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North Fargo 397 war das unheimlichste Haus weit und breit. Der alte Bungalow stand verlassen in einem leeren Block, der sich vor langer Zeit in eine städtische Wiese verwandelt hatte. Die Asbestverkleidung war in einem Braunton gestrichen, der den Nachbarn selbst in seiner besten Zeit peinlich gewesen sein musste, und das Teerdach war mehr Moos als Schindeln. Sperrholzplatten bedeckten die Fenster. Die Worte ZUTRITT VERBOTEN waren auf das Sperrholz vor der Eingangstür gesprüht. Hätte Susan Schauplätze für einen Horrorfilm ausgekundschaftet, sie hätte nicht weiterzusuchen brauchen.
Es musste ein Scherz sein. Es passte zu gut.
Susan saß in ihrem Wagen am Randstein und spähte die Straße hinauf und hinunter. Es war später Vormittag, und niemand war zu sehen. Es gab keine anderen Häuser in diesem Block, und der Kirchenparkplatz auf der anderen Straßenseite war leer. Sie ging die Möglichkeiten durch. Angenommen, da drin war tatsächlich eine Leiche. Es war vorstellbar. Ein paar von Alkohol angeheizte College-Kids hatten sich in das Haus geschlichen, um zu feiern oder Longfellow zu lesen oder irgendwas, und einen toten Junkie oder Obdachlosen gefunden, und sie wollten es nicht der Polizei melden, weil sie Ärger wegen unerlaubten Eindringens befürchteten.
Sicher. Klang absolut einleuchtend.
Oder es war eine Falle. In Susans Geist blitzte eine Schlagzeile des Herald auf: UNERSCHROCKENE REPORTERIN IN BEAUTY-KILLER-HINTERHALT ERMORDET. Journalistin, verbesserte sie sich, als ihr Henrys Witz einfiel.
Susan zündete sich eine Zigarette an und schaute weiter auf das Haus.
Das Ganze war lächerlich. Sie sollte es endlich hinter sich bringen, anstatt so ein Drama daraus zu machen.
Sie warf ihre Zigarette in den Regen hinaus, packte ihre Handtasche mit der chemischen Keule darin und stieg aus dem Wagen.
Mach den Eindruck, als hättest du etwas zu erledigen, hatte ihr Quentin Parker beigebracht. Wenn du aussiehst, als hättest du etwas zu tun an einem Ort, wird dich niemand fragen, was du dort treibst. Er hatte immer ein Clipboard im Wagen. Niemand stellt einem Mann mit einem Clipboard Fragen, hatte er gesagt.
Susan ging zum Kofferraum des Wagens, wo sie ihre Reporternotfallausrüstung aufbewahrte, und holte eine Taschenlampe und ein Notizbuch heraus, die sie in ihre Handtasche steckte, und dazu ein altes Klemmbrett. Falls jemand von der Kirche gegenüber sie beobachtete, würde es aussehen, als versuchte sie, Wähler zu gewinnen oder vielleicht eine Umfrage durchführen. Und wie viele Leichen haben Sie im Haus, Sir?
Sie trug schwarze Jeans, schwarze Schnürstiefel und ein ärmelloses schwarzes Top. Wenn man dazu noch die purpurnen Haare und den roten Lippenstift bedachte, wirkte sie eher, als sollte sie am Empfang einer Modefirma arbeiten, als Hausbefragungen durchführen.
Benutzte man heutzutage überhaupt noch Klemmbretter?
Selbstbewusst schreiten. Das war das andere, was ihr Parker beigebracht hatte. Susan versuchte, selbstbewusst zu schreiten, aber es war eine Herausforderung, da es ziemlich heftig regnete und sie durch eine Menge totes Unkraut steigen musste, um zu dem überwucherten Aufgang zum Haus zu kommen.
Aus der Nähe betrachtet war das Haus sogar in einem noch schlimmeren Zustand, als es von der Straße aus den Anschein gehabt hatte. Die Eingangsveranda hing samt den Stufen, die zu ihr hinaufführten, leicht nach links. Susan ging durch kniehohes Gras um das Haus herum, das Klemmbrett unter dem Arm. Es war sinnlos, da sie ohnehin niemand sehen konnte. Auf der Rückseite fand sie, wonach sie suchte – ein Stück Sperrholz lag vor einem eingeschlagenen Kellerfenster auf dem Boden. Man konnte nicht verhindern, dass Leute in leer stehende Häuser einstiegen. Nicht in einer Gegend wie dieser.
Susan holte die Taschenlampe aus ihrer Handtasche, knipste sie an und kauerte sich neben das Fenster. Das Glas war sauber herausgeschlagen worden, und es ragten keine Scherben aus dem Rahmen. Das natürliche Licht, das durch das Fenster einfiel, ließ ein verschwommenes Rechteck aus Beton und zerbrochenes Glas auf dem Boden erkennen. Susan stützte sich mit einer Hand am Fensterrahmen ab, steckte den Kopf hinein und leuchtete mit der Taschenlampe aus, was sie erreichen konnte. Es gab nicht viel zu sehen. Rohre. Leitungen. Beton. Ein Keller eben.
»Hallo?«, rief sie in die Dunkelheit. »Hat hier jemand eine Pizza bestellt?«
Das einzige Geräusch, das sie hörte, war ein Bus, der an der nächsten Kreuzung vorbeifuhr. Galt es als Einbruch, wenn das Fenster bereits eingeschlagen war? Oder nur als unerlaubtes Betreten? Wenn sie hineinging und nichts fand, würde sie schnurstracks zur Zeitung fahren und niemandem je davon erzählen. Susan konnte nicht glauben, dass sie tatsächlich darüber nachdachte. Und gleichzeitig spürte sie eine freudige Erregung. Vor einem Jahr hatte sie noch Geschichten aus dem Leben über Tiere im Zoo geschrieben. Das hier war sehr viel aufregender.
»Ich komme rein«, sagte sie. Sie steckte die Lampe in die Tasche, ließ die Beine durchs Fenster baumeln und sprang auf den Boden darunter. Glasscherben knirschten unter ihren Stiefeln.
Es war still im Haus. Merkwürdig still. Kein Gebläse, kein Heizkessel, kein summender Kühlschrank, nichts von all den haustypischen Geräuschen.
Sie zog die Taschenlampe wieder heraus und schaltete sie an. Der Strahl beleuchtete so viele Staubpartikel in der Luft, dass er beinahe fest wirkte. In einer Ecke des Kellers stand brackiges Grundwasser, das durch das Fundament einsickerte. Der Boden war übersät von Bierdosen, Zigarettenkippen und zerbrochenen Schnapsflaschen. Es roch vage nach Urin.
Susan schauderte. Plötzlich erschien es ihr ganz annehmbar, über die Geburtstagsparty eines Elefanten zu berichten. Sie blickte sehnsuchtsvoll zu dem Fenster, durch das sie gerade gekommen war. Sie war schlank, aber nicht kräftig. Sie konnte sich unmöglich hinaufziehen, um aus dem Fenster zu steigen. Es blieb ihr nichts übrig, als weiterzugehen.
Sie machte ein paar zögerliche Schritte und richtete die Taschenlampe auf die Treppe. Es gab viele Dinge, die einen in einem Haus umbringen konnten: Radon, Asbest, Formaldehyd, Kohlenmonoxid, Blei, Fiberglasisolierung. Dieses Haus war nicht gefährlicher als jedes andere.
»Ist jemand zu Hause?«, rief sie. »Ich sammle Unterschriften.« Ihre Stimme klang hohl und nervös. »Zur Legalisierung von Marihuana?«
Nichts.
Sie nahm eine Bewegung wahr. Nur ganz kurz. Als sie die Lampe nach links riss, sah sie gerade noch das Hinterteil einer Ratte an einer Bierdose vorbeihuschen.
Sie schaffte es in zwei Schritten halb die Treppe hinauf. Nicht dass sie sich vor Ratten fürchten würde, sagte sie sich – sie hatte es nur plötzlich wahnsinnig eilig. Die Treppe führte zur Küche. Da alle Fenster mit Brettern verschlagen waren, war es im Erdgeschoss dunkler als im Keller. Sie erkannte nur an dem rissigen gesprenkelten Linoleum, dass es die Küche war. Im Staub auf dem Boden waren Fußabdrücke erkennbar, Dutzende, in zufälligen Mustern, als hätte ein Handgemenge stattgefunden oder ein Square Dance.
Es gab keine Geräte mehr in der Küche, nur leere Holzschränke und Anschlüsse für Gasleitungen, die aus der Wand ragten, wo früher ein Herd gewesen war. Im Spülbecken lagen noch mehr Bierdosen. Es gab keine Leichen.
Susan klemmte sich die Taschenlampe in die Armbeuge und holte Notizbuch und Stift aus der Handtasche. Sie musste die Lampe unter das Kinn halten, um zu sehen, was sie schrieb, aber es gelang ihr, ein paar Notizen zu machen. Fußabdrücke. Bierdosen. Wirklich verdammt gruslig. Auch Ratte.
Sie steckte Stift und Notizbuch weg, nahm die Lampe wieder in die Hand und folgte dem Strahl von der Küche in einen dunklen Flur zur Vorderseite des Hauses, bis sie zu einem Betttuch kam, das den Eingang zum nächsten Raum versperrte. Das Betttuch war an die Decke genagelt worden und hing wie eine behelfsmäßige Tür zum Boden. Na klasse.
Von Ratten übertragene Krankheiten töten fast dreizehntausend Menschen im Jahr.
Susan hörte einen weiteren Bus vorbeirumpeln.
Sie war jetzt seltsam ruhig. Als würde sie sich selbst in einem Film sehen. Als wäre sie eins dieser Mädchen, die allein in ein Spukhaus gehen, während das Publikum die Hände vors Gesicht schlägt und kreischt, sie solle es bleiben lassen. Das Haus war leer. Sie hatte es geschafft. Sie war durch ein verfluchtes Kellerfenster gekrochen, hatte gegen eine Ratte gekämpft. Es war praktisch heldenhaft. Für diese Geschichte würde sie monatelang essen gehen können.
Sie musste nur noch hinausfinden.
Ihr Lampenstrahl warf einen gelben Kreis auf das Betttuch. »Hallo?«, sagte sie. Sie lauschte, auch wenn sie nicht erwartete, etwas zu hören. Dann zog sie das Laken langsam zur Seite und ging hinein.
Das Erste, was sie bemerkte, war, dass der Raum sauber war. Nicht normal sauber. Verrückt sauber. Ihr Lampenstrahl wurde von dem geschrubbten Parkettboden reflektiert. Wände und Decken waren frisch weiß gestrichen. Es roch anders. Wie nach Desinfektionsmittel. Wie nach Krankenhaus.
Susans Magen schlug Salti, während sie die Taschenlampe über den Raum schwenkte. Keine Möbel. Kein Staub. Keine Spinnweben. Wer immer sich hier eingenistet hatte, musste ein echter Fall von Zwangsstörung gewesen sein. Ihre Lampe schwenkte an der offenen Durchgangstür zu einem anderen Raum vorbei und hielt inne. Zwischen den beiden Räumen war eine starke, durchsichtige Plastikfolie aufgehängt worden. Susans Mutter deckte ihren Komposthaufen mit einer ähnlichen Folie ab.
Sie vergaß, was sie tat. Sie vergaß, dass sie nach einem Weg ins Freie suchte. Sie ging mit der Taschenlampe in der Hand auf das Plastik zu, aber es war so dick, dass der Strahl der Lampe es nicht durchdrang. Susan konnte nicht auf die andere Seite sehen. Sie versuchte, die Folie wegzuziehen, aber die war besser befestigt als das Betttuch im Flur, und sie musste sich bücken und sich unten durchzwängen.
Sie richtete sich auf und sah sich mit Hilfe der Lampe um.
Irgendetwas war hier drin.
Susans Magen zog sich zusammen. »Hallo?«, sagte sie.
Es war unter einem Betttuch. Vielleicht ein Möbelstück. Man deckte Möbel mit weißen Betttüchern ab, wenn man eine Weile verreiste. Reiche Leute mit Zweithäusern, in den Zwanzigern. Es war kein Möbel. Alte Kleidung? Etwas, das ein Obdachloser zurückgelassen hatte?
Es war keine alte Kleidung.
Wer war der Kerl, der sie angerufen hatte? Und warum hatte er es getan?
Ruf die Polizei, flüsterte eine Stimme in ihr.
Aber stattdessen tastete sie in ihrer Handtasche nach Notizbuch und Kugelschreiber.
Sie fuhr die Gestalt auf dem Boden mit der Taschenlampe nach. Um sie herum lagen, wie bei einer Art Opfer, acht oder zehn große, rote Taschenlampen, von denen keine brannte.
Vielleicht war es eine Art Renovierungsprojekt.
Es war kein Renovierungsprojekt.
»Okay«, sagte Susan. Sie bewegte sich zögernd vorwärts, mit einer Hand hielt sie Notizbuch und Stift umklammert, mit der andern die Lampe. »Ich werde nachsehen.« Als sie vor der bedeckten Gestalt ankam, kniete sie nieder, und die Knie ihrer Jeans drückten in etwas Feuchtes. Sie setzte sich auf die Fersen und leuchtete auf ihre Beine. Blut.
Sie sprang auf. Überall war Blut. Die Gestalt war getränkt davon. Es sammelte sich auf dem Boden, eine zähflüssige Marmelade, die im Strahl der Lampe glänzte. Sie öffnete ihre Tasche, riss ihr Kräuterspray heraus und hielt es mit dem Zeigefinger auf dem Ventil vor sich.
»Alles in Ordnung mit Ihnen?«, fragte sie mit dünnem Stimmchen.
Es war eine dumme Frage, sie wusste es im selben Moment, in dem sie es sagte. Es war unmöglich, dass jemand noch lebte, der so viel Blut verloren hatte. Schau nicht unter das Tuch. Sie konnte nicht anders. Sie musste es wissen. Sie hielt die Taschenlampe über den Kopf, um notfalls damit zuschlagen zu können, und schob mit Hilfe der Sprühdose vorsichtig das Laken beiseite.
Sie nahm sein Gesicht in einem Sekundenbruchteil auf – Augenbrauen, Aknenarben, eine schlanke Nase, rundes Gesicht und weiches Kinn, alle diese Einzelheiten ordneten sich in ihrem Geist zum Gesicht eines jungen Mannes, eines Kerls in ihrem Alter. Für einen winzigen Augenblick dachte sie, er sei in Ordnung, er würde zu lachen anfangen, alles sei nur ein dummer Streich. Er trug eine dieser lächerlichen Plastikkopfbedeckungen von Chirurgen, Herrgott noch mal, eine purpurne mit gezeichneten Elefantenkarikaturen darauf, als wäre er irgendwie verkleidet. Und seine Augen waren offen. Susan ließ den Atem, den sie angehalten hatte, in einem leisen Aufschrei entweichen. Dann war ihr Verstand zur Stelle.
Die Augen stimmten nicht. Die Lider waren viel zu weit zurückgezogen, sein regloses Starren war kaum sichtbar unter einem milchig weißen Überzug, der an einen Wasserfall denken ließ.
Susan wich mit einem Ruck zurück, und der Strahl ihrer Lampe schoss für einen Moment nach oben, über die gegenüberliegende Wand. Einen Moment lang dachte Susan, sie würde fantasieren. Sie richtete die Lampe mit zitternder Hand noch einmal hinauf. Der gelbe Lichtkreis glitt über die Wand, und Susan hätte ihn am liebsten ausgemacht, denn selbst pechschwarze Finsternis wäre besser als das.
Die Wand war weiß gestrichen. Aber sie war auch verziert worden. Jemand hatte fast jeden Quadratzentimeter mit Hunderten und Aberhunderten handgezeichneter roter Herzen bedeckt.
Mach, dass du hier wegkommst, schrie die Stimme in ihr. Aber Susan rührte sich nicht. Nie im Leben würde sie in diesen verdammten Keller zurückgehen.
Sie langte in ihre Handtasche und tastete nach dem Handy.
Sie rief erst die Zeitung an, dann die Notrufnummer.