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Susan blickte auf die Auswahl an Selbstverteidigungssprays, die auf dem Beifahrersitz ihres Wagens lagen. Pfefferspray. Chemische Keule. Ein giftiges Kräuterspray, das ihre Mutter aus Muskatnuss hergestellt hatte. Sie räumte alles in ihre Handtasche, ließ den Wagen an und fuhr aus der Tiefgarage des Krankenhauses.

Leichenteile.

Sie blickte zum Himmel. Es hatte seit Anfang Juli nicht mehr geregnet, aber heute war kein blauer Himmel in Sicht. Der Parkplatz an der Gorge war fünfundvierzig Minuten entfernt. Sie konnte es in dreißig schaffen – es sei denn, es begann zu regnen.

Sie schob eine Jimi-Hendrix-CD in die Stereoanlage und verließ gerade das Krankenhausgelände, als das Handy in ihrem Schoß vibrierte. Vor Schreck hätte sie beinahe einen Ford Explorer gerammt. Susan trat auf die Bremse, worauf sich der Inhalt ihrer Handtasche größtenteils auf den Boden ergoss. Die Frau am Steuer des Explorers hatte blonde Haare. Sie hatte den Kopf abgewandt, und Susan konnte ihr Gesicht nicht sehen. Aber ihr Haar hatte etwas an sich …

Susan fröstelte.

Gretchen.

Einen Moment lang war Susan zu keiner Bewegung fähig. Der Motor ihres Wagens starb ab, und sie kam zu sich und hupte anhaltend, in der Hoffnung, die Frau würde in ihre Richtung schauen, aber die Frau fuhr weiter.

Susan sah auf die andere Straßenseite, wo eine Reklametafel mit Gretchens Gesicht für eine Sonderausgabe von Americas Sexiest Serial Killers warb. Eine weitere blonde Frau fuhr vorbei.

Susan schüttelte den Kopf, ließ ihren Saab wieder an und fuhr auf die Glisan Street.

Das Ganze war lächerlich.

Gretchen war längst über alle Berge. Und wenn nicht – nun, Gretchen Lowell würde sich nicht einfach so in einem Ford Explorer schnappen lassen.

Das Handy in ihrem Schoß vibrierte wieder, und Susan zuckte zusammen.

Sie schloss die Augen. So durfte es nicht weitergehen. Wenn sie so weitermachte, starb sie an einem Herzinfarkt, bevor sie dreißig war.

Das Handy. Sie hob es auf und antwortete. Sie konnte die Stimme daraus kaum verstehen beim Jaulen der elektrischen Gitarre aus ihren Wagenlautsprechern. »Was?«, sagte sie.

Die Stimme wurde lauter. »Hallo?« Es war eine Männerstimme. Sie erkannte sie nicht. Der Mann wirkte verwirrt. »Hallo?«, sagte er wieder.

Susan stellte die Musik leiser. »Tut mir leid«, sagte sie. »Are You Experienced.«

»Ob ich was bin?«, fragte der Mann.

»Nicht Sie«, erwiderte Susan. »Das Album. Hendrix. Are You Experienced.« Im Krankenhaus musste Mittagspause sein, da der Verkehr so zäh floss. »Kann ich Ihnen helfen?«, fragte Susan.

»Susan Ward?«, sagte der Mann.

Ihr vollständiger Name. Susan umklammerte das mit Schaffell verkleidete Lenkrad. Sie wusste, was kommen würde. »Ich habe die Zahlung für das Studiendarlehen gestern losgeschickt«, sagte sie. Es war gelogen. »Ich schwöre es.«

Es gab eine Pause. »Wie bitte?«, sagte der Mann.

In diesem Teil der Glisan Street gab es nur Blumenläden und Bars. »Sind Sie nicht von Sallie Mae?«

»Nein«, sagte der Mann.

Susan ging im Geist den Stapel der Rechnungen auf ihrem Tisch durch. »Visa?«, riet sie.

»Ich will keine Rechnungen eintreiben«, sagte der Mann.

»Ach so, das ist gut.« Die Ampel an der Kreuzung vor ihr war rot, und Susan hielt am Ende einer langen Fahrzeugschlange. Es begann zu regnen, und sie stellte die Scheibenwischer an, die erneuert gehörten und ihre Sicht nur verschlechterten.

»Ich möchte über einen Artikel mit Ihnen reden«, sagte der Mann.

Susans Griff um das Lenkrad verstärkte sich wieder. Ein verärgerter Leser. Na großartig. Wieso hatten die Leute das Bedürfnis, es sie jedes Mal wissen zu lassen, wenn sie sich geärgert hatten? »Wenn Sie ein Problem mit etwas haben, das ich geschrieben habe, schicken Sie am besten einen Brief an die Redaktion«, sagte sie.

»Sie haben an meine Website geschrieben«, sagte der Mann. »Sie meinten, Sie seien daran interessiert, etwas über unsere Gruppe zu schreiben.«

Susan hatte in den letzten Wochen an Hunderte von Gretchen-Lowell-Fanseiten geschrieben und um Interviews und Informationen gebeten. »Wer sind Sie?«, fragte sie. »Welche Seite?«

»In North Fargo 397 liegt eine Leiche«, sagte der Mann.

Das war nicht komisch. »Mit wem spreche ich?«, fragte Susan.

»Mit jemandem, der Schönheit zu schätzen weiß.«

In der Stimme des Mannes lag etwas tödlich Ernstes; es jagte ihr einen Schauder über den Rücken.

»Ist das echt?«, fragte sie.

Hinter ihr wurde gehupt. Sie blickte auf und sah, dass die Ampel umgeschaltet hatte.

Sie drehte sich um. Ein Mann in einem schwarzen SUV zeigte ihr den ausgestreckten Mittelfinger. Sie gab Gas. »Hallo?«, sagte sie ins Telefon. Sie schaute auf das Display. Der Mann hatte aufgelegt.

Susans Puls raste. Sie hielt am Straßenrand und ließ den Typ in dem SUV passieren, ohne ihn auch nur böse anzuschauen. »Was zum Teufel ist da los?«, sagte sie leise. Sie markierte die Nummer des eingehenden Anrufs und rief sie zurück.

Niemand meldete sich. Kein Anrufbeantworter. Es war eine örtliche Festnetznummer. Aber sie sagte ihr nichts.

Wenn es eine Leiche gab, warum teilte man es ihr mit? Warum nicht der Polizei? Sollte sie die Polizei rufen? Das wäre idiotisch. Sie wegen eines verrückten Anrufers zu belästigen. Henry würde es nur wieder für einen Witz halten.

Aber wenn es tatsächlich stimmte und der Kerl wirklich von einem dieser Beauty-Killer-Fanclubs war, dann hätte sie ihr Buch unter Dach und Fach. Sie könnte sich die Agenten aussuchen. Sogar Archie würde vielleicht einem Interview zustimmen. Und sie hätte ein großartiges Eröffnungskapitel …

Wie war die Adresse gleich noch gewesen? Verdammt. Drei noch was? Drei neun sieben? Susan hielt nach einem Kugelschreiber Ausschau und fand mehrere auf dem Boden vor dem Beifahrersitz. Sie zog ein Schokoladenpapier aus einem Türfach, in das sie es gestopft hatte, und wendete es.

Fargo. Sie schrieb es auf die weiße Innenseite der Verpackung. Es war North Fargo. North Fargo 397. Sie war sich so gut wie sicher.

Die Gorge würde warten müssen.