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»Das ist Gretchen Lowell.«
Archie sitzt in seinem Büro, und als er aufblickt, sieht er Bürgermeister Buddy Anderson mit einer umwerfend gut aussehenden blonden Frau in der Tür stehen. Sie ist die vielleicht schönste Frau, die Archie je gesehen hat. Ihre Züge sind vollkommen: voller Mund, gerade Nase, breite Wangenknochen und große Augen. Das langärmlige, fliederfarbene Kleid, das sie trägt, wölbt sich über den Brüsten, taucht an der Taille tief ein und fällt über die Rundung ihrer Hüften auf die Knie. Sie steht an den Türstock gelehnt, die schlanken Beine an den Knöcheln gekreuzt. Ihr Gesicht ist wie ein Herz geformt.
»Gretchen«, sagt Buddy mit seinem wölfischen Grinsen, »das ist Archie Sheridan.«
»Detective«, sagt sie, tritt vor und streckt ihm anmutig die Hand entgegen.
Archie steht auf, beugt sich über den Tisch und schüttelt die Hand. Er ist sich plötzlich bewusst, wie rau seine Handflächen sind. »Freut mich, Sie kennenzulernen«, sagt er.
»Sie ist Psychiaterin«, erklärt Anderson. »Sie glaubt, sie kann helfen, den Beauty Killer zu fangen.«
Es ist elf Uhr abends. Buddy hat angerufen und gefragt, ob er vorbeischauen könne. Elf Uhr abends und Archie arbeitet immer noch. Buddy eindeutig nicht. »Wir haben schon eine Profilerin«, sagt Archie.
Buddy lacht. Seine Wangen sind gerötet, und er trägt seinen Mantel nicht. Auf seinen gebleichten weißen Zähnen sieht man Rotweinflecken. »Sie ist nicht auf Annes Job aus«, sagt er.
»Ich erstelle keine Verbrecherprofile«, erklärt sie Archie. »Ich bin auf Traumaberatung spezialisiert.«
»Sie will dir helfen«, sagt Buddy.
»Danke«, sagt Archie. Er setzt sich wieder und schlägt einen Bericht auf, in der Hoffnung, dass sie die Botschaft verstehen. »Aber ich brauche keine Therapie.«
Buddy stößt Gretchen Lowell an und zwinkert. »Archie Sheridan ist solide wie ein Fels. Hat seine College-Liebe geheiratet. Ich glaube nicht, dass der Bursche auch nur je betrunken war.«
»Ich war betrunken«, sagt Archie.
Buddy greift plötzlich nach seiner Tasche, zieht ein Handy heraus und runzelt die Stirn. Er hält einen Finger in die Höhe und schlüpft an Gretchen vorbei aus dem Raum. »Hallo, Schatz«, sagt er in das Telefon. »Ich bin bei Archie.«
Archie seufzt.
Gretchen rührt sich nicht. Sie sieht ihn nur an und lächelt.
»Woher kennen Sie den Bürgermeister?«, fragt Archie.
»Ich kann Ihnen von Nutzen sein«, sagt sie.
Das fehlte ihm gerade noch – dass die neueste Eroberung des Bürgermeisters bei der Task Force herumhängt und aufmunternde Worte spricht. Sein Team würde nie wieder mit ihm reden. Aber der Bürgermeister teilte die Mittel für die Task Force zu. Wenn sie mit Buddy schlief, würde Archie letzten Endes nicht viel zu sagen haben.
»Wie lange machen Sie alle das jetzt schon? Zehn Jahre?«, fragt sie.
»Manche von uns«, sagt Archie.
»Ich biete nur Techniken an, damit umzugehen. Keine Beratung. Nur Reden.« Sie beugt sich vor und dreht das gerahmte Foto um, das Archie auf seinem Schreibtisch stehen hat. »Ihre Familie?«, fragt sie.
»Ja«, sagt er.
Sie dreht das Bild zu Archie zurück. »Sie sind wundervoll.«
»Danke«, sagt Archie.
»Ich schlafe nicht mit ihm«, sagt Gretchen.
Archie hustet. Er hält nach dem Bürgermeister Ausschau, aber der steht noch ein Stück entfernt im Flur und telefoniert.
»Nicht, dass es Sie etwas anginge«, fügt sie hinzu.
Archie schüttelt den Kopf. »Nein, natürlich nicht.«
Sie dreht die offene Akte auf seinem Schreibtisch herum und hebt ein Autopsiebild vom jüngsten Opfer des Beauty Killers auf. Ihre Augen weiten sich. »Wer ist das?«, fragt sie.
Archie ist dankbar, dass er über etwas anderes reden kann. »Sein Name ist Matthew Fowler. Wir haben seine Leiche letzte Woche oben beim Pittock Mansion gefunden.«
»Davon habe ich gehört«, sagt Gretchen. Ihre Unterlippe zittert leicht, während sie das Farbbild von Matthew Fowlers offener Brusthöhle betrachtet. Sie schaudert. »Was hat man mit ihm gemacht?«
Archie nimmt ihr das Foto aus der Hand und legt es in die Akte zurück. »Ich glaube nicht, dass Sie das wissen wollen«, sagt er freundlich.
Gretchen senkt den Blick zu ihm hinunter. »Stellen Sie mich auf die Probe.«
Archie lehnt sich in seinem Sessel zurück und blickt sie an. Sie hat keine Ahnung, was er gesehen hat. Sie hat die keimfreien Zeitungsberichte gelesen und die Sendungen über wahre Verbrechen im Fernsehen angeschaut, und sie glaubt, sie kann ein paar Wochen mit dem Fall verbringen und dann einen Artikel für eine Wissenschaftszeitschrift schreiben. »Man hat ihm die Gedärme entfernt«, sagt Archie.
Sie legt die Hand an den Mund und wendet den Kopf ab.
»Das ist keine Arbeit für Leute mit empfindlichem Magen«, sagt Archie.
Sie sieht ihn wieder an und lässt die Hand sinken, richtet sich ein wenig auf, wie um sich zu wappnen. »Wie?«, fragt sie.
Vielleicht hat Archie sie unterschätzt. »Gedärme entfernt« brachte die meisten Leute zum Schweigen. »Durch den After«, sagt Archie. »Mithilfe einer nicht identifizierten Saugvorrichtung.«
Gretchens Augenlider flattern. Archie hat vor Jahren aufgehört, Einzelheiten der Taten mit Debbie zu besprechen. Solche Bilder wurde man nicht wieder los. Je weniger man davon im Kopf hatte, desto besser. Er bereitet den Gnadenstoß vor. »Dann hat ihm der Beauty Killer einen Glasstab in den Penis geschoben und diesen zerbrochen.«
Er kann sie atmen hören, kurze, schnelle Stöße, ihre Beklemmung ist mit Händen zu greifen. »Versuchen Sie mich abzuschrecken?«, fragt sie.
»Das ist kein Hobby«, sagt Archie.
»Ich bin keine Dilettantin.«
»Was sind Sie?«
Sie lässt sich auf der Schreibtischkante nieder, setzt eine entschlossene Miene auf und fächert alle Fotos aus dem Autopsiebericht auseinander.
Ihr Körper bebt, während sie die Bilder betrachtet, und ihre Hand geht zu dem sanft geschwungenen Hals. Aber sie schaut weiter. Und nach einer Weile legt sie einen manikürten Finger auf eine vorhergehende Aufnahme von Matthew Fowlers Kopf. »Was sind das für Spuren?«, fragt sie.
Archie wirft einen Blick auf das Bild. »Ein Teil der Kopfhaut wurde chirurgisch entfernt«, sagt er. »Und der Schädel darunter abgeschabt.«
Ihre Augen werden groß und lebhaft. Sie grinst und tippt triumphierend auf das Bild. »Amativität«, sagt sie. »Es ist eine Vorstellung aus der Schädellehre. Das Gehirn ist das Organ des Geists. Verschiedene Kopfregionen haben bestimmte Funktionen.«
Archie blickt auf das Bild. Er spürt ihre Aufregung. Es ist Monate her, seit sie eine gute Spur hatten. »Amativität?«, sagt er.
Sie nimmt seine Hand in ihre, senkt ihren Kopf und legt seine Hand daran, um es zu demonstrieren. Ihre Gefühlsaufwallung – das Fieber ihrer Entdeckung – fließt wie elektrischer Strom zwischen ihnen hin und her. Es ist berauschend. »Diese Stelle hier hinten«, sagt sie und bewegt seine Finger in ihrem Haar zwischen Ohr und Nacken, am Rand des Schädels. Er spürt den knöchernen Hocker hart und warm unter seinen Fingerspitzen. »Das ist der Bauteil für Amativität«, sagt sie. »Er entspricht sexueller Anziehungskraft.«
Archie zieht seine Hand zurück und räuspert sich.
Gretchen streicht ihr Haar nach hinten und hebt den Kopf. »All diese Raserei«, sagt sie, »und Sie glauben immer noch, dass der Beauty Killer ein Mann ist?«
Archie sieht Gretchen an, die kaum einen Meter von ihm entfernt ist, und er weiß, er darf nie zulassen, dass sie an der Ermittlung teilnimmt. Er wird Buddy einfach mit Nein antworten müssen. Es ist zu gefährlich. Aber nicht in der Weise, wie er zuerst dachte.
»Hallo«, ertönt eine Stimme von der Tür.
Archies Herz setzt einen Schlag aus. Debbie.
Er dreht sich um, und da steht seine Frau mit einer Tüte Essen aus dem Imbiss im Eingang.
Sie hält sie hoch und lächelt, und dann sieht sie Gretchen fragend an.
Wie erklärt man das?
»Das ist Gretchen Lowell«, sagt Archie. »Sie ist Psychiaterin. Sie wird uns beraten.« Er schiebt seinen Stuhl zurück, geht zu seiner Frau hinüber und küsst sie leicht auf die Lippen. »Meine Frau Debbie.«