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Die Adresse von Susans Karte befand sich auf der anderen Seite des Flusses, im Südwesten Portlands, in einem Viertel, in dem es keine Bäume oder Gehsteige gab. Sie hatten drei Stadtautobahnen benutzen müssen, um hinzukommen. Susan spähte durch die Windschutzscheibe zu dem gedrungenen, hässlichen Bau. Die Windschutzscheibe war schmutzig – man konnte die Spur wimperngroßer Beine und gelben Safts verfolgen, wo der Scheibenwischer tote Insekten über das Glas gerieben hatte. Das richtete Regen im Sommer an – er verschmierte irgendwie nur alles.

»Tut mir leid wegen der Windschutzscheibe«, sagte Susan.

Archie antwortete nicht. Er sah auf die Karte in seiner Hand und dann zu dem Gebäude. »Das ist es«, sagte er.

»Welche Seite?«, fragte Susan. Das Doppelhaus mit dem Flachdach aus den 1980ern stand am Ende einer Sackgasse. Nichts an dem Ding stimmte. Die bunten Ziegel des Erdgeschosses passten nicht zu der grauen Kunststoffverkleidung des Obergeschosses. Es gab zwei Eingangstüren, eine grau, eine blau, jeweils mit einer Betontreppe davor. Die Treppe mit der grauen Tür war kahl, die vor der blauen war mit Pflanzen in Keramiktöpfen gesäumt. Zerschlissene buddhistische Gebetsfahnen flatterten am Geländer.

»4A«, sagte Archie.

Die blaue Tür.

Er schickte sich an auszusteigen.

»Warten Sie«, sagte Susan. »Haben Sie eine Waffe?«

Archie lächelte sie geduldig an. »Auf der psychiatrischen Station haben sie es nicht so mit Waffen«, sagte er. »Und meine Dienstwaffe habe ich abgegeben, als ich mich beurlauben ließ.«

»Dann besorgen Sie sich eine bei Wal-Mart oder so«, sagte Susan.

Archie zog die Augenbrauen in die Höhe.

»Schön«, sagte Susan. »Aber ich komme mit Ihnen. Irgendwer muss Sie davon abhalten, sich umbringen zu lassen.«

Er schien nicht in der Stimmung zu sein, mit ihr zu streiten. Susan hatte eine besondere Begabung, Leute in dieser Weise zu ermüden. Sie stieg aus und folgte ihm den betonierten Gehweg zu 4A hinauf. Niemand war zu sehen. Ein einzelnes Eichhörnchen flitzte durch den Vorgarten und unter eine absterbende Lorbeerhecke an der Straße.

Archie stieg die drei Stufen zur Tür hinauf und läutete. Susan hörte das Klingeln – ein anhaltender Ton wie ein Herdwecker. Aber niemand machte auf.

»Sie wollen hoffentlich nicht einbrechen, oder?«, fragte Susan. »Ich bin nämlich diese Woche schon einmal in ein Haus eingebrochen.« Sie unterdrückte ein nervöses Lachen. Archie würde nicht in ein Haus einbrechen. Er war ein Erwachsener. Und ein Polizist. Er würde Henry anrufen. Jeden Augenblick.

Susan sah zur Straße zurück. Noch immer war niemand zu sehen. Keine Autos. Das Eichhörnchen war verschwunden.

Archie ging in die Hocke. Susans Magen zog sich zusammen. Er wollte doch einbrechen. Er wollte das Schloss knacken. Gleich würde er sie um eine Haarnadel bitten, wie sie es in den Filmen immer machten. Sie fühlte sich schuldig. Sie hatte keine Haarnadel. Er würde eine Kreditkarte nehmen müssen.

Aber er bat sie nicht um eine Haarnadel. Er drehte die Fußmatte um. Sie war aus Hanffasern – Susan würde es überall erkennen. Unter der Matte lag ein Kuvert. Die Ecke des Kuverts hatte herausgeschaut, wie ihr nun klar wurde, sie hatte es nur nicht bemerkt.

»Was ist das?«, fragte Susan.

Archie hob das Kuvert auf, indem er es nur an den Rändern hielt, und drehte es so, dass sie es sehen konnte. In offenbar derselben Handschrift wie auf den Valentinskarten stand da Archies Name. Er hielt den Umschlag gegen den Himmel und betrachtete ihn. Dann lächelte er.

»Haben Sie einen Stift?«, fragte Archie.

Susan griff in die Außentasche ihrer Handtasche und zog einen schwarzen Filzstift heraus. Archie nahm ihn, schob ihn unter die Lasche des Kuverts und arbeitete ihn an der Klebelinie entlang, bis sich die Lasche anhob. Während er den Umschlag weiter an den Rändern hielt, spähte er hinein und drehte ihn dann um. Ein Schlüssel fiel in seine Handfläche.

Susans Anspannung wuchs. Sie hatte im College einmal ein ähnliches Spiel gespielt. Eine Schnitzeljagd, wo man bei jeder Station einen neuen Hinweis bekam. Aber damals hatten sie versteckte Gartenzwerge finden müssen.

Archie ließ das Kuvert in seine Jackentasche gleiten, schloss die Faust um den Schlüssel und klopfte an die blaue Tür. »Hier ist die Polizei«, rief er. »Hier ist Archie Sheridan. Jemand zu Hause?«

Aber niemand kam an die Tür.

Archie sah Susan mit einem Achselzucken an und steckte den Schlüssel ins Schloss. »Bleiben Sie hier«, sagte er.

Susan kam nun voll zu Bewusstsein, dass Archie ein kürzlich entlassener Psychiatriepatient war, dass sie im Begriff waren, die Tür zu wer weiß was zu öffnen, und dass sie keine Unterstützung und keine Waffe hatten – niemand wusste auch nur, wo sie waren. Sie war es nicht gewöhnt, die Stimme der Vernunft zu sein, aber das hier war keine gute Idee.

»Brauchen Sie keinen Durchsuchungsbefehl?«, fragte sie.

»Ich wurde eingeladen«, sagte Archie und zog seine Schuhe aus.

»Was tun Sie da?«

Archie stellte seine Schuhe sorgfältig nebeneinander ab, so wie manche Leute vielleicht ihre Hausschuhe am Ende des Betts abstellen. »Ich versuche, einen potenziellen Tatort nicht zu kontaminieren.«

Susan schnürte es die Kehle zu. »Ich weiß nicht, ob das eine so gute Idee ist«, sagte sie.

Archie stand einen Moment lang in seinen Socken da und sah aus, als überlegte er, was er von einer Speisekarte bestellen sollte, dann drehte er den Türknauf, ging ins Haus und schloss die Tür hinter sich. Die Gebetsfahnen am Geländer bewegten sich sanft im Wind. Susan wusste nicht, was sie tun sollte. Hier warten, wie es Archie gesagt hatte? Er war verrückt. Buchstäblich. Hineingehen? Das war ebenfalls verrückt. Sie blickte auf Archies Schuhe hinab, die, immer noch gebunden, neben den Keramiktöpfen standen, die die Treppe säumten. Die Pflanzen in den Töpfen hatten behaarte, muschelförmige Blätter, deren Innenseiten von einem geschwollenen, wächsernen Rosa waren, wie etwas Fleischliches, Lebendiges. Susan schaute wieder zu der blauen Tür, ihr Mund war trocken. »Archie?«, rief sie heiser.

Sämtliche Pflanzen in den Keramiktöpfen waren Venusfliegenfallen.