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Der Türsteher in George’s Dancin’ Bare las in einem Buch. Hinter ihm warb ein Flugblatt für einen Gretchen-Lowell-Double-Striptease-Wettbewerb.
»Ich suche nach Leo«, sagte Archie.
»Raum drei«, sagte der Türsteher, ohne aufzublicken.
In dem Club war mehr los, als es Archie in Erinnerung hatte, und es war lauter. Er versuchte sich gerade zu halten und nicht auf die Seite einzuknicken, wo die Schwellung von Gretchens Taser noch immer brannte. Die Luft war rauchgeschwängert. Vom neuen Jahr an würde Rauchen in Portlands Bars verboten sein, und es schien, als versuchten alle Leute noch möglichst viel Nikotin einzusaugen, solange sie es durften.
Archie bewegte sich wie ein Buckliger, aber niemand nahm Notiz von ihm. Ein Dutzend Männer waren um die erste Bühne versammelt, wo eine halb bekleidete Frau daran arbeitete, sich aus dem Rest ihrer Schwesterntracht zu schälen. Hinter der Bühne hing ein Schild mit dem Markenzeichen des Clubs, ein ausgestrichener Tanzbär über der Zeichnung einer nackten Frau. Neben diesem Schild wies ein zweites mit der Aufschrift MÄDCHEN AUS NÄCHSTER NÄHE und einem Pfeil nach rechts.
Archie folgte ihm in einen Gang, in dem es vier Türen gab, alle mit bunten Kunstlederflicken verkleidet. Archie ging zur Tür Nummer drei und klopfte. »Ich bin es«, sagte er. Er war sich nicht sicher, ob Leo ihn über die Hauptlautsprecher des Clubs hören würde, falls er da drin war.
Er drückte die Klinke.
Die Tür war nicht verschlossen.
Er öffnete sie einen Spalt und spähte hinein.
Der Raum war verspiegelt. Verspiegelte Wände, verspiegelte Decke. Wenn sie gewusst hätten, wie, hätten sie den Boden verspiegelt. Ein kirschrotes Kunstledersofa lief um den Raum herum.
Leo blickte auf und winkte Archie in den Raum. Er lümmelte in dem roten Sofa, die Arme auf den Oberschenkeln. Graue Anzughose, weißes Hemd, halb aufgeknöpft. Ein Glas mit einer dunklen Flüssigkeit stand neben ihm auf dem Sofa.
Eine gut gebaute, blonde Stripperin mit auftätowiertem Stern tanzte an einer Stange in der Mitte des Raums.
Die Stripperin sah auf, als Archie hereinkam. Sie hatte eins ihrer langen Beine um die Stange gewickelt, das andere stand in einem Stilettoschuh auf dem Boden, und sie bog sich nach hinten, die Brüste hoch in der Luft, sodass sich ihr blondes Haar auf dem Boden türmte. »Hi«, sagte sie.
»Das ist Star«, sagte Leo.
»Hi, Star«, sagte Archie.
Auch hier drin lief Musik. Archie wusste nicht, was es war. Irgendetwas Elektronisches, stimmungsvoll.
Archie setzte sich neben Leo auf das Sofa. Es tat gut, sitzen zu können.
»Ist eine Weile her, seit wir das getan haben«, sagte Leo.
Leo war einundzwanzig gewesen, als Archie ihn nach der Ermordung seiner Schwester kennengelernt hatte, damals schon sehr reif für sein Alter und damals schon seines Vaters Sohn. Er hatte alle guten Eigenschaften von Jack: Aussehen, Selbstvertrauen, Gerissenheit. Er war dazu aufgebaut worden, das Familienunternehmen fortzuführen, aber er wollte raus.
Also hatte ihn Archie mit Raul Sanchez bekannt gemacht, seinem Kontaktmann beim FBI. Archie hatte nicht vorausgesehen, dass ihn die Bundespolizei dazu überreden würde, genau das zu tun, was sein Vater auch wollte. Am Ende hatte es sich für Jack mehr bezahlt gemacht als für Leo. Es war, ohne dass er es wusste, der Grund, warum man ihm gestattete, seine Geschäfte weiterzubetreiben. Leo hatte Zugang zu Drogenoperationen auf der ganzen Welt. Und solange FBI und Drogenfahnder über die Umsätze von Jack Reynolds’ Unternehmen Bescheid wussten, ging es in Ordnung für sie.
Irgendwie kamen die Leute so oder so an ihr Heroin.
Es war einer der Gründe, warum Archie so eng mit der Familie Reynolds in Kontakt geblieben war. Leo hatte Zugang zu allen möglichen Verbrecherkreisen, und Archie hatte während seiner Tätigkeit als Leiter der Task Force mehr als einmal Gebrauch davon gemacht.
Star hakte ein Bein um die Stange und drehte sich. Der Raum war klein, und Archie konnte sie riechen, ihren Körperschweiß, das Gel in ihren Haaren.
Leo nahm einen Schluck von seinem Drink. »Tut mir leid wegen meines Bruders«, sagte er. Seine Augen waren blutunterlaufen, die Pupillen riesig.
»Wie lange sind Sie schon hier?«, fragte Archie.
»Ein paar Stunden.«
Eher den ganzen Nachmittag. »Sie sehen fix und fertig aus«, sagte Archie.
»Ja.«
Die Stripperin schaukelte vor und zurück und ließ die Finger über ihre Nippel flattern.
»Sie ist schön, nicht wahr?«, sagte Leo.
»Sie ist sehr fit«, sagte Archie.
Leo lachte. »Gefällt sie Ihnen nicht?«
»Sie sieht aus wie Gretchen«, sagte Archie.
Leo legte ihm die Hand aufs Knie. »Manchmal ist eine blonde Frau nur eine blonde Frau.«
Archie versuchte, aus Leo schlau zu werden. »Wussten Sie Bescheid?«, sagte er.
»Lass uns eine Minute allein, Star«, sagte Leo. Die Stripperin hörte auf zu schaukeln, hob einen seidenen Morgenmantel auf, der auf dem Boden lag, und ging ohne ein Wort hinaus, nachdem sie ihn angezogen hatte.
Leo runzelte die Stirn. »Die Dreiecke haben mich gestört«, sagte er. Er trank noch einen kleinen Schluck und behielt ihn einen Moment lang im Mund. »Jeremy war immer eifersüchtig auf Isabel gewesen. Er glaubte, dass unser Vater sie mehr liebte als ihn. Als Jack dann die Isabel nach ihr benannte, drehte Jeremy durch – er versuchte das Boot zu versenken, zerriss die Segel, schnitt die Leinen durch.« Leo wärmte den Drink in seiner Hand. »Ich habe mich immer gefragt, ob die Schnittspuren auf Isabels Körper Boote sein sollten.«
Vielleicht hatte sich Jeremy selbst eingeredet, dass Gretchen seine Schwester getötet hatte. Oder aber er hatte die ganze Zeit einfach gelogen.
»Ab wann waren Sie sich sicher?«, fragte Archie.
»Er war als Kind von Augen fasziniert. Hat sie immer aus Isabels Puppen springen lassen und in der Hosentasche herumgetragen.« Leo schaute in sein Glas. »Die Augen. Da wusste ich Bescheid.«
»Gretchen hat mich heute Abend besucht«, sagte Archie.
Leo schaute von seinem Glas auf.
»Jeremy ist tot. Sie hat ihn getötet. Sie hat mir seine Augen gebracht.«
Leo blieb lange stumm. Dann leerte er sein Glas auf einen Zug und stellte es auf das Sofa. »Nur die Augen?« fragte er.
»Großer Gott«, sagte Archie. »Er lebt noch.«