nicht. Aber Jeremy Reynolds wusste es.

»Sie können Zeit damit verschwenden, sich eine richterliche Verfügung zu besorgen, oder ich, als die Person, die die Rechnung bezahlt hat, kann Sie in Jeremys Hotelzimmer einlassen«, schlug Leo vor.

»Wo ist der Haken?«, sagte Henry.

Leo lächelte. »Meine Gesellschaft«, sagte er.